World of X

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To start with the end

von Stefan Rackow

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Er saß gedankenverloren in seiner Wohnung und blickte durch die Jalousie in die Schwärze der Nacht. Draußen peitschte der Wind ganze Sturzbäche von Regen an das Fenster, das durch die gewaltige Kraft fast zu bersten drohte. In der Wohnung selbst war es dunkel; nur die kleine Beleuchtung inmitten des Aquariums spendete etwas Licht, während das Surren des Wasserfilters sich mit dem Ticken des vor dem Mann auf einem kleinen Tisch stehenden Weckers vermischte und beides zusammen zu einem einheitlichen Rhythmus der Kontinuität wurde.

Es war spät und der Wecker war schon für den frühen Morgen gestellt, doch der FBI – Agent konnte nicht einschlafen.

Ihm war das Gespräch vom heutigen Tage noch in Erinnerung. Es hing wie das Damokles – Schwert an einem seidenen Faden über ihm, im Begriff, auf ihn hinabzustürzen und zu verletzten – mehr noch, als er es sowieso schon war.

Ein Blitz erhellte für einen kurzen Moment die Szenerie.



** Es dreht sich nicht immer alles um Sie, Mulder... **



„Ja“, murmelte er, als ihn die Erinnerung wieder heimsuchte. Scullys Worte und die folgende nicht enden wollende Stille – er hätte etwas sagen wollen, etwas sagen sollen, doch ihm war die Kehle zugeschnürt, derart nachdenklich hatten ihn die Worte gestimmt. „Ja, es dreht sich immer alles um mich...“ – Er warf einen flüchtigen Blick auf das Telefon und hielt inne. Sein Blick war für ein, zwei Sekunden strikt auf den Hörer gerichtet, in der Erwartung, dass es plötzlich klingeln könnte, hoffend, eine bestimmte Stimme am anderen Ende der Leitung zu hören ...

Doch es klingelte nicht. Kein Klingeln, keine Stimme am anderen Ende, die ihm sagte, dass er sich keine Gedanken machen müsse wegen dem heutigen Gespräch. Keine Stimme, die ihn aus dem Tal der verlorenen Gedanken befreite. Nichts. Unweigerlich musste er den Kopf schütteln ob seiner eigenen Dummheit und seines egozentrischen Denkens. Warum sollte sie ihn anrufen, wo er es doch war, der Scullys Reaktion und die ach so harte, aber gerechte Erkenntnis aus ihrem Munde hervorgerufen hatte? War er nicht stark genug, zu erkennen, dass es ihm oblag, etwas zu tun, etwas zu sagen? Warum war er nur so ein verdammter Angsthase?!

Vor seinem geistigen Auge tauchte plötzlich Scully auf. Sie sah ihn genauso durchdringend an wie heute im Büro. Starre, weitgeöffnete Augen, der Mund wortlose Erkenntnisse formend. Sie, Scully, war die Einzige, die wusste, wer er, Mulder, wirklich war. Was seine Eigenarten waren. Sie führte es ihm ein ums andere Mal vor Augen, und was tat er? Nichts. In ihrer Beziehung war er der ruhende Pol, das personifizierte Schweigen. Derjenige, der mehr mit Gedanken als mit Worten zu hantieren wusste. Und wenn er mal die Initiative ergriff, dann ging der Schuss meistens nach hinten los. So wie heute. Unüberlegtheit in Perfektion...

Er seufzte leise und verschränkte die Arme vor der Brust, während ein Wort immer und immer wieder auf sein Unterbewusstsein hämmerte, gleich einem Hammer, der auf das glühende, noch zu schmiedende Eisen schlägt.



** Beziehung **



Wie kam er nur darauf, von einer Beziehung zu sprechen? Bestand zwischen ihnen eine solche überhaupt? Der Gedanke, dass sie und er ein Paar sein könnten, ließ ihn unweigerlich lächeln. Oh ja, sie ist zauberhaft. Diejenige, die unter seine Fassade blicken und gleichzeitig alles und nichts erkennen kann. Die Beobachterin. Die Freundin.

Der Agent schloss kurz die Augen, um die Gedanken zu ordnen.

Wenn zwischen ihnen jemals eine Beziehung bestanden haben sollte, dann war sie mit dem heutigen Tage zunichte gemacht worden, dessen war er sich bewusst. Das Schweigen als Ausdruck des Endes, der Resignation, des Zweifelns – alles passte zusammen. Doch sollte dies wirklich der Fall sein? Nein, er wollte es sich nicht eingestehen. Vielmehr noch als das: er hinterfragte den Begriff der Beziehung, suchte nach Sinn und Zweck, nach Bedeutung des Wortes, das so viel und gleichzeitig so wenig heißen konnte.

Wenn es nach dem ginge, was in einer Beziehung vorhanden war, sprich Vertrauen, so war es gar nicht so abwegig, wie Mulder empfand, in ihrem Fall von einer Beziehung zu sprechen, zumal Beziehungen verschiedenster Art existierten, in denen es nicht um Liebe und das Bedürfnis ging, mit einem besonderen Menschen seinen Lebtag zu verbringen. Ursache – Wirkung – Beziehungen, Mechanismen einer Maschine – all das beruhte auf einer bestimmten Form der Verbindung, und dass eine solche irgendwie zwischen ihm und Scully – im Prinzip zwischen allen Personen auf der Welt – vorhanden war, war für ihn genauso unstreitig wie die Tatsache, dass er jetzt gerade in diesem Moment wieder unbewusst nach einem Grund suchte, sich von seiner Schuld, die unerträglich schwer auf seinen Schultern lastete, zu distanzieren, indem er versuchte, das Vorgefallene als nicht so schwerwiegend, da alltäglich und auf der ganzen Welt vorkommend, zu klassifizieren.

Was war er nur für ein Dummkopf!

Es war eben keine alltägliche Beziehung zwischen ihnen, das hatte er schon beim ersten gemeinsamen Arbeitstag gemerkt. Seine schnippische Bemerkung, ob sie nur da sei, weil sie strafversetzt worden war, verfluchte er in diesem Moment genauso wie seinen Dickkopf, der ihn damals nicht erkennen ließ, dass ihre Antwort, dem sei nicht so und sie freue sich, mit ihm zu arbeiten, wahrheitsgemäßer nicht von ihren Lippen hätte kommen können! Sie hatte sich wirklich gefreut! Jetzt wusste er es.

Was noch für eine nicht-alltägliche Beziehung sprach, war ein Gefühl. Es ging ihm gut, wenn er mit ihr unterwegs war. Dass er sich niemals gefragt hatte, warum dies so war, zeigte nur noch einmal in aller Deutlichkeit, für welch’ unwichtige Dinge er all die Jahre Augen gehabt hatte. Nebensächlichkeiten, als „wichtig“ deklassiert, hatten seine Augen vernebelt und immun gegen die Wirklichkeit werden lassen.

Er war so blind gewesen!

Mulder stand auf und ging zum Fenster, auf das der Regen immer noch Gebilde der Fantasie peitschte. Fratzen, die ihn auslachten, nur für den Bruchteil einer Sekunde, und dann wieder verschwanden, aber es reichte.

Fahles Mondlicht gelangte durch einen Schlitz der Jalousie in die Wohnung und traf das Telefon, gleich eines Suchscheinwerfers.



** Die Wirklichkeit... **



Allmählich erkannte er sie, die Realität. Die Umstände, welche er all die Jahre ignoriert, nicht bemerkt oder schlicht und ergreifend nicht wahrhaben wollte. Er wusste, wie es um sie – Scully und ihn – stand. Alle Anzeichen waren vorhanden. Seit jeher. Sie waren da, direkt vor ihm, und er hatte nichts Besseres zu tun als seine Augen zu verschließen. Aus Feigheit. Vor Angst. Und heute hatte er alles zerstört, ohne es in dem Moment richtig bemerkt zu haben. „Es dreht sich nicht alles um mich...“, murmelte er vor sich hin, während er die Jalousie schloss und den kleinen Lichtstrahl aus seiner Wohnung aussperrte.

Es war dunkel.

Mulder fühlte sich plötzlich leer.

Eine nicht zu definierende Schwärze, eine Dunkelheit breitete sich rasend schnell in ihm aus und er schien eins zu werden mit dem schwarzen Ort, an dem er sich gerade befand. Geistesgegenwärtig riss er an den Fäden, so dass sich die Jalousie wieder einen Spalt breit öffnete und blickte zum Telefon. Der Lichtstrahl war wieder da, schien durch die Jalousie direkt auf den Hörer des Fernsprechers.

Das seltsame Gefühl war verschwunden.

„Es hat doch keinen Sinn...“, sprach er zu sich selbst, „was sollte ich ihr denn sagen? Was?“ – Das heutige Gespräch hatte ihn zutiefst getroffen, aber wahrscheinlich war Scully es, die noch mehr verletzt war als er. Er, Mulder, war es, der diesen „Streit“ oder wie immer man es nennen mochte, angezettelt hatte. Er war es, der etwas beendet hatte, bevor es überhaupt richtig hatte anfangen könnten.



** Ende... Anfang ...**



Mulder fand plötzlich einen Gedanken, eine Erkenntnis, was ihn selber überraschte, denn allmählich erkannte er etwas. Es gab Beziehungen jedweder Art, so auch in diesem Fall. Das Ende beendet das, was einmal angefangen hat, aber genauso kann jedes Ende auch einen neuen Anfang bedeuten ... diese Wechselbeziehung war die Sache, die er zuvor nicht erkannt hatte. Er mochte zwar etwas beendet haben, aber die Chance auf einen Neuanfang war ihm nicht verschlossen. Im Gegenteil! Vielleicht sollte gerade Altes beendet werden, um Platz für Neues zu schaffen!

Mulder sah auf den Lichtstrahl und folgte ihm mit seinen Augen. Vielleicht musste man manchmal, um etwas zu beginnen, mit dessen Ende anfangen, dachte er vor sich hin, atmete einmal tief aus und griff zum Telefon. Der Lichtstrahl war ein Zeichen, und er musste diese Chance nutzen, um das, was er heute falsch gemacht hatte, wieder geradezubiegen. Wenn nicht heute, dann niemals mehr.

Er wählte die Nummer und wartete, als das Freizeichen ertönte.

„Klick...“

Er sagte nichts, sondern ließ sein Gegenüber zu Wort kommen. Sie hatte schon geschlafen, so viel war sicher.

„Ja?“

Mulder nahm all seinen Mut zusammen und rief sich noch einmal die Gedanken in Erinnerung, welche ihn dazu bewegt hatten, diesen nächtlichen Anruf zu tätigen. Anfang, Ende, Beziehung – diese drei Worte kreisten unaufhörlich um einen Satz, welcher sich langsam in seinem Kopfe formte und Gestalt annahm. Er musste es sagen. Er musste ihr heute, jetzt, hier, in diesem Augenblick den langsam entstehenden Satz entgegenbringen. Er musste !

„Scully? Ich bin’s. Mulder.“

Sie antwortete erst einige Zeit später.

„Mulder, wieso...? Es ist schon spät und...“

„Sagen Sie jetzt bitte nichts, Scully, und geben Sie mir die Chance, etwas zu tun, was ich schon längst hätte tun sollen.“

*

Die Welt steht einen kurzen Moment still. In diesem Augenblick schweigt Scully und lauscht in die Hörmuschel. Sie erwartet etwas, und obwohl sie es sich nicht eingestehen will, rechnet sie fest damit, dass er das Richtige tut. Mulder öffnet langsam den Mund und beginnt die Lippen zu formen.

Die Erde beginnt nun allmählich wieder sich weiterzudrehen.

*

„Scully...“, begann Mulder, und er wusste, dass er das Richtige tat. Dass er dies schon längst hätte tun sollen. „Scully“, wiederholte er noch einmal, seinen Blick auf den nun auf seine Hand zeigenden Lichtstrahl gerichtet, „es tut mir leid.“



*



Das Alte ist vergessen, Neues wächst heran.

Wenn man die Zeichen richtig deutet, kann jedes Schlechte sich auch wieder in Gutes verwandeln. Es obliegt nur einem selbst, wie man sich entscheidet.



*



ENDE
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