World of X

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9x02 - Primigenia

von Kinona, Steffi Raatz

9x02 - Primigenia (1)

Jeremia Denson deutete auf die kleine Kette mit dem Anhänger, der wie ein Wagenrad aussah und zückte ein paar Dollar. Als der Händler immer noch nicht bereit war, das Schmuckstück zu verkaufen, zog er weitere Scheine hervor bis er insgesamt fünf in der Hand hielt. Kaum merklich bildete sich ein Lächeln im Gesicht des fahrenden Händlers und kurz darauf hielt Jeremia das Schmuckstück in der Hand.

Wie lange hatte er danach gesucht. Wie lange hatte er sich danach gesehnt. Hunderte von Büchern war er nach einem derartigen Amulett durchgegangen, hunderte Läden hatte er in ganz Nordamerika abgesucht nach diesem Kunstwerk, nach diesem Glücksbringer. Jetzt endlich hielt er ihn in den Händen und konnte es kaum fassen.

Alles Pech, das er seit seiner Jugend erfuhr, würde nun mit einem Schlag vorbei sein. Er würde Glück haben, wo immer er war, was immer er tun würde. Nichts würde mehr schief gehen.

Jeremia schloß die Kette um seinen Hals und betrachtete sein Spiegelbild in einem der Schaufenster. Er war der glücklichste Mann der Welt, doch er trug zerschlissene Kleidung. Geld hatte er kaum noch. Die lange Suche nach dem Amulett hatte ihn fast alles gekostet, was er besaß.

Seine Augen nahmen im Schaufenster die Spiegelung eines Reklameschildes auf der gegenüber liegenden Straßenseite wahr. Augenblicklich drehte er sich um und sah hinüber zu dem Gebäude, dessen Schild er bereits im Fenster gesehen hatte.

Eine Spielbank. Er blieb kurz zögernd stehen.

Als er das Amulett noch nicht besessen hatte, da wäre er dieses Risiko nie eingegangen, doch was sollte jetzt schief gehen? Er hatte das Glück gepachtet. Und wenn das Amulett nicht wirken sollte, so konnte er noch immer aufhören. Es gab nicht viel, was er verlieren konnte.

Mit schnellen Schritten, ohne zu realisieren was rechts oder links neben ihm geschah, überquerte er die Straße. Fahrzeuge bremsten, Reifen quietschten, ungehaltene Autofahrer schrien und keiften, doch Jeremia blieb unverletzt und nahm gar nicht wahr, was um ihn geschah. Er kannte nur noch das eine Ziel, die Spielbank.

Während er sein Glück frönen wollte, begann auf der Straße hinter ihm ein lautes Hupkonzert, Autofahrer schimpften, schrien sich an, Passanten blieben ungläubig stehen, wie Fahrer ihre Wagen zurücksetzten, um die dahinter stehenden Fahrzeuge zu rammen. Andere stiegen aus ihren Fahrzeugen und gingen aufeinander los.

Jeremia jedoch ging ohne einen Kratzer, ohne berührt zu werden von all der Wut und dem Chaos weiter über die Straße und erreichte auf der anderen Straßenseite sein Ziel - die Spielbank.



*******



Monica schob das angefangene Sandwich von sich fort und starrte auf das Foto aus der Akte vor sich. Mehr als einmal fragte sie sich, wieso ausgerechnet sie an die X-Akten gesetzt worden war. Sicherlich, es war immer ihr Wunsch gewesen, doch irgendwie hatte sie auch das Gefühl, dass es eine Strafe sein sollte. Eine Strafe, die sie sichtlich genoß, dennoch nicht gerade förderlich für ihre Karriere war. Eine Karriere, die sie nie hatte anstreben wollen.

"Und? Haben wir einen neuen Fall?" Johns Stimme erklang von der Tür. Er zog seinen Mantel aus, hing ihn über die Garderobe und sein Jackett folgte über den Stuhl.

"Wie war es bei Dana und William?", sie legte das Foto beiseite und sah ihn fragend an. Nach den letzten Ereignissen war zunehmend Sorge in Johns Gesicht aufgetaucht. Sie wußte, dass er seine ehemalige Partnerin als Freundin zu schätzen gelernt hatte und seine Sorge um sie auch nach ihrer Arbeit beim FBI weiterhin bestand hatte. Zu viel war geschehen.

"Ihr geht es gut. Ich weiß zwar nicht, wie sie das immer anstellt, aber sie scheint die Ruhe selbst zu sein", John kam zu ihr an den Schreibtisch und nahm das Foto hoch.

"Ich bewundere sie. Sie hat eine innere Stärke, von der ich gern ein Stück ab hätte", Monica lehnte sich zurück und zog sich die Akte heran.

"Unser neuer Fall. Sieht wie ein harmloser Autounfall aus, nicht wahr?", sie zog ein weiteres Bild aus der Akte.

"Irgendwie schon, also was ist daran so eigenartig, dass wir es bekommen?", er legte das Foto wieder auf ihren Tisch und sah sie fragend an.

"Vor zwei Tagen geschah dieser merkwürdige Unfall. Nun ja, erst war es wohl kein Unfall, aber nachdem einige Autofahrer die Kontrolle über sich selbst verloren und mit ihren Fahrzeugen wahllos die Fahrzeuge anderer rammten, andere ausstiegen und sich prügelten, wurde es mehr oder weniger zu einer Massenkarambolage", sie zitierte die Akte.

"Wie kam es dazu?", sein Blick blieb forschend auf dem Foto haften.

"Das kann keiner so genau sagen", sie sah wieder in die Akte, "Zeugen behaupten jedoch, dass ein Mann zu diesem Zeitpunkt die Straße überquerte und der Auslöser für den Stopp der Fahrzeuge war. Er kam auf der anderen Straßenseite an und wurde nicht mehr gesehen."

"Und er hat es ganz unbeschadet überstanden?" John zog die rechte Augenbraue hoch.

Monica legte den Kopf schief: "Nun ja, als zehn Streifenpolizisten die aufgebrachte Masse zur Vernunft gebracht hatten und erste Zeugenaussagen aufgenommen werden konnten, da war er spurlos verschwunden."

"Wie kann jemand spurlos verschwinden?", er nahm das Foto in die Hand und betrachtete es genauer.

"Ich vermute mal, dass er in einem der Gebäude verschwand", erklärte sie und stand auf, "jedenfalls habe ich uns einen Flug nach Idaho organisiert."

"Ach ja, haben Sie?", er sah sie halb ärgerlich, halb erstaunt an.

"Hey John, irgendwo müssen wir ja anfangen", schmunzelte sie ungerührt und nahm ihre Jacke vom Stuhl, "kommen Sie, unser Flug geht in zwei Stunden vom Dulles Airport."

John ließ das Foto los und dieses segelte auf Monicas Tisch, dann griff er sein Jackett und seine Jacke und folgte seiner neuen Partnerin.





************





Jeremia betrat die Spielhalle und sah sich um. Überall waren Tische aufgebaut um die sich die Leute geradezu drängten. Sie warteten so brennend, an die Spieltische zu kommen, dass sie auf nichts und niemanden Rücksicht nahmen.

Jeremia sah sich diese Szenen eine Zeit lang vom Eingang aus an und begann dann langsam durch den Raum zu gehen. Er war noch nie zuvor in einer Spielhölle gewesen. Daher wußte er nicht, an welchen Tisch er gehen sollte. Bei jedem Tisch blieb er eine Weile stehen und schaute sich das Geschehen auf eben diesen an. Wenn er ein Spiel verstanden hatte, begab er sich zum Nächsten. Diese Prozedur machte er solange, bis ihm jedes Spiel bekannt war.

Dann entschied er sich für das Roulette. Dabei versprach er sich die größten Chancen. Wenn ihm das Amulette wirklich Glück bringen sollte, dann würde er es hier sicherlich am besten testen können.

Er positionierte seine Jetons auf einer der Zahlen und sah abwartend auf die anderen Spieler, die ihre Einsätze machten.

"Rien ne va plûs. Nichts geht mehr", ertönte schließlich die Stimme des Concierge und die Kugel begann sich im Roulett zu drehen.

Fasziniert beobachtete der die Kugel, folgte mit seinem Blick den erst drehenden, dann hüpfenden Bewegungen des kleinen silbernen Glücksbringers. Wenn ihn das Glück nicht im Stich ließ, dann würde er in wenigen Sekunden eine Kugel sehen, die im Feld der Drei zum Stehen gekommen war. Die Kugel begann immer stärker zu hüpfen, zu holpern, sprang über viele andere Zahlen und pendelte sich dann auf der Drei ein.

"Trois noire. Drei schwarz gewinnt", verkündete der Concierge und verteilte die Gewinne mit seinem Schieber auf die Felder schwarz und drei.

Jeremia lächelte. Es schien zu funktionieren.

Er betrachtete das Spielfeld und schob seinen gesamten Gewinn auf eine andere Zahl. Zahlen brachten Geld, schwarz oder rot weniger, waren aber sicherer. Nun gut, das hatte er verstanden, aber wozu sollte er sicher spielen, er konnte nicht verlieren. Das Glück hing ihm doch regelrecht um den Hals. Also positionierte er seinen gesamten Gewinn wieder auf eine Zahl und wartete ab. Neben ihm begann einer der Spieler lauter zu werden, ein weiterer schien ihn beruhigen zu wollen. Der Concierge winkte zwei Wachleute heran, welche die Störenfriede zur Räson brachten, dann ging das Spiel unbeirrt weiter.





************





Monica betrachtete nachdenklich die Bremsspuren auf der Straße, während John mit einem der Officer sprach, die den Unfall geregelt hatten.

Sie strich mit dem Finger über die Gummispur und besah sich das Material genau. Einfacher Gummiabrieb, mehr nicht. Obwohl die Akte so vielversprechend geklungen hatte, war sie sich plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob es sich um eine X-Akte handelte. Alles schien so normal. Ein einfacher Unfall eben. Sie zog sich den Latexhandschuh von der Hand und sah auf. Aus ihrer Position in der Hocke konnte sie die Umgebung ein wenig anders betrachten und so fiel ihr auch jetzt erst der Gegenstand ins Auge, der zur Hälfte in einem der Abflußschächte steckte.

Nach einem kurzen Blick auf ihren Partner, der noch immer mit dem Policeofficer sprach, richtete sie sich auf und ging auf die andere Straßenseite. Ihr Ziel war der Abfluß, in dem, das konnte sie je näher sie kam, erkennen, ein Prospekt steckte.

Sie hockte sich vor den Abfluß, zog den aufgeweichten Prospekt hervor und betrachtete ihn genauer.

>Gewinnen Sie $100.000 in bar!< Ein Werbeprospekt, ein Köder, um Leute anzulocken, mehr war es nicht.

>Leo's BIG WINS Spielbank< lautete der Text weiter und die Agentin sah sich mit einem untrüglichen Gefühl der Wiedererkennung um. Nach nur wenigen Augenblicken hatte sie dann auch gefunden, wonach sie gesucht hatte. Leo's BIG WINS Spielbank lag auf der anderen Straßenseite, exakt auf jener Höhe, wo nach Zeugenaussagen der Verursacher des Unfalles angekommen war.

"Wenn das kein Zufall ist...", murmelte Monica und sah zu ihrem Partner hinüber, der noch immer mit dem Officer sprach.

Nach einem kurzen Kontrollblick über die Straße, überquerte sie diese und kam neben den beiden Männern zum Stehen.

"Darf ich kurz unterbrechen?", sie tippte John vorsichtig auf die Schulter und erwartete seine Reaktion.

Als sie registrierte, dass sie seine volle Aufmerksamkeit hatte, reichte sie ihm den Prospekt und deutete auf den Abfluß, wo sie ihn gefunden hatte.

"Dieser Werbezettel steckte dort in dem Abfluß und Leo's BIG WINS Spielbank liegt dort drüben", sie deutete nun auf die andere Straßenseite.

"Und?", der Officer sah die beiden Agenten irritiert an.

"Unser Verdächtiger hat also die Spielbank aufgesucht?", schlußfolgerte John richtig und versuchte gedanklich den Faden weiter zu spinnen.

"Wir haben keinen besseren Anhaltspunkt", erwiderte sie.

John zuckte mit den Schultern und reichte ihr den Prospekt zurück: "Vielleicht sollten wir unser Glück versuchen. Einen besseren Anhaltspunkt haben wir schließlich nicht."

Monica lächelte und beförderte den Prospekt in eine Plastiktüte. Sollte er der tatsächlich ein Hinweis auf den Verbleib ihres Verdächtigen sein, dann konnten sie vielleicht in einem ihrer Labore Fingerabdrücke nachweisen.

Als der Prospekt sicher verwahrt war, streifte sie sich den anderen Latexhandschuh ab und warf die gebrauchten Handschuhe in den nächsten Abfalleimer.

"Wollen wir?", John legte ihr die Hand auf die Schulter und sah sie auffordernd an.

Sie nickte und folgte ihm zur Spielbank hinüber.

Das Schild mit der Aufschrift CLOSED hing schief an der Tür, so dass die beiden Agenten nicht sicher waren, ob der Laden nun geöffnet oder geschlossen war. John drückte gegen die Glastür und als die beiden Schwingtüren nachgaben, zuckte er nur mit den Schultern und ließ seine Kollegin passieren, ehe er selbst das Innere betrat.

Fahles Licht ließ den Raum dunkel und ungemütlich erscheinen, doch Monica wußte, dieser Eindruck entstand nicht nur durch die Lichtverhältnisse. Die ganze Optik im Inneren der Spielbank ließ zu wünschen übrig. Vielleicht verglich sie diese Lokalität auch zu sehr mit ihren Vorstellungen, die sie von den sonstigen Einrichtungen in Las Vegas hatte.

"Scheinbar, doch noch geschlossen", kommentierte John ihre Gedanken und ging weiter in den Raum hinein, sich umsehend nach jemanden, der ihnen weiterhelfen konnte.

"Hallo? Ist da jemand?", Monicas Stimme schien sich zwischen den Spielautomaten zu verfangen und nicht bis ans andere Ende durchzudringen. Es war wirklich eigenartig und verursachte in ihr ein mattes Gefühl von Befangenheit.

Ohne große Vorwarnung sprang die Deckenbeleuchtung an. Alte Kristalleuchter und moderne Discokugeln gaben sich an der Decke ein infernales Stelldichein, blendeten für einen kurzen Augenblick die Augen der beiden Agenten und tauchten den Raum in ein flimmerndes buntes Szenario.

Monica verzog das Gesicht, obgleich der Scheußlichkeit des Ambientes, während John sich nach dem Auslöser des Lichtes umsah.

"Wer sind Sie?", eine krächzende hohe Stimme ertönte von der linken Seite und ließ beide Agenten herumfahren.

John zückte seinen FBI-Ausweis und hielt ihn in Sichthöhe, während Monica bereits zügig auf den merkwürdig gekleideten Mann zuging, welcher der Besitzer oder zumindest der Betreiber des Ladens zu sein schien: "Agent John Doggett, FBI!"

"FBI? Was will das FBI hier?"

Sie versuchte den ertappten, ja fast panischen Unterton in seiner Stimme zu ignorieren, während sie ihren eigenen Ausweis in seine Sichthöhe hielt.

"Agent Monica Reyes, ich bin seine Partnerin. Sir, gehört Ihnen dieser Laden?"

"Si..sicher, aber was zum Teufel wollen Sie von mir?", das Zittern in der Stimme des wohl schlecht gekleideten Mannes, den sie je gesehen hatte, war nicht zu überhören. Wäre sie nicht mit einem anderen Fall betraut gewesen, hätte allein seine Reaktion in ihr Alarmglocken schrillen lassen und sie dazu gebracht, Nachforschungen über ihn anzustellen. Da sie jedoch in einer ganz anderen Richtung ermittelten und die X-Akten das Thema normale Verbrechen weit ausklammerten, unterließ sie es, auch nur einen Kommentar darauf zu verschwenden.

"Mr...?"
"Joseph Pesco, und was zum...", begann er erneut, doch diesmal schaltete sich John ein, dem das ganze eindeutig zu lange dauerte.

"Wir haben nur ein zwei kleine Fragen, Mr. Pesco. Es dauert wirklich nicht lange."

Der Spielbankbetreiber sah einen Augenblick abwägend von einem Agenten zum anderen, dann zuckte er mit den Schultern und nickte.

"Haben Sie den Massenunfall vor ein paar Tagen beobachten können?", begann John und deutete auf die Straße, die vor dem Geschäft entlang verlief.

"Sicher, es war nicht zu übersehen oder zu überhören. Die sind alle durchgedreht, haben sich gegenseitig angegriffen und geschrien. So ein Chaos hat man hier selten erlebt", erklärte der kleine Mann in seinem sizilianischen Akzent, während er Monica neugierig von oben bis unten betrachtete.

"Ist Ihnen dabei etwas Merkwürdiges aufgefallen?"

Sie sah ihn fragend an und versuchte mit aller Kraft das offene weiße Hemd zu ignorieren, aus dem das Brusthaar quoll, während das grellgelbe Jackett sich über seinem Bauch spannte.

"Na ja, da war so ein Typ", Joseph Pesco grinste sie an und positionierte seine mit Goldringen bestückten Hände auf seinem Bauch.

"So ein Typ?!", Monica zog eine Augenbraue hoch und sah zu ihrem Partner hinüber, der sich eindeutig ein Grinsen verkneifen mußte. Sie hätte schwören können, dass er sich köstlich über die Annäherungsversuche dieses Kleinstadtmachos amüsierte.

"Ja, so ein Typ. Der wanderte über die Straße, als sei er der Sohn Gottes persönlich und kam dann hier in die Spielbank, um ein paar Dollar zu verlieren", erklärte der Spielbankbetreiber und seinem Gesicht entglitt das Grinsen.

Monica und John sahen sich triumphierend an. Also war ihr Verdächtiger durchaus nicht spurlos verschwunden, sondern lediglich in der Spielbank gelandet.

"Dieser Hurensohn hat mich um meine halben Tageseinnahmen gebracht!", ertönte es mit einem Male wütend neben ihnen, so dass sie ihre Blicke wieder auf den Spielbankbetreiber richteten.

"Er hat fast jedes Spiel gewonnen! Es war unglaublich! Hätte ich ihn nicht rauswerfen lassen, wäre ich vermutlich heute pleite! Eines sage ich Ihnen, Sie FBI-Typen, der hat bestimmt mit miesen Tricks gearbeitet. Sollten Sie ihn finden, dann richten Sie ihm aus, dass Joseph Pesco noch eine Rechnung mit ihm offen hat!"

Während sich der Spielbankbetreiber immer mehr in seine Wut hineinsteigerte, sahen die beiden Agenten einander nur an und verließen dann gemeinsam das Gebäude.





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Jeremia ließ die Sporttasche auf einen der Stühle sinken und sah sich in seinem Hotelzimmer prüfend um. Neben dem großen Wasserbett stand ein Sektköcher mit gekühltem Champagner, wenige Schritte davon entfernt war ein Servierwagen positioniert, der nur die ausgesuchtesten Leckereien darbot. Sein Blick schwenkte weiter auf die andere Seite des Hotelzimmers, wo eine breite Couch sowie ein Breitbildfernseher standen und regelrecht dazu einluden, einen Abend mit Popcorn und Fernbedienung zu verbringen. Doch er hatte andere Pläne für den Abend.

Während er sich ins Badezimmer zurück zog und einen bequemen Morgenmantel anlegte, klopfte es bereits an seiner Zimmertür.

In nur wenigen Augenblicken hatte er erwartungsfroh die Tür erreicht, die Klinke herunter gedrückt und seinem Besuch geöffnet.

"Hallo Süßer", erklang die honigsüße Stimme der zurechtgemachten Blondine.
"Ich habe schon auf Dich gewartet", grinste er breit und deutet auf das Bett, den Champagner und die Leckereien.

Die Augen der Blondine hellten auf: "Ich hab Dir auch was als kleine Entschädigung mitgebracht."

Mit einem Winken deutete sie jemandem hinter sich an, näher zu kommen, während Jeremia erstaunt versuchte etwas zu erkennen.

"Ich hoffe, Du hast nichts dagegen, wenn meine Freundin dabei ist, oder?", das verführerische Lächeln und der laszessive Augenaufschlag flehten ihn in einer koketten Art und Weise an, der er nicht widerstehen konnte.

"Nur herein mit Euch", lächelte er und betrachtete die rassige Brünette anzüglich von oben bis unten, während er die Tür noch ein wenig weiter öffnete und ihnen Einlaß gewährte.

Die beiden Frauen schlängelten sich an ihm vorbei und ließen ihre Blicke durch die Räumlichkeiten schweifen. Es war zwar oft der Fall, dass Gewinner aus den Casinos kamen und ihren Sieg mit ihnen feierten, aber die Gelegenheiten, wann sie dazu in eine der teuersten Suiten der Stadt eingeladen wurden, konnten sie an einer Hand abzählen. Ohne große Umschweife begann Jeremia sein Hemd aufzuknöpfen.

"Eine nette Kette hast du da!", lächelte die Brünette und trat näher, um ihm verführerisch über die Brust zu streichen.

Doch Jeremia hielt ihre Hand fest. Hektisch nahm er die Kette vom Hals und ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden...





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"Komm schon Jules!", zischte die Blondine hektisch.

Die Angesprochene ließ ihren Blick noch einmal durch den Raum schweifen. Die letzte Nacht war recht lukrativ gewesen. Nicht nur das dieser Kerl da offenbar recht spendabel war und Debora und ihr das Dreifache des normalen Preises bezahlt hatte, sie hatten ihn auch noch nach allen Regeln der Kunst abgefüllt und ausgenommen. Er hatte zwar keine Wertgegenstände bei sich gehabt, doch dafür hatten sie zehn Tausend Dollar in seiner Geldbörse gefunden.

In diesem Moment fiel ihr etwas ein.

"Einen Moment!", flüsterte sie und nahm die achtlos weggeworfene Hose vom Boden. Sekundenlang kramte sie in den Hosentaschen. Dann hatte sie gefunden wonach sie gesucht hatte. Triumphierend hielt Jules Debora die Kette entgegen.

"Ein kleines Andenken", lächelte sie.

"Los, lass uns gehen!"





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"Monica, erklären Sie mir doch bitte eins", John Doggett trat zu seiner neuen Partnerin an den Schreibtisch, "warum sind wir hier?"

Agent Reyes lächelte. Der Casinobesitzer hatte sich, nach ein bißchen gutem Zureden und ein paar beiläufigen Drohungen im Zusammenhang mit der Steuerfahndung, bereit erklärt ihnen auf das nahegelegene Revier zu folgen und eine Täterbeschreibung abzugeben. Und obwohl er sich in unmittelbarer Nähe von so vielen Polizisten offenbar unwohl fühlte, schienen der Polizeizeichner und er gut voranzukommen.

"Wir suchen den Mann, der für diese riesige Massenkarambolage verantwortlich ist", entgegnete sie.

"Und was genau hat dieser Mann getan, außer eine ziemliche Summe Geld beim Roulette gewonnen zu haben, in einem Bundesstaat, in dem Glücksspiel erlaubt ist?", bohrte John weiter.

"Das weiß ich noch nicht so genau!", erklärte Reyes.

Noch bevor Doggett irgendwas erwidern konnte, wurde die Tür geöffnet und ein Polizist kam herein.

"Wir haben die Täterbeschreibung!", erklärte er und reichte Agent Reyes die Zeichnung.

"Zumindest hat er eine verbotene Frisur!", grinste diese in Richtung ihres nicht ganz so gut gelaunten Kollegen.

"Wir suchen also nach einem Mann Mitte 30, weiß, mit viel Glück und einer verbotenen Frisur!", entgegnete Doggett sarkastisch.

"Nun ja, sein Glück scheint ihn wohl verlassen zu haben", mischte sich der Polizist ein. Die beiden FBI-Agenten blickten ihn irritiert an.

"Was meinen Sie damit?", fragte John.

"Sein Name ist Jeremia Denson", antwortete der Polizist, "er sitzt in einer Ausnüchterungszelle in Las Vegas. Ein Mitarbeiter des Four-Seasons hat unsere Kollegen heute Morgen angerufen, da er seine Hotelrechnung nicht bezahlen konnte..."





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"Scheiß Teil!", wütend schlug Debora gegen das Autoradio.

"Du hast ja heute eine Laune!", kommentierte Jules irritiert.

Debora war normalerweise die Ruhe in Person. Das Radio zusammenzuschlagen, nur weil es ab und zu rauschte, gehörte nicht zu ihrem normalen Verhalten. Doch der Tag hatte viel zu gut angefangen, um sich über so etwas Sorgen zu machen. Gutgelaunt kramte Jules ihre Zigaretten aus der Handtasche und steckte sich eine an.

"Kannst Du nicht wenigstens das Fenster aufmachen?", wurde sie sogleich von der Blondine angepflaumt. Ungläubig schaute Jules sie an.

"Weißt du was?", entgegnete sie und holte einen Bündel Scheine aus der Tasche, "lass mich einfach hier aussteigen. Hier hast Du Deinen Teil des Geldes. Melde Dich, wenn Du wieder normal bist!"

Sie schmiss die Hälfte der Dollarnoten auf den Rücksitz. Ohne Widerworte blieb Debora stehen. Immer noch vom seltsamen Verhalten ihrer Freundin überrascht, stieg Jules aus dem Wagen und beobachtete, wie Debora ohne auf den nachfolgenden Verkehr zu achten weiterfuhr und ein paar hupenden Autos den Mittelfinger zeigte. Dann fiel ihr Blick auf den großen Shoppingstore gegenüber. Ein breites Grinsen erschien auf ihrem Gesicht. Das hier war schon immer ihr Traum gewesen. Unbewußt tastete sie nach der Kette um ihren Hals. Sie hatte zwar keine Ahnung, wer dieser Typ von gestern abend gewesen war, aber sie war ihm sehr dankbar. Zum ersten Mal in ihrem Leben würde sie in den teuersten Läden einkaufen gehen, ohne auf die Preise zu achten. Wie Julia Roberts in "Pretty Woman"! Sie fühlte sich wie Cinderella. Jules war so begeistert von dieser Idee, das sie gar nicht merkte, wie immer mehr Leute um sie herum in lautstarken Streit verfielen. Doch als sie die Tür des Einkaufszentrums passierte, ging plötzlich eine Sirene los. Instinktiv zuckte sie zusammen. Unmengen von Konfetti und Luftballons fielen auf sie nieder. Fotografen und Verkäufer stürmten auf sie ein. Erst als ein älterer Mann im Smoking ihr die Hand reichte und mit einem Zahnpastalächeln verkündete:

"Herzlichen Glückwunsch! Sie sind unsere 1.000.000ste Kundin..."

begann Jules zu begreifen, was hier geschah...





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"Jeremia Denson?"

Der Polizist öffnete die Zellentür.

"Sie haben Besuch!"

"Besuch? Ich erwarte aber gar keinen Besuch."

Irritiert beobachtete Jeremia, wie Agent Doggett und Agent Reyes die Zelle betraten. Das Gefängnis erinnerte stark an einen alten Western. Es gab ganze drei Zellen, von denen aus man aus den Schreibtisch des Sheriffs sehen konnte. Mit dem Unterschied, das dieser Sheriff auf seinem Tisch einen kleinen Fernseher stehen hatte. Die Stimme des Nachrichtensprechers hallte durch den Raum.

"Mister Denson, mein Name ist John Doggett. Ich komme vom FBI, das ist meine Partnerin Agent Reyes. Wir würden Ihnen gerne ein paar Fragen bezüglich der Massenkarambolage vor zwei Tagen stellen. Augenzeugenberichten zu folge, waren Sie darin verwickelt."

"Ich war auf dem Weg zum Casino. Ehrlich gesagt habe ich von dem ganzen Tumult gar nichts mitbekommen."

Ungläubig blickte John den Mann an.

"Das ist schwer zu glauben, angesichts des Ausmaßes der Karambolage. Es waren ganze 18 Autos darin verwickelt."

"Ich sagte doch schon: Ich wollte ins Casino!", erklärte Jeremia genervt, "was soll das? Suchen Sie lieber nach diesen beiden Nutten, die meine Kette geklaut haben. Ich hätte sie niemals ablegen dürfen..."

"Sie wurden bestohlen?", fragte John überrascht.

"Ja, das habe ich doch bereits erzählt. Darum konnte ich diese dämliche Hotelrechnung auch nicht begleichen. Ich habe in der Nacht mehrere Tausend Dollar gewonnen. Wie hätte ich die denn so schnell ausgeben sollen?", entgegnete Jeremia aufgebracht.

"Sie sprachen von einer Kette", mischte sich Agent Reyes einem unbestimmten Gefühl folgend ein.

"Ein Glücksbringer! Ich hatte ihn gerade erst gekauft. Eine Antiquität aus dem alten Rom. Diese Schlampen haben sie mitgehen lassen", erklärte Jeremia wütend.

Reyes Aufmerksamkeit wurde plötzlich von der Stimme des Nachrichtensprechers im Fernsehen auf sich gezogen.

"...Eine Massenhysterie brach heute in einem Shoppingstore in der elften Strasse aus. Der Grund für die diversen Handgreiflichkeiten konnte nicht ausgemacht werden. Mehrere Leute wurden verletzt, kurz nachdem das Kaufhaus den 1.000.000sten Kunden begrüßt hatte..."

John Doggett folgte dem Blick seiner Partnerin.

"Offenbar scheint so etwas hier auf der Tagesordnung zu stehen."

In Grossaufnahme wurde das Bild einer jungen Frau gezeigt, die offenbar als 1.000.000ste Kundin wurde.

"Das ist sie! Sie hat meine Kette gestohlen!", rief Jeremia plötzlich aus.

Tatsächlich war für den Bruchteil einer Sekunde eine Kette um den Hals des Mädchens zu erkennen.

"Wo hatten Sie diesen Glücksbringer her?", wandte sich Monica, Johns Bemerkung scheinbar ignorierend, an Jeremia.





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Jules konnte ihr Glück kaum fassen: Nicht nur das sie diesen verrückten Kerl getroffen und ihn gemeinsam mit Debora ausgenommen hatte, nicht nur das sie mit mehreren tausend Dollar in der Tasche herumlief, jetzt durfte sie als 1.000.000ste Kundin umsonst im teuersten Shoppingstore einkaufen. Neu eingekleidet und bepackt mit einem halben Duzend Einkaufstaschen lief sie durch die Strasse. Hinter ihr begannen einige Jugendliche eine Schlägerei. Doch Jules Aufmerksamkeit wurde schon längst von einem bestimmten Namensschild in den Bann gezogen. Tiffany's! Wie hypnotisiert lief sie darauf zu und bemerkte zu spät dass ein Auto auf sie zugerast kam. Im letzten Moment wurde sie von zwei starken Händen zur Seite gerissen.

"Pass doch auf du dumme Kuh!"

"Arschloch!"

Als Jules wieder zu sich kam blickte sie in das schönste Paar männlicher blauer Augen, das sie je gesehen hatte...





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"Fortunas Siegel!", erklärte der Verkäufer desinteressiert. "Natürlich kenne ich es. Vor ein paar Tagen habe ich es an so einen ärmlichen Trottel verkauft. Er hat eine ganz schöne Summe dafür hingeblättert"

"Sie meinen es ist wertlos?", wollte John wissen.

"Nein, das nicht!", antwortete der Mann, "es ist durchaus eine echte Antiquität. Sogar eine, um die sich viele Legenden drehen."

Monica Reyes blickte sich interessiert in dem kleinen Laden um. Scheinbar ohne jegliche Ordnung lagen diverse Schmuckstücke, Steine, Schüsseln und viele andere Dinge herum. Dennoch wirkte der Laden ungewöhnlich anziehend auf sie.

"Was für Legenden?", fragte sie interessiert.

"Es heißt Fortuna selbst, habe diese Kette einmal getragen. Sie schenkte es einem Jüngling, der ihre Gunst gewonnen hatte. Der Jüngling war niemals in seinem Leben etwas Besonderes gewesen. Keiner seiner Träume hatte sich je erfüllt, er war nicht besonders intelligent, stark oder gutaussehend. Doch nachdem ihm Fortuna ihm ihre Kette geschenkt hatte, schien das Glück ihn regelrecht zu verfolgen. Es ging sogar so weit, dass er zum rumreichsten Krieger seiner Zeit wurde. Die Menschen begannen ihn mit dem Kriegsgott Ares zu vergleichen. Als dies der jähzornige Gott hörte, wurde er wütend. Es widerstrebte ihm das dieser so durchschnittliche Jüngling dermaßen viel Ruhm einheimste, und durch sein unverschämtes Glück Krieger besiegte, die weit besser waren als er. Durch eine List entlockte er Fortuna, das Geheimnis seines Glücks. Und als der Jüngling schlief, nahm Ares das Siegel Fortunas an sich. Von diesem Tag an, war der Jüngling wieder derselbe Niemand, der er gewesen war. Damit die Macht des Siegels ihm aber nicht noch einmal in die Quere kommen konnte, legte er einen Fluch darauf..."

"Und was für eine Art Fluch war das?", entgegnete die Agentin.

"Es ist nur eine von vielen Legenden. Eine andere besagt, das Siegel sei einst der Glücksbringer von einem Priester Primigenias gewesen. Der Schutz der Glücksgöttin lag über ihm. Eines Tages jedoch verliebte sich ein junges Mädchen in den Priester. Wie es nun mal seine Art war, genoss der Priester die Früchte seines Glücks und brach dem jungen Mädchen das Herz. Zutiefst verzweifelt stürzte diese in den Tempel. Bevor sie sich mit einem Opfermesser das Leben nahm, verbrachte sie eine letzte Nacht mit ihm. Als er eingeschlafen war, nahm sie die Kette an sich, und verfluchte das Siegel Fortunas mit ihrem Blut."

"Diese Kette ist also ein Glücksringer", brachte John Doggett, dem das ganze langsam zu viel wurde, die Sache auf den Punkt.

"Woher sie stammt und was genau sie ist, weiß ich nicht. Der Vorbesitzer dieses Ladens hat sie hier vergessen. Und ehrlich gesagt ist es mir auch vollkommen egal", antwortete der Verkäufer.

Johns herablassender Tonfall gefiel ihm nicht.

"Aber mir hat dieses Ding eine ganze Menge Geld eingebracht!"

"Vielen Dank!", mischte sich die Agentin wieder ins Gespräch, "das war soweit alles!"

Ein ungutes Gefühl machte sich in dem Verkäufer breit, als er die beiden Agenten zur Tür begleitete. Das Siegel Fortunas. Er kannte alle Geschichten, die sich darum drehten. Und er wußte, dass es nichts gutes bedeutete. Seit Jahren befand sie sich nun in seinem Besitz. Oft genug hatte er versucht sie loszuwerden. Vergeblich. Vielleicht würde es diesmal ja anders laufen. Vielleicht würde diesmal die Kette nicht wieder zu ihm zurückfinden...





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Jules lächelte den Fremden an. Obwohl sie eigentlich eine Professionelle war, fiel ihr nichts Besseres ein. Es war eigentlich absolut lächerlich.

"Alles in Ordnung?", ihr Gegenüber strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und sah sie weiterhin intensiv an.

Nun endlich löste sich ihre Starre und einen Augenschlag später war sie wieder völlig in ihrem Element.

"Ja, mir geht es gut!", sie setzte eine engelsgleiche Miene auf und brachte ihre strahlend weißen Zähne mit einem Lächeln zum Vorschein.

"Dann ist ja gut", erwiderte er und wollte an ihr vorbeigehen.

Jules stockte. Er wollte sie stehen lassen? Das konnte doch nicht sein! Verließ sie ihr Glück etwa in diesem Augenblick? Nein, das konnte nicht sein, sie hatte doch diese merkwürdige Kette, die ihr zunehmendes Glück beschert hatte, seit sie in ihrem Besitz war.

Reflexartig tastete sie nach ihrer Kette und griff ins Leere. Entsetzen machte sich augenblicklich in ihr breit, Entsetzen und Ungläubigkeit.

Suchend richtete sie ihren Blick auf den Boden und begann sich nach dem Schmuckstück umzusehen.

Doch als sie nichts finden konnte, kam ihr eine abstruse, aber nicht unmögliche Idee. Ihr Blick richtete sich wieder auf und Wut kochte in ihr hoch. Sollte dieser gutaussehende Bastard von eben ihr etwa ihren Glücksbringer gestohlen haben?

Sehr weit war er noch nicht gekommen. Jules sah seinen hellbraunen Schopf in der Menschenmenge.

"Na warte!", zischte sie und rannte los.
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