Sie fühlte sich wie benebelt, seit Leonard Betts ihr die Worte ‚Sie haben, was ich brauche’ gesagt hatte. Seit einiger Zeit schon schlummerte tief in ihr etwas, von dem sie fühlte, dass es nicht richtig war, doch bisher hatte sie es ignoriert und als Hirngespinst abgetan. Zu leichtfertig abgetan vielleicht, als Resultat der vielen Arbeit in der letzten Zeit. Mulder ließ ihr kaum eine Pause den angestauten Papierberg abzuarbeiten. Von einem Fall ging es zum nächsten, quer durch die Staaten. Sie hatte selbst den Geburtstag ihrer Mutter im letzten Monat verpasst, weil sie mit Mulder in San Franzisco war, um einem Fall nachzugehen. Und nun, ganz unvorhergesehen, sagt ihr dieser Fremde, was die ganze Zeit über wie eine dunkle Wolke über ihr gehangen hatte. Es war stets bei ihr, unbewusst, aber dennoch präsent.
Wie von selbst fuhr sie nach Hause. Sie wollte jetzt nichts weiter als eine heiße Dusche und einen Film. Ablenkung tat jetzt gut. Jedoch nicht die Art von Ablenkung für die Mulder ständig sorgte. Ihr Körper fühlte sich ausgelaugt, vollkommen erschöpft an. Nicht nur wegen des Leonard Betts Falls, sondern schon davor. Schon seit Wochen fühlte sie sich schlapp. Immerzu war sie müde, es mangelte ihr an Appetit und allgemein fühlte sie sich lustlos. Und bis vor einer Stunde hatte sie es sich nicht erklären können. Und als Leonard Betts aussprach, was sie schon länger befürchtete, hatte sie es zunächst nicht glauben wollen. Dass er es sich einbildet, sich in ihrem speziellen Fall irrte, weil er es einfach musste! Es durfte nicht sein, konnte unmöglich ihr passieren. Sie war doch immer eine gute Katholikin gewesen, hatte bis auf das eine Mal in ihrer frühen Jugend niemals wieder geraucht und trank auch nicht. Sie war keine Sünderin, stets hilfsbereit und erfüllte ihre Arbeit mehr als Pflicht bewusst. Wie konnte ausgerechnet ihr so etwas passieren?
Natürlich war es in gewisser Weise Leichtsinnig den Worten eines Fremden derart viel Glauben zu schenken, aber in Anbetracht ihres seltsamen Gefühls in der letzten Zeit, schien es ihr – sehr zu ihrem eigenen Missfallen – logisch anzunehmen, dass Leonard sich nicht irrte, nicht in ihrem Fall. Er schien sich bisher niemals geirrt zu haben. Je mehr sie darüber nachdachte, desto schwerer schien die Wahrheit auf ihren schmalen Schultern zu werden. Wie eine Last, die man loswerden will um jeden Preis, aber nicht ablegen kann, weil eine höhere Macht es nicht zulassen will. Sie seufzte innerlich und fuhr auf den Parkplatz vor ihrem Mietshaus.
Für einen Moment blieb sie sitzen und starrte das Gebäude an. Es kam ihr plötzlich seltsam fremd vor, obwohl sie sich zu Hause immer wohl gefühlt hatte. Es wirkte riesig, schon beinahe majestätisch und irgendwie auch kalt und unheimlich. Sie schüttelte den Kopf und verdrängte die ungewohnt düsteren Gedanken. Nach der Dusche würde sie sich bestimmt besser fühlen, entspannter, leichter. Scully zog den Schlüssel aus dem Zündschloss, stieg aus dem Wagen und schloss diesen ab. Schritt für Schritt ging sie auf das Haus zu, bewusst die Gedanken verdrängend, die sie noch wenige Sekunden zuvor gehabt hatte und die versuchten wieder an die Oberfläche zu kommen.
Wenige Augenblick später stand sie im Bad vor dem Spiegel und betrachtete sich eingehend. Wo befand er sich wohl? Ihre Urgroßmutter hatte Brustkrebs gehabt und ihre Mutter war vor einigen Jahren an der Gebärmutter operiert worden. Wo befand sich ihr Krebs? Diese Frage wollte ihr nicht aus dem Sinn gehen, als sie jeden Zentimeter ihrer Haut im Spiegel musterte. Und schließlich hob sie langsam den linken Arm über ihren Kopf und begann mit der rechten Hand ihre Brust abzutasten. Alles fühlte sich normal an. Keine seltsamen Knoten waren zu spüren, nichts war ungewöhnlich. Sie wechselte die Seite, hob nun den rechten Arm über den Kopf und wiederholte die Prozedur sorgfältig. Als Medizinerin war ihr bewusst, dass jede Frau sich ab einem gewissen Alter regelmäßig selbst untersuchen sollte, aber irgendwie hatte auch das in der letzten Zeit gelitten.
Unter ihrer Arbeit beim FBI litt einiges in ihrem Leben. Eigentlich alles andere, das nichts mit der Arbeit zu tun hatte. Wann hatte sie ihr letztes Rendezvous mit einem Mann gehabt? Wann den letzten intimen Kontakt zu einem Mann? Sie konnte sich schon kaum noch erinnern. Nach dem College verblassten die Erinnerungen an jegliches Privatleben. Und irgendwie kam es ihr merkwürdig vor, dass ihr erst jetzt auffiel, wie aufopfernd sie für das FBI arbeitete. Und nicht nur für das FBI, auch für Mulder. Ihm schien es nichts auszumachen kein Privatleben mehr zu haben, aber in Anbetracht ihrer derzeitigen Situation, machte es ihr plötzlich etwas aus. Was bisher wie unter einem Schleier verborgen gewesen war, wurde mit einem Mal wieder deutlich sichtbar. Sie lebte nicht mehr, jedenfalls nicht mehr richtig. Das Wort Leben hatte plötzlich eine völlig neue Bedeutung für sie bekommen.
Als sie auch bei der zweiten Brust nichts Ungewöhnliches feststellte, ließ sie den Arm wieder sinken und blickte sich noch einen weiteren Augenblick im Spiegel an. Sie sah nicht anders aus als sonst. Und irgendwie hatte sie erwartet, dass man ‚es’ sehen würde. Irgendwie. Dem war jedoch nicht so. Das Rauschen des heißen Wassers klang vertraut, wie ein Lied, das man auswendig kennt und liebt. Und als sie das Wasser auf ihrer müden Haut spürte, fühlte sie sich lebendiger als je zuvor. Die Augen schließend, genoss sie das vertraute Gefühl und ließ das Wasser ihre Muskeln sanft massieren, bis der Schmerz in ihren Schultern nachzulassen schien. Wenigstens für den Augenblick schien die Last von ihr genommen zu sein, aber sie wusste nur zu gut, dass ‚es’ nicht so einfach verschwinden würde. Dass es sich nicht länger ignorieren ließ. Die Zeit, in der sie ignorieren konnte, was in ihrem Körper vor sich ging, war endgültig vorüber.
Diesmal kam sie nicht darum herum einen Arzt aufzusuchen, der sie gründlich untersuchen würde. Bestätigen, was sie unlängst wusste und ihr eine solch große Angst einjagte, dass sie sich selbst einzureden versucht hatte, dass es nicht real, nur eine Einbildung ihres überarbeiteten Geistes war. Sie hatte versucht die Augen vor dem zu schließen, wovor sie sich ein Leben lang gefürchtet hatte und nun konnte sie es nicht länger ignorieren. Es war wie eine große, offene Wunde, die sie nähen und verbinden musste, damit sie sich nicht entzündete und größer und schmerzhafter wurde. – Wäre da nicht die Angst vor der endgültigen Bestätigung.
Einen Tag später fand sie sich im Sprechzimmer ihres Arztes wieder und wartete auf das Ergebnis ihrer Untersuchung. Mulder hatte sie gesagt, dass sie Kopfschmerzen habe und deshalb später zum Dienst erscheinen würde, wenn das Aspirin endlich wirken würde. Sie belog ihren Partner nicht gerne, aber sie wollte diese Angelegenheit erst einmal für sich behalten und ihre Chancen abwägen, ehe sie Mulder davon erzählte.
„Dana“, grüßte ihr Arzt und sie stand auf, als er zu ihr herüber kam. Sofort fiel ihr Blick auf den großen Umschlag in seiner Hand, doch sie sagte nichts.
„Danke, dass Sie so kurzfristig Zeit für mich fanden.“
„Das ist doch selbstverständlich“, sagte der Arzt mit einem kleinen Lächeln, das nichts Gutes verhieß. Er setzte sich in seinen komfortablen Sessel auf der anderen Seite des Schreibtisches und öffnete den Umschlag. Darin befanden sich einige Diagramme, Röntgenbilder und diverse andere Unterlagen. Die Röntgenbilder befestigte der Arzt an einer Leuchttafel, ehe er diese aktivierte.
Er brauchte es nicht erst auszusprechen. Scully sah auf den ersten Blick den dunklen Fleck auf ihrem Schädelbild, knapp oberhalb ihrer Nase. Und obwohl sie wirklich damit gerechnet hatte, brach für sie in dem Augenblick eine Welt zusammen, als sie die Bestätigung sah. Sie schlug die Hand vor den Mund und zwang die Tränen zurück, die im Begriff waren ihre Augen zu verlassen.
Wortlos starrte sie auf das Bild, konnte den Blick nicht davon abwenden und alles in ihr begann zu zittern. Ihr wurde heiß und halt zugleich und für einen Augenblick vergaß sie sogar zu atmen. Das waren also die unergründlichen Wege Gottes? Dieser verdammte Bastard strafte sie mit Krebs an einer solchen Stelle! Und wofür?!? Ihr Herz sank, als sie schließlich ihren Arzt anblickte und in dessen Augen nichts als Mitleid sah.
„Haben Sie Fragen?“, wollte er wissen.
„Ist… es…“ Scully wagte kaum die Frage auszusprechen, deren Antwort über Leben und Tod entschied.
„Operabel?“
Sie nickte stumm und starrte wieder das Bild an.
Als er mit der Antwort zögerte, wusste sie bereits bescheid. „Wir müssen weitere Untersuchungen machen, aber um ehrlich zu sein…“
„…die Chancen sind gleich null“, vollendete sie seinen Satz und tauschte einen kurzen Blick mit ihm. „Was ist mit einer Chemo-Therapie?“
„Das ziehen wir in Erwägung, Dana“, nickte der Arzt. Sie sah ihm an, dass er versuchte schonend mit ihr umzugehen, obwohl sie beide wussten, dass eine Chemo-Therapie in diesem Stadium nicht mehr viel bringen würde.
Wie in Trance verließ sie das Krankenhaus und fuhr nach Hause. Sie hatte ihren Ausweis und die Waffe nicht mitgenommen und musste diese nun holen.
Als Scully die Tür zu ihrem Apartment öffnete und hineintrat, kam sie nicht mehr umhin der Angst Luft zu machen. Sie sank auf die Knie und begann leise zu weinen, das Gesicht auf ihre Beine legend. Nun hatte sie die längst befürchtete Bestätigung. Und anstatt ihr Erleichterung zu verschaffen, gab ihr diese Bestätigung das Gefühl, als habe man ihr eben das Todesurteil verkündet. Vor der Untersuchung hatte sie sich wenigstens noch einreden können, dass Chancen auf Heilung gab. Nicht jede Form von Krebs war unbesiegbar. Dieser, und das wusste sie leider viel zu gut, würde ihr noch ein paar Monate Zeit lassen, aber mehr nicht. Wie sollte sie das ihrer Mutter erklären, Bill und Charles? Und Mulder? Was sollte sie ihm sagen?
Irgendwann – sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren – stand sie wieder auf, wischte sich die Tränen fort und bemerkte die Rosen auf dem Tisch neben ihrer Couch. Sie waren vollkommen verdorrt, ließen die Köpfe hängen. Einzelne Blütenblätter waren abgefallen und auf den Tisch gefallen. Die Rosen waren abgestorben, so wie sie selbst schon bald sterben würde. Nachdenklich nahm sie eines der Blütenblätter und sah es sich gründlich an.
Die Schönheit der Rosen war vergänglich. Was war mit ihr? Würde man sich an Dana Scully erinnern?
Mulder fiel ihr plötzlich wieder ein und sie ging ins Schlafzimmer, wo sie ihren Ausweis und die Waffe aufbewahrte. Das Rosenblatt schob sie unbewusst in ihre Jackentasche. Kurz darauf verließ sie das Apartment und fuhr zum FBI Hauptquartier.
Wie erwartet saß Mulder da und wälzte Akten, als sie das Kellerbüro betrat und vor dem Tisch – seinem Schreibtisch – Platz nahm.
„Wie schön, es geht Ihnen besser?“
Alles in ihr schrie danach es ihm jetzt und hier zu sagen, doch stattdessen antwortete sie nur: „Es scheint so.“ Ein gezwungenes Lächeln legte sich auf ihre Lippen und Mulder nickte bestätigend.
Erst jetzt erkannte sie die Ironie in ihrer Lüge, als sie Mulder von den Kopfschmerzen erzählt hatte. Hätte sie vielleicht eher über Bauchschmerzen klagen sollen? Innerlich schüttelte sie den Kopf ob des dummen Gedankens. Das war natürlich völlig lächerlich, denn im Nachhinein passte es genau zu Leonard Betts Angriff. Dieser hatte das Skalpell schließlich in ihrer Kopfhöhe gehalten. Allerdings war ihr das nicht sofort bewusst gewesen.
„Fühlen Sie sich fit genug, mir bei der Sichtung einiger Akten zu helfen?“, riss Mulder sie jäh aus ihren Gedanken und sie sah ihn einige Zeit schweigend an. „Wirklich alles in Ordnung, Scully?“
Sie nickte, wie sie es immer tat und sagte schließlich: „Ja, Mulder. Es geht mir gut. Lassen Sie uns die Akten durchgehen.“
Noch konnte sie es ihm nicht sagen. Sie brauchte Zeit über alles nachzudenken. Über sich, den Rest ihres Lebens, ihre seltsame und schwer zu definierbare Beziehung zu ihrem Partner und über das, was es noch zu tun galt, bevor es zu spät für sie war.
Es wurde Zeit ein paar Dinge grundlegend zu ändern.
ENDE
Wie von selbst fuhr sie nach Hause. Sie wollte jetzt nichts weiter als eine heiße Dusche und einen Film. Ablenkung tat jetzt gut. Jedoch nicht die Art von Ablenkung für die Mulder ständig sorgte. Ihr Körper fühlte sich ausgelaugt, vollkommen erschöpft an. Nicht nur wegen des Leonard Betts Falls, sondern schon davor. Schon seit Wochen fühlte sie sich schlapp. Immerzu war sie müde, es mangelte ihr an Appetit und allgemein fühlte sie sich lustlos. Und bis vor einer Stunde hatte sie es sich nicht erklären können. Und als Leonard Betts aussprach, was sie schon länger befürchtete, hatte sie es zunächst nicht glauben wollen. Dass er es sich einbildet, sich in ihrem speziellen Fall irrte, weil er es einfach musste! Es durfte nicht sein, konnte unmöglich ihr passieren. Sie war doch immer eine gute Katholikin gewesen, hatte bis auf das eine Mal in ihrer frühen Jugend niemals wieder geraucht und trank auch nicht. Sie war keine Sünderin, stets hilfsbereit und erfüllte ihre Arbeit mehr als Pflicht bewusst. Wie konnte ausgerechnet ihr so etwas passieren?
Natürlich war es in gewisser Weise Leichtsinnig den Worten eines Fremden derart viel Glauben zu schenken, aber in Anbetracht ihres seltsamen Gefühls in der letzten Zeit, schien es ihr – sehr zu ihrem eigenen Missfallen – logisch anzunehmen, dass Leonard sich nicht irrte, nicht in ihrem Fall. Er schien sich bisher niemals geirrt zu haben. Je mehr sie darüber nachdachte, desto schwerer schien die Wahrheit auf ihren schmalen Schultern zu werden. Wie eine Last, die man loswerden will um jeden Preis, aber nicht ablegen kann, weil eine höhere Macht es nicht zulassen will. Sie seufzte innerlich und fuhr auf den Parkplatz vor ihrem Mietshaus.
Für einen Moment blieb sie sitzen und starrte das Gebäude an. Es kam ihr plötzlich seltsam fremd vor, obwohl sie sich zu Hause immer wohl gefühlt hatte. Es wirkte riesig, schon beinahe majestätisch und irgendwie auch kalt und unheimlich. Sie schüttelte den Kopf und verdrängte die ungewohnt düsteren Gedanken. Nach der Dusche würde sie sich bestimmt besser fühlen, entspannter, leichter. Scully zog den Schlüssel aus dem Zündschloss, stieg aus dem Wagen und schloss diesen ab. Schritt für Schritt ging sie auf das Haus zu, bewusst die Gedanken verdrängend, die sie noch wenige Sekunden zuvor gehabt hatte und die versuchten wieder an die Oberfläche zu kommen.
Wenige Augenblick später stand sie im Bad vor dem Spiegel und betrachtete sich eingehend. Wo befand er sich wohl? Ihre Urgroßmutter hatte Brustkrebs gehabt und ihre Mutter war vor einigen Jahren an der Gebärmutter operiert worden. Wo befand sich ihr Krebs? Diese Frage wollte ihr nicht aus dem Sinn gehen, als sie jeden Zentimeter ihrer Haut im Spiegel musterte. Und schließlich hob sie langsam den linken Arm über ihren Kopf und begann mit der rechten Hand ihre Brust abzutasten. Alles fühlte sich normal an. Keine seltsamen Knoten waren zu spüren, nichts war ungewöhnlich. Sie wechselte die Seite, hob nun den rechten Arm über den Kopf und wiederholte die Prozedur sorgfältig. Als Medizinerin war ihr bewusst, dass jede Frau sich ab einem gewissen Alter regelmäßig selbst untersuchen sollte, aber irgendwie hatte auch das in der letzten Zeit gelitten.
Unter ihrer Arbeit beim FBI litt einiges in ihrem Leben. Eigentlich alles andere, das nichts mit der Arbeit zu tun hatte. Wann hatte sie ihr letztes Rendezvous mit einem Mann gehabt? Wann den letzten intimen Kontakt zu einem Mann? Sie konnte sich schon kaum noch erinnern. Nach dem College verblassten die Erinnerungen an jegliches Privatleben. Und irgendwie kam es ihr merkwürdig vor, dass ihr erst jetzt auffiel, wie aufopfernd sie für das FBI arbeitete. Und nicht nur für das FBI, auch für Mulder. Ihm schien es nichts auszumachen kein Privatleben mehr zu haben, aber in Anbetracht ihrer derzeitigen Situation, machte es ihr plötzlich etwas aus. Was bisher wie unter einem Schleier verborgen gewesen war, wurde mit einem Mal wieder deutlich sichtbar. Sie lebte nicht mehr, jedenfalls nicht mehr richtig. Das Wort Leben hatte plötzlich eine völlig neue Bedeutung für sie bekommen.
Als sie auch bei der zweiten Brust nichts Ungewöhnliches feststellte, ließ sie den Arm wieder sinken und blickte sich noch einen weiteren Augenblick im Spiegel an. Sie sah nicht anders aus als sonst. Und irgendwie hatte sie erwartet, dass man ‚es’ sehen würde. Irgendwie. Dem war jedoch nicht so. Das Rauschen des heißen Wassers klang vertraut, wie ein Lied, das man auswendig kennt und liebt. Und als sie das Wasser auf ihrer müden Haut spürte, fühlte sie sich lebendiger als je zuvor. Die Augen schließend, genoss sie das vertraute Gefühl und ließ das Wasser ihre Muskeln sanft massieren, bis der Schmerz in ihren Schultern nachzulassen schien. Wenigstens für den Augenblick schien die Last von ihr genommen zu sein, aber sie wusste nur zu gut, dass ‚es’ nicht so einfach verschwinden würde. Dass es sich nicht länger ignorieren ließ. Die Zeit, in der sie ignorieren konnte, was in ihrem Körper vor sich ging, war endgültig vorüber.
Diesmal kam sie nicht darum herum einen Arzt aufzusuchen, der sie gründlich untersuchen würde. Bestätigen, was sie unlängst wusste und ihr eine solch große Angst einjagte, dass sie sich selbst einzureden versucht hatte, dass es nicht real, nur eine Einbildung ihres überarbeiteten Geistes war. Sie hatte versucht die Augen vor dem zu schließen, wovor sie sich ein Leben lang gefürchtet hatte und nun konnte sie es nicht länger ignorieren. Es war wie eine große, offene Wunde, die sie nähen und verbinden musste, damit sie sich nicht entzündete und größer und schmerzhafter wurde. – Wäre da nicht die Angst vor der endgültigen Bestätigung.
Einen Tag später fand sie sich im Sprechzimmer ihres Arztes wieder und wartete auf das Ergebnis ihrer Untersuchung. Mulder hatte sie gesagt, dass sie Kopfschmerzen habe und deshalb später zum Dienst erscheinen würde, wenn das Aspirin endlich wirken würde. Sie belog ihren Partner nicht gerne, aber sie wollte diese Angelegenheit erst einmal für sich behalten und ihre Chancen abwägen, ehe sie Mulder davon erzählte.
„Dana“, grüßte ihr Arzt und sie stand auf, als er zu ihr herüber kam. Sofort fiel ihr Blick auf den großen Umschlag in seiner Hand, doch sie sagte nichts.
„Danke, dass Sie so kurzfristig Zeit für mich fanden.“
„Das ist doch selbstverständlich“, sagte der Arzt mit einem kleinen Lächeln, das nichts Gutes verhieß. Er setzte sich in seinen komfortablen Sessel auf der anderen Seite des Schreibtisches und öffnete den Umschlag. Darin befanden sich einige Diagramme, Röntgenbilder und diverse andere Unterlagen. Die Röntgenbilder befestigte der Arzt an einer Leuchttafel, ehe er diese aktivierte.
Er brauchte es nicht erst auszusprechen. Scully sah auf den ersten Blick den dunklen Fleck auf ihrem Schädelbild, knapp oberhalb ihrer Nase. Und obwohl sie wirklich damit gerechnet hatte, brach für sie in dem Augenblick eine Welt zusammen, als sie die Bestätigung sah. Sie schlug die Hand vor den Mund und zwang die Tränen zurück, die im Begriff waren ihre Augen zu verlassen.
Wortlos starrte sie auf das Bild, konnte den Blick nicht davon abwenden und alles in ihr begann zu zittern. Ihr wurde heiß und halt zugleich und für einen Augenblick vergaß sie sogar zu atmen. Das waren also die unergründlichen Wege Gottes? Dieser verdammte Bastard strafte sie mit Krebs an einer solchen Stelle! Und wofür?!? Ihr Herz sank, als sie schließlich ihren Arzt anblickte und in dessen Augen nichts als Mitleid sah.
„Haben Sie Fragen?“, wollte er wissen.
„Ist… es…“ Scully wagte kaum die Frage auszusprechen, deren Antwort über Leben und Tod entschied.
„Operabel?“
Sie nickte stumm und starrte wieder das Bild an.
Als er mit der Antwort zögerte, wusste sie bereits bescheid. „Wir müssen weitere Untersuchungen machen, aber um ehrlich zu sein…“
„…die Chancen sind gleich null“, vollendete sie seinen Satz und tauschte einen kurzen Blick mit ihm. „Was ist mit einer Chemo-Therapie?“
„Das ziehen wir in Erwägung, Dana“, nickte der Arzt. Sie sah ihm an, dass er versuchte schonend mit ihr umzugehen, obwohl sie beide wussten, dass eine Chemo-Therapie in diesem Stadium nicht mehr viel bringen würde.
Wie in Trance verließ sie das Krankenhaus und fuhr nach Hause. Sie hatte ihren Ausweis und die Waffe nicht mitgenommen und musste diese nun holen.
Als Scully die Tür zu ihrem Apartment öffnete und hineintrat, kam sie nicht mehr umhin der Angst Luft zu machen. Sie sank auf die Knie und begann leise zu weinen, das Gesicht auf ihre Beine legend. Nun hatte sie die längst befürchtete Bestätigung. Und anstatt ihr Erleichterung zu verschaffen, gab ihr diese Bestätigung das Gefühl, als habe man ihr eben das Todesurteil verkündet. Vor der Untersuchung hatte sie sich wenigstens noch einreden können, dass Chancen auf Heilung gab. Nicht jede Form von Krebs war unbesiegbar. Dieser, und das wusste sie leider viel zu gut, würde ihr noch ein paar Monate Zeit lassen, aber mehr nicht. Wie sollte sie das ihrer Mutter erklären, Bill und Charles? Und Mulder? Was sollte sie ihm sagen?
Irgendwann – sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren – stand sie wieder auf, wischte sich die Tränen fort und bemerkte die Rosen auf dem Tisch neben ihrer Couch. Sie waren vollkommen verdorrt, ließen die Köpfe hängen. Einzelne Blütenblätter waren abgefallen und auf den Tisch gefallen. Die Rosen waren abgestorben, so wie sie selbst schon bald sterben würde. Nachdenklich nahm sie eines der Blütenblätter und sah es sich gründlich an.
Die Schönheit der Rosen war vergänglich. Was war mit ihr? Würde man sich an Dana Scully erinnern?
Mulder fiel ihr plötzlich wieder ein und sie ging ins Schlafzimmer, wo sie ihren Ausweis und die Waffe aufbewahrte. Das Rosenblatt schob sie unbewusst in ihre Jackentasche. Kurz darauf verließ sie das Apartment und fuhr zum FBI Hauptquartier.
Wie erwartet saß Mulder da und wälzte Akten, als sie das Kellerbüro betrat und vor dem Tisch – seinem Schreibtisch – Platz nahm.
„Wie schön, es geht Ihnen besser?“
Alles in ihr schrie danach es ihm jetzt und hier zu sagen, doch stattdessen antwortete sie nur: „Es scheint so.“ Ein gezwungenes Lächeln legte sich auf ihre Lippen und Mulder nickte bestätigend.
Erst jetzt erkannte sie die Ironie in ihrer Lüge, als sie Mulder von den Kopfschmerzen erzählt hatte. Hätte sie vielleicht eher über Bauchschmerzen klagen sollen? Innerlich schüttelte sie den Kopf ob des dummen Gedankens. Das war natürlich völlig lächerlich, denn im Nachhinein passte es genau zu Leonard Betts Angriff. Dieser hatte das Skalpell schließlich in ihrer Kopfhöhe gehalten. Allerdings war ihr das nicht sofort bewusst gewesen.
„Fühlen Sie sich fit genug, mir bei der Sichtung einiger Akten zu helfen?“, riss Mulder sie jäh aus ihren Gedanken und sie sah ihn einige Zeit schweigend an. „Wirklich alles in Ordnung, Scully?“
Sie nickte, wie sie es immer tat und sagte schließlich: „Ja, Mulder. Es geht mir gut. Lassen Sie uns die Akten durchgehen.“
Noch konnte sie es ihm nicht sagen. Sie brauchte Zeit über alles nachzudenken. Über sich, den Rest ihres Lebens, ihre seltsame und schwer zu definierbare Beziehung zu ihrem Partner und über das, was es noch zu tun galt, bevor es zu spät für sie war.
Es wurde Zeit ein paar Dinge grundlegend zu ändern.
ENDE
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