Der vertraute Ton des Nachrichtenjingles schlich sich allmählich in Sarahs Träume. Seufzend schob sie den Kopf unter der Decke hervor und zwang sich, den Meldungen der örtlichen Radiostation zu lauschen. Als die Nachrichtensprecherin das Wetter verkündete, brummte Sarah etwas Unverständliches und vergrub den Kopf wieder unter der Decke.
„So schlimm?“, erkundigte sich eine Stimme neben ihr.
„Kalt genug.“ Sarah gab sich einsilbig, konnte aber ihre Freundin nicht täuschen.
„Tu nicht so schlecht gelaunt, ich weiß, du bist kein Morgenmuffel.“
„Sprach die Frau, die noch mindestens eine Stunde im Bett bleiben konnte“, brummelte Sarah, der sogar eine Kabbelei recht war, um das Aufstehen noch einige Minuten hinauszuzögern. Da ihre liebevolle Provokation jedoch nicht auf fruchtbaren Boden fiel, steckte sie zögernd ein Bein unter der Decke hervor, um die Außentemperatur zu testen. Unzufrieden mit dem Ergebnis zog sie ein Gesicht und sprang mit einem Satz aus dem Bett und zum Fenster, um es zu schließen. Anschließend tappte sie zum Kleiderschrank und suchte frische Wäsche heraus, die sie über den Flur in Richtung Badezimmer trug. Auf dem Weg wurde sie jedoch von einer nassen Nase gestoppt.
„Hey, Winnie, auch schon wach?“, erkundigte sie sich und fuhr ihrem langhaarigen Schäferhund- Mischling ein paarmal über den Kopf. Der Hund drehte sich auf die Seite – er hatte sich nicht etwa die Mühe gemacht, sein Frauchen im Stehen zu begrüßen, sondern einfach seine Schnauze weit genug auf den Flur gestreckt, um bemerkt zu werden – und bot Sarah seinen Bauch zum Kraulen an. „Vergiss es, Süßer, erst geh ich ins Bad“, vertröstete sie ihn und tat eben dies.
Keine 10 Minuten später kam Sarah wieder aus dem Badezimmer. Ihre langen, kastanienfarbenen Locken waren so ordentlich gebürstet wie nur am Morgen, begannen sich aber schon wieder eigenwillig zu kringeln. Sie trug Jeans und einen quergestreiften Rollkragenpullover, um dem im Radio angekündigten kalten Wind zu trotzen. Ihr Schmuck bestand aus Ohrringen, einer einfachen Silberkette und einem gepiercten Bauchnabel – nicht, dass bei den gegenwärtigen Temperaturen jemand dieses spezielle Schmuckstück zu sehen bekommen würde.
Sarah ging an dem inzwischen schon wieder dösenden Hund vorbei in die Küche, wo sie die gestern vergessenen Teller beiseite schob, um Platz für zwei Müslischalen zu schaffen, die sie auf die Anrichte stellte und mit Müsli, Kakaopulver und Milch füllte. Gewöhnlich bevorzugte sie Müsli mit frischen Früchten, aber es gab Tage, da konnte sie einfach nicht schon am frühen Morgen die nötige Energie aufbringen, um Äpfel zu waschen und zu schneiden. Monica würde es nur recht sein, denn die konnte es nicht ausstehen, ihre Körner, wie sie sich ausdrückte, ohne schokoladige Unterstützung zu essen.
Sarah steckte den Kopf wieder ins Schlafzimmer. „Frühstück ist fertig“, rief sie leise, erkannte jedoch schnell, dass ihr Tonfall nichts ausrichten würde: Der dunkle Haarschopf unter der Decke verbarg kaum die fest geschlossenen Augen ihrer Freundin. Seufzend stellte Sarah eine der Müslischalen in den Kühlschrank. Nur gut, dass Monica eingeweichtes Müsli mochte...
Sarah leerte schnell ihr eigenes Frühstück, schnappte sich dann ihren Mantel und die Hundeleine, deren Klirren auch Winnie Pooh wieder aus seinen Tagträumen riss, hängte sich ihre Handtasche um und verließ mit dem Hund leise die Wohnung. Heute war Montag, Monica hatte lange in der Uni zu tun, also würde sie Winnie mit in die Praxis nehmen müssen. Auch egal, sagte sie sich, die Kinder waren sowieso allesamt vernarrt in den großen, wuscheligen Hund mit dem Bärengesicht, das ihm seinen Namen eingebracht hatte, sobald Sarah ihn vor drei Jahren zum ersten Mal durch die Gitterstäbe eines Tierheimzwingers gesehen hatte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen und ein weiterer Beweis für Sarahs Fähigkeit, verlorene Kreaturen um sich zu scharen. Niemand hatte den riesigen Hund haben wollen, denn sein dichter Pelz verhieß viel Dreck in der Wohnung, und seine Größe und dunkle Farbe mochte so manchen potentiellen Besitzer abgeschreckt haben. Nicht so Sarah. Sie hatte Winnie gesehen und sofort beschlossen, dass sie zusammengehörten.
Ähnlich war es auch mit Monica gewesen. Sie hatte die große, schlanke Frau zum ersten Mal bei einer Versammlung in der Uni gesehen, wo sie als Kinderärztin manchmal aushilfsweise Anatomie- und Chemievorlesungen abhielt. Zum Semesterbeginn hatte es wie immer einen großen Streit um die Verteilung der Unterrichtsräume gegeben, und alle Dozenten waren zu einer Konferenz beordert worden. Unter ihnen auch Monica Jacobs, die als neue Dozentin für Kriminologie und Okkultismus eingestellt worden war. Sie hatte an ihrem Platz gesessen und ein wenig verloren ausgesehen unter all den Leuten, die sich bereits kannten, und sie hatte wie ein Fremdkörper gewirkt, denn an einer so kleinen Universität, und sei sie auch noch so renommiert, war jeder ein Fremder, der nicht mindestens drei Dienstjahre auf dem Buckel hatte. Sarah hatte Monicas Augen gesehen und sich auf der Stelle zu ihr hingezogen gefühlt. Sie hatten sich ein paarmal angelächelt, und es hatte sich mehr oder weniger zufällig ergeben, dass sie gemeinsam zu Mittag aßen. In den ersten Wochen war sich Sarah nicht sicher, ob Monica ihr das gleiche Interesse entgegenbrachte oder ob sie einfach nur froh war, inmitten der Fremden eine mögliche Freundin gefunden zu haben. Sarah war sich entgegen ihres sonst so treffsicheren Blickes für solche Dinge nicht einmal sicher gewesen, ob Monica überhaupt an Frauen interessiert war. Endlose, intensive Gespräche auf langen gemeinsamen Waldspaziergängen brachten schließlich Annäherung, und als die späten Herbststürme begannen war klar, dass auch Monica sich verliebt hatte. Das war inzwischen schon über zwei Jahre her. Sarah stellte wieder einmal mit Erstaunen fest, wie schnell die Zeit verging. Monica war nicht ihre erste Beziehung, aber mit Sicherheit die längste und die einzige, mit der sie sich vorstellen konnte, den Rest ihres Lebens zu verbringen.
Ein ungeduldiges Bellen riss sie aus ihrer Traumwelt. Winnie stand freudig wedelnd vor der Tür zur Praxis und konnte es nicht erwarten, endlich hineingelassen zu werden. Aus unerfindlichen Gründen liebte der Hund es, unter dem Tisch der Empfangsdame zu liegen und alle neu ankommenden kleinen Patienten und ihre Eltern zu beobachten, und Tage, an denen er diesem Hobby nachgehen durfte, waren für ihn Feiertage. Sarah schloss die Tür auf, polierte mit dem Ärmel schnell das silberfarbene Schild an der Mauer, dessen verschnörkelte Aufschrift unmissverständlich klar machte, wer die Herrin in dieser Praxis war, und folgte dem eifrig voranstürmenden Hund. Wie an jedem Montag würden alle Wochenenderkrankungen vor der Tür stehen. Sarah zog sich einen Kittel über, machte einen Rundgang durch die Praxis und wartete auf ihre Angestellten sowie den ersten Patienten. Es würde ein langer Tag werden.
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Gegen halb eins zog Sarah ihren Mantel an und eilte mit Winnie in Richtung Universität. Sie hatte heute zu viele Patienten, um eine ausgedehnte Mittagspause und den gewohnten dreißigminütigen Spaziergang mit dem Hund zu machen, also hatte sie sich spontan entschlossen, in der Mensa zu essen. Die Uni war nicht mehr als zehn Minuten entfernt, und außerdem bestand die Möglichkeit, Monica beim Essen zu treffen. Sarah wusste nicht genau, wann ihre Freundin Mittagspause machte, aber vielleicht würden sie sich über den Weg laufen.
Sarah leinte Winnie auf dem Campus an einem Geländer an, verabschiedete ihn mit einem Klopfen auf die muskulöse Flanke und machte sich auf den Weg ins Mensagebäude, als ihr jemand in den Weg trat.
„Entschuldigung, kennen Sie sich hier aus?“
Sie überlegte kurz, ob sie den Mann schon einmal gesehen hatte, war sich aber ziemlich sicher, dass er ihr vollkommen fremd war. Er war groß, muskulös und hatte kurze, schon leicht angegraute dunkelblonde Haare und stahlblaue Augen. Sarah schätzte ihn auf Ende 40. Er lächelte sie an, aber sie hatte den Eindruck, dass er dieses Lächeln nur der bloßen Höflichkeit halber aufgesetzt hatte; wahrscheinlich hoffte er so auf größere Kooperation. Sie lächelte dennoch zurück und beantwortete seine Frage mit einem knappen Nicken. „Yep. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
„Vielleicht können Sie das. Ich suche eine Freundin. Haben Sie diese Frau schon einmal gesehen?“ Er zog ein zerknittertes Foto aus der Manteltasche und hielt es ihr vor die Nase.
Erst erkannte Sarah die abgebildete Frau nicht, doch dann durchzuckte sie das Wiedererkennen wie ein Schock. Sie fasste sich jedoch schnell wieder und zwang sich dazu, das Bild genauer anzusehen, bevor sie den Kopf schüttelte. „Tut mir leid, die hab ich noch nie hier gesehen.“
Der Mann schien nicht überzeugt zu sein. „Sind Sie ganz sicher?“
„Wenn ich es Ihnen doch sage. Ich kenne sie nicht.“
„Kann es nicht sein, dass sie an der Universität arbeitet?“
„Das denke ich nicht. Ich bin hier Teilzeitdozentin und kenne alle Mitarbeiter, außer vielleicht die Gärtner. Wir haben regelmäßig Konferenzen, und ich bin ziemlich sicher, dass sie mir aufgefallen wäre. Es tut mir leid. Darf ich fragen, warum Sie nach ihr suchen?“
Die Antwort des Mannes kam zögernd: „Wie ich schon sagte, sie ist eine Freundin von mir. Wir waren auch Kollegen, aber vor einiger Zeit ist sie einfach verschwunden, ohne einen Anhaltspunkt zu hinterlassen. Ich mache mir Sorgen und wüsste gern, wo sie ist und ob es ihr gut geht.“
„Ist Ihnen schon einmal in den Sinn gekommen, dass sie vielleicht gar nicht gefunden werden will, wenn sie ohne eine Nachricht verschwindet?“
Einen Moment lang sah es so aus, als wollte der Mann Sarah anschreien, aber er hielt sich zurück. Sie konnte beobachten, wie sich der Ärger in seinem Gesicht innerhalb von Sekunden in Traurigkeit verwandelte. Als er wieder sprach, klang er bedächtig und nachdenklich. „Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Aber ich glaube es nicht. Wir waren sehr gute Freunde, und ich hatte immer das Gefühl, dass wir uns alles sagen konnten. Außerdem waren wir in einer Ausnahmesituation, und deshalb denke ich, dass sie unfreiwillig verschwunden ist.“
„Und warum sollte sie gerade hier sein?“
„Ich habe keine Ahnung. Ein gemeinsamer Bekannter sagte mir, sie sei hier gesehen worden.“ Fast schien es, als wolle er noch etwas hinzufügen, dann überlegte er es sich jedoch anders und verabschiedete sich: „Es tut mir leid, dass ich Sie aufgehalten habe. Wenn sie nicht an der Universität arbeitet, werde ich wohl woanders nach ihr suchen müssen. Aber ich werde sie finden. Ich muss.“ Mit diesen letzten, beinahe geflüsterten Worten drehte er sich um und verließ den Campus. Er sah so vernichtet aus, dass Sarah ihn am liebsten zurückgerufen und getröstet hätte, aber sie beherrschte sich. Sie kannte ihn nicht einmal, warum sollte sie also Mitleid mit ihm haben? Langsam wandte sie sich vom Mensagebäude ab und ging zurück zu Winnie. Sie ignorierte die unbändige Freude des Hundes, löste die Leine von Halsband und Geländer und machte sich auf den Weg in Richtung Wald. Der Appetit war ihr gründlich vergangen, und sie wollte jetzt auch nicht unter Menschen sein. Sie hätte es wissen sollen. Es war von Anfang an alles zu perfekt gewesen. Zwei Jahre lang hatte sie in einer glücklichen, kleinen Illusion gelebt, und jetzt war es an der Zeit, aufzuwachen und sich zu fragen, warum ihre Freundin Monica auf einem zerknitterten Foto in der Tasche eines Fremden zu sehen war, der sie offenbar verzweifelt suchte.
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Müde von einem langen und hektischen Tag in der Universität, komplett mit Vorlesungen und anschließender Sprechstunde für die Studenten, schloss Monica Jacobs die Wohnungstür auf. Es war für sie immer wieder aufs Neue ein Wunder, dass sie am Abend nicht in ihr winziges Einzimmerapartment zurückkehren musste, wo sie Stunden der Einsamkeit und des Alleinseins mit ihren Gedanken erwarteten, bis es endlich Zeit war, schlafen zu gehen. Statt dessen konnte sie nun nach Hause gehen. Zuhause... So hatte sich Sarahs Wohnung für sie schon beim ersten Besuch angefühlt. Auch heute freute sie sich auf die chaotische Gemütlichkeit der Wohnzimmereinrichtung und auf einen zärtlichen Abend auf der Couch mit Sarah und Winnie, der seine tägliche Schmusestunde wie immer energisch einfordern und sie vorher nicht eine Sekunde in Ruhe lassen würde. Wie auf ein Stichwort sprang der große Hund sofort an ihr hoch, sobald sie durch die Tür trat. Monica ließ ihre Schultertasche fallen und vergrub ihre Hände in seinem weichen Fell. Winnies nasse Zunge zog liebevolle Spuren durch ihr Gesicht, und es dauerte eine ganze Weile des Lachens und Umherkugelns auf dem Boden, bis der Hund schließlich von ihr abließ und sie aufstehen und ihre vollkommen behaarte Jacke aufhängen konnte. Wenn sie morgen aus dem Haus ging, würde sie vor der Tür mal wieder einige Minuten brauchen, um das dunkle Fell aus dem Stoff zu pflücken. Die Freuden des Lebens mit einem Hund...
Überrascht, dass Sarah trotz des Lärms nicht aufgetaucht war, steckte Monica den Kopf in die Küche, wo sie ihre Freundin mit dem Rücken zur Tür am Herd vorfand. Leise trat sie zu ihr und legte ihr die Arme um die Taille. „Hey. Wie war’s in der Praxis? Viel Stress?“, flüsterte sie ihr ins Ohr. Zu ihrer Überraschung drehte sich Sarah nicht um, um die Umarmung zu erwidern.
„Es war okay.“ erwiderte sie fast gleichgültig. „Wir hatten nach dem Wochenende natürlich viele Patienten. Die Erkältungswelle rollt an.“
Monica drückte sie noch einmal, bevor sie sich von ihr löste und gegen die Anrichte lehnte. „Dann hoffe ich nur, du hast mir keine Viren mitgebracht.“
„Wenn du unbedingt welche haben willst, kannst du sie zur Zeit überall aufgabeln“, entgegnete Sarah knapp und fügte kurz darauf hinzu: „Kannst du den Tisch decken? Das Essen ist gleich fertig.“ Wortlos trug Monica Teller, Gläser und Besteck zum Tisch. Sie spürte deutlich, dass etwas nicht stimmte, kannte Sarah aber gut genug um zu wissen, dass sie auf keinen Fall nachbohren durfte. Sarah würde nicht reden, bevor sie bereit war.
Nach dem Abendessen machten es sich die beiden Frauen auf der Couch gemütlich. Sarah war nach wie vor nicht besonders gesprächig und vergrub sich in einem Buch. Ihre Vorliebe waren dicke Mysterywälzer und Thriller. Beides zählte schon lange nicht mehr zu Monicas Favoriten; deshalb studierte sie den Einband von Sarahs Lektüre auch nur mäßig interessiert, ließ statt dessen ihren Blick durchs Wohnzimmer schweifen. Alle Regale waren mit Büchern und Videos vollgestopft; in den zahlreichen geschmackvoll im Raum verteilten CD-Ständern befanden sich fast ausschließlich Raubkopien. In einem früheren Leben hätte sie daran wenigstens von Rechts wegen Anstoß nehmen müssen, aber das war lange vorbei. Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Monica schüttelte leicht den Kopf um die unerwünschten Gedanken zu verjagen und blickte wieder auf ihre in ihr Buch vertiefte Freundin, die in der Sofaecke kauerte. Mit einem Mut, den sie früher nie aufgebracht hätte, streckte Monica die Arme aus und zog sie zu sich hinüber, sodass Sarahs Kopf in ihrem Schoß ruhte. Sarah sah fragend auf, steckte dann die Nase jedoch wieder in ihr Buch, ohne sich gegen die liebevolle Geste zu wehren. Monica wusste, das war ein gutes Zeichen. Wäre Sarah wegen etwas verstimmt, das sie getan hatte, hätte sie die Berührung nicht geduldet.
Gedankenverloren fuhr Monica mit allen zehn Fingern durch die kastanienbraunen Locken Sarahs, immer darauf bedacht, die Lesende nicht zu stören. Eine andere, ähnliche Situation kam ihr in den Sinn. Drei Menschen auf einer Couch, erschöpft und kurz vor dem Einschlafen, jedoch gleichzeitig aufs Äußerste angespannt. Wartend auf etwas, von dem sie alle wussten, es würde geschehen, auch wenn sie das Gegenteil hofften. Ein paar Tage später, nachdem das Unfassbare tatsächlich eingetreten und alles noch viel schlimmer gekommen war, als jeder von ihnen erwartet hatte, dieselbe Couch. Dieses Mal jedoch nur zwei Menschen. Der Raum erfüllt mit Trauer und ohnmächtiger Wut. Sie hatte sich verzweifelt gewünscht, helfen zu können, wusste aber gleichzeitig, dass sie das nur konnte, wenn sie verschwieg, warum sie so dringend mehr tun wollte als nur die Bettlaken zu wechseln. Sie hatte Dana nach dem endgültigen Verlust ihres Sohnes in die Arme gezogen und gehalten, bis sie keine Tränen mehr hatte, und hatte sie schließlich in ihren Schoß gezogen und mit ihren Haaren gespielt, wie sie es jetzt mit Sarah tat. Es war das erste Mal gewesen, dass sie es gewagt hatte, sie auf diese Weise zu berühren, und gleichzeitig der einzige intime Moment, den sie jemals geteilt hatten. Noch heute trieb ihr der Gedanke daran, wie vertrauensvoll Dana schließlich in ihrem Schoß eingeschlafen war, die Tränen in die Augen. Hätte sie gewusst, was ich wirklich fühle, hätte sie niemals zugelassen, dass ich sie so halte. Dieses Wissen und die hilflose Frage, wo sich Dana jetzt wohl befinden mochte und wie es ihr ging, ließen die mühsam zurückgedrängten Tränen unkontrolliert überfließen. Einen Moment lang gelang es Monica noch, den Kopf aufrecht zu halten und die Augen zusammenzupressen, doch schließlich wurde die Tränenflut zu groß; ein paar Tropfen fielen und trafen Sarahs Wange. Diese sah auf und legte sofort das Buch beiseite, sobald sie merkte, dass ihre Freundin weinte.
„Monica, was ist los?“, fragte sie besorgt und befreite ihren Kopf gleichzeitig aus Monicas Händen, um sich aufzusetzen. Monica schüttelte den Kopf, gleichzeitig ihre nassen Wangen abwischend. „Es ist nichts. Wirklich, ich war nur in Gedanken.“ Aber Sarah ließ sich nicht abspeisen. „Wenn es nichts wäre, würdest du nicht weinen. Komm, du kannst mit mir reden, das weißt du.“ Zu sehen, wie schnell Sarah ihren eigenen Kummer zu vergessen bereit war um sie zu trösten ließ auch die letzten Dämme brechen. Entgegen ihrer Gewohnheit fand sich Monica Augenblicke später hemmungslos schluchzend in den Armen ihrer Freundin wieder. Sarah strich ihr liebevoll über den Rücken und redete dabei die ganze Zeit besänftigend auf sie ein, bis schließlich alle Tränen vergossen waren. Erst dann ließ sie Monica los, aber auch nur, um ihr das Gesicht mit dem Ärmel ihres eigenen Pullovers zu trocknen, der einzigen Stelle des Kleidungsstücks, das bis dahin keine Tränen abbekommen hatte.
„Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst, aber vielleicht hilft es“, ermunterte sie Monica und zog sie wieder fest in ihre Arme. Ihre Freundin schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht. Aber ich...“ Sarah unterbrach sie: „Schon okay, du brauchst mir nichts zu erklären. Du sollst nur wissen, dass ich zuhören werde, wenn du es dir anders überlegst. Und denk dran: Nichts, was du mir erzählst, könnte mich dazu bringen, dich nicht mehr zu lieben.“ Monica nickte schwach, den Kopf noch immer an Sarahs Brust vergraben, damit diese den Schmerz in ihrem Gesicht nicht sehen konnte. Wenn sie ihr doch nur glauben könnte! Wie sehr wünschte sie sich, sie hätte damals diese Worte zu Dana sagen können. Aber es war unmöglich gewesen. Erstens hatte sie selbst nicht einmal gewusst, wie sie mit diesen neuen, tiefen Gefühlen umgehen sollte, die sie ihr ganzes Leben lang vor jedem, auch vor sich selbst, verborgen hatte, und zweitens hätte Dana sie nicht verstanden, denn ihr eigenes Herz gehörte unwiderruflich einem Mann, mit dem sie wieder zu vereinen Monica viel mehr als nur ihre Karriere gekostet hatte. Es hatte ihr zum ersten Mal das Herz gebrochen. Bis dahin hatte sie geglaubt, das sei unmöglich, hatte ihre selbst geschriebene Rolle gespielt und war nie mehr als oberflächlich verletzt worden. Kein Mann hatte ihr mehr antun können als ihren Stolz zu kränken. Doch dann hatte sie eine zierliche, rothaarige und unheimlich starke Frau kennen gelernt, und es wurde zu ihrem Lebensinhalt, wenn schon nicht ihr Herz, so doch wenigstens ihr Vertrauen und ihre Freundschaft zu gewinnen. Das war ihr letztlich auch gelungen, aber um welchen Preis? Sie hatte Dana an Mulder verloren und war allein mit der Gewissheit zurückgeblieben, nie wieder in ihre selbst erwählte Ignoranz zurückkehren zu können. Die kurze Zeit mit Dana hatte es ihr unmöglich werden lassen, jemals wieder mit einer oberflächlichen Beziehung zufrieden zu sein, wie sie sie bis zu diesem Zeitpunkt mit allen Männern in ihrem Leben gehabt hatte. An diesem Punkt zwang sich Monica, den Fluss ihrer Gedanken zu unterbrechen. Es erschien ihr nicht richtig, in Sarahs Armen Trost für eine Trauer zu finden, die sie beim Gedanken an eine andere Frau empfand. Es war der liebevollen, geduldigen und so verdammt selbstlosen Sarah gegenüber einfach nicht fair. Aus heiterem Himmel überkam sie eine Welle von Zärtlichkeit für die Frau in ihren Armen. Monica hob den Kopf und suchte ihren Blick. Einen Moment sahen sie sich stumm an; dann schlossen sie wie auf ein geheimes Zeichen gleichzeitig die Augen und küssten sich. Es tat Monica gut, sich in dem vertrauten Gefühl von Sarahs weichen Lippen zu verlieren. Sie fühlte sich nie geborgener, als wenn sie Sarah küsste. In solchen Momenten wusste sie wieder genau, woran sie sich eben nur flüchtig erinnert hatte: Dass Dana in ihrem Leben nicht mehr existierte, und dass sie dort auch nie eine andere Funktion gehabt hatte als die, Monica aufwachen zu lassen und sie damit indirekt für eine Beziehung mit Sarah bereit zu machen.
Irgendwann löste sich Sarah aus der Umarmung und stand auf. Sie hielt ihrer Freundin die Hand hin, um sie von der Couch hochzuziehen. „Komm, ich denke, wir sollten schlafen gehen.“ Monica nickte und ergriff ihre Hand. Es war so beruhigend, Sarah zu berühren, denn es machte das, was sie miteinander teilten, in ihren Augen real, unterschied es von den Tagträumen, die sich manchmal in ihre Gedanken schlichen. Sie wusste, sie würde Sarah in dieser Nacht nicht eine Sekunde lang loslassen können. Das hätte sie eigentlich ängstigen sollen, doch sie fühlte sich sicher in dem Wissen, dass Sarah ihr Bedürfnis nach Nähe ohne zu zögern und ohne Fragen zu stellen akzeptieren würde. Es lag einfach in ihrer Natur. Monica wünschte, sie könnte Sarah ebenso viel geben wie sie nahm, wusste jedoch zu ihrem großen Bedauern, dass das unmöglich war. Niemals würde sie so offen und vollkommen ehrlich sein können. Egal wie viel sie für Sarah empfand, ein Stück von sich selbst würde sie immer zurückhalten müssen. Die Frau, die sie liebte, würde sie nie wirklich kennen, und sie würde es nicht einmal ahnen.
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Am folgenden Tag fand Sarah zum ersten Mal keinen Spaß an ihrer Arbeit. Sie fühlte sich erschöpft, denn sie hatte in der Nacht schlecht geschlafen. Ihre eigenen wirren Träume waren von Monicas unruhigem Schlaf unterbrochen worden; mehrmals war sie von ihrer Freundin durch unbewusste Schläge oder Tritte geweckt worden, und einmal hatte sie Monica sogar wecken müssen, weil diese im Schlaf geschrien hatte. Wieder war sie Sarahs Fragen ausgewichen, und entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit war sie vor ihrer Freundin aufgestanden und mit Winnie zum Joggen gegangen. Sarah hatte das Haus verlassen müssen, bevor sie zurück waren. Jetzt versuchte sie bereits seit über zwei Stunden, sich auf die erkälteten Kinder zu konzentrieren, die nacheinander von mehr oder weniger hysterischen Müttern ins Behandlungszimmer begleitet wurden, von denen einige ungefähr so übernächtigt aussahen wie sie sich fühlte. Alle kleinen Patienten schienen in Sarahs Kopf zu einer einheitlichen Masse aus laufenden Nasen, Fieber, Husten und unzufriedenem Greinen zu verschwimmen. Während sie mechanisch die nötigen Untersuchungen durchführte war es Sarah unmöglich, nicht darüber nachzudenken, was das Auftauchen des geheimnisvollen Fremden für ihre Beziehung bedeuten könnte. Wer war der Mann? Dass er Monica nach so langer Zeit suchte legte den Verdacht nahe, dass sich die beiden einmal sehr nah gestanden hatten. Aber wie nah? War sie wirklich bloß eine Kollegin und gute Freundin, oder waren sie mehr als nur Freunde gewesen? Obwohl sie nie darüber gesprochen hatten, hatte Sarah schnell bemerkt, dass Monica keine Erfahrung mit intimen Beziehungen zu Frauen besaß. Nicht, dass sie jemals offen Unsicherheit gezeigt oder angesprochen hätte; sie hatte auch nicht abwehrend oder schockiert auf Sarahs erste Annäherungen reagiert, und von Berührungsängsten konnte erst recht keine Rede sein. Dennoch war Sarah aufgefallen, dass jeder entscheidende Schritt in Richtung einer Beziehung von ihr ausgegangen war, sei es das erste Date, der erste Kuss, die erste Nacht oder das erste gemeinsam verbrachte Wochenende. Es war, als bräuchte Monica für all diese Dinge eine Erlaubnis, als sei das alles neu für sie und sie müsse Sarahs Anleitung folgen. Sobald der erste Schritt dann getan war, lernte sie schnell, ergriff auch selbst die Initiative und scheute sich nicht zu zeigen, wie sehr ihr die Neuerung gefiel. Das alles sprach in Sarahs Augen dafür, dass Monica noch nie eine Beziehung mit einer Frau gehabt hatte, ihr der Wunsch danach jedoch nicht neu war. Sie hatten Sarahs Meinung nach eine sehr liebevolle, zärtliche und auch ehrliche Beziehung, auch wenn Monica so gut wie nie über ihre Vergangenheit sprach. Alles was Sarah wusste war, dass sie in Mexiko bei Adoptiveltern aufgewachsen war, fließend Spanisch sprach und aufgrund ihrer Herkunft sofort fror, sobald es draußen ein wenig kühler wurde. Irgendwann im Laufe ihres Lebens musste sie die Berechtigung erworben haben, an Universitäten zu lehren, sonst hätte sie ihren Job nicht. Aber sie wusste nicht einmal, wann und wo Monica studiert hatte. Sie kannte auch nach zweijähriger Beziehung niemanden von ihren Verwandten oder früheren Freunden. Ihr einziger Anhaltspunkt war ein Foto von einer zierlichen rothaarigen Frau in Rock und Bluse und einem großen dunkelhaarigen Mann im Anzug, das sie einmal in Monicas Schreibtisch gefunden hatte. Als sie Monica danach gefragt hatte, bekam sie nur ein trauriges Kopfschütteln zur Antwort. Schon damals, ziemlich am Anfang ihrer Beziehung, hatte sie gelernt, dass man Monica nicht ausfragen durfte und dass sie manchmal komisch war. Einmal hatte sie Sarah, die zu einer Blutspende gegangen war, gefragt, ob ihr klar sei, dass man aufgrund der DNA in ihrem Blut ihren Aufenthaltsort jederzeit bestimmen konnte. Sarah hatte nicht verstanden, was sie ihr damit sagen wollte, und den Kommentar nicht weiter ernst genommen. Jetzt fragte sie sich, ob Monica aus Erfahrung sprach, ob sie sich vielleicht vor jemandem versteckte, möglicherweise vor diesem Mann, den sie auf dem Campus gesehen hatte. Sarah konnte sich keinen Reim darauf machen; sie wusste nur eines, dass sie wahnsinnige Angst davor hatte, die Frau, die sie liebte, zu verlieren. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie vor allem aus dem Grund akzeptiert, dass Monica ein Geheimnis aus ihrer Vergangenheit machte. Sie hatte ganz einfach befürchtet, sie könnte ihre Fragen zu anstrengend finden und ihnen durch eine Trennung ausweichen. Sarah wusste, sie konnte diese wunderbare Frau nicht aufgeben, denn sie konnte spüren, dass sie zusammengehörten. Sie lachte ironisch. Monica war diejenige, die manchmal eine beinahe unheimliche Gabe hatte, Dinge zu ahnen und die Gefühle Anderer zu spüren, während sie selbst bloß die durchschnittliche Empathie eines Menschen besaß, der viel mit Kindern arbeitete. Woher also wollte sie wissen, was sein sollte? Wer sagte ihr, dass es ihr und Monica bestimmt war, ein Paar zu sein? Was, wenn Monica in Wahrheit zu jemand anderem gehörte, vielleicht sogar zu diesem Mann? Konnte es sein, dass ihre Freundin alles nur gespielt hatte? Konnten die letzten beiden Jahre voller Nähe und Liebe eine Farce gewesen sein, die es Monica ermöglichte, sich bequem zu verstecken, vor wem auch immer? Sarah fühlte Tränen in ihren Augen aufsteigen, und sie zwang sich, an etwas anderes zu denken. Sie konnte und wollte nicht glauben, dass Monica sie nur benutzt hatte. Dazu war die gemeinsame Zeit zu intensiv gewesen und Monica am Anfang zu unsicher. Es war absolut unmöglich, dass sie all die Gefühle nur gespielt hatte. Oder etwa nicht? Warum hatte sie nie über ihre Vergangenheit gesprochen? Warum hatte sie den seltsamen Mann nie erwähnt oder das Paar auf dem Foto? Warum? Sarah spürte erneut die Tränen aufsteigen und stellte erleichtert fest, dass gerade kein Patient im Zimmer war. Sie wischte sich die Augen mit dem Ärmel ihres Kittels und versuchte, die Fassung wiederzugewinnen, als es leise an der halb geöffneten Tür klopfte. Ihre Sprechstundenhilfe steckte den Kopf herein und sagte: „Hier ist ein Mann, der Sie sprechen möchte, Doc. Er sagt, es sei wichtig und will sich nicht wegschicken lassen. Soweit ich ihn verstanden habe, kennt er Sie. Es muss was Privates sein, denn er hat kein Kind dabei. Soll ich ihn abwimmeln?“ Dann bemerkte sie Sarahs feuchte Augen und fragte erschrocken: „Ist was passiert? Ich komme ungelegen, tut mir leid, aber der Kerl wollte sich nicht verscheuchen lassen, und irgendwie ist er mir unheimlich. Er sitzt im Wartezimmer und starrt die Kinder an, dass es den meisten Müttern unangenehm wird. Deshalb dachte ich, wir sollten ihn so schnell wie möglich loswerden.“ Sarah nickte und warf einen schnellen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken um sich zu vergewissern, dass ihre Augen nicht rot waren. „Es ist okay, Nancy. Schicken Sie ihn mir rein, mal sehen, was er will. Und wenn er in 10 Minuten nicht wieder geht, kommen Sie rein, ja?“
„Okay, Doc.“ Nancy verschwand, und keine Minute später stand der Mann vom Campus in Sarahs Sprechzimmer. Die Ärztin sah ihn scharf an. „Was wollen Sie hier?“, erkundigte sie sich ungehalten. Im ersten Moment schien ihr Gegenüber ebenso überrascht zu sein wie sie, dann fasste er sich jedoch und knurrte: „Das hätte ich mir gleich denken sollen. Sie haben mich belogen.“
Fassungslos funkelte Sarah ihn an. „Was meinen Sie, ich habe Sie belogen? Und was zum Teufel machen Sie in meiner Praxis?“
„Sie haben gesagt, Sie kennen Monica nicht. Aber der erste, dem ich in der Stadt ihr Bild gezeigt habe, wusste, dass sie mit einer gewissen Sarah Carlton, Kinderärztin, befreundet ist, und hat mir freundlicherweise gleich den Weg zu Ihrer Praxis gezeigt. Haben Sie geglaubt, Sie könnten mich ewig hinters Licht führen? Oder haben Sie gedacht, der dumme Kerl von außerhalb wird schon beizeiten wieder verschwinden? Aber da haben Sie sich geirrt. Ich verlasse diese Stadt nicht, bevor ich mit Monica geredet habe!“
„Und was ist, wenn sie nicht mit Ihnen reden will?“, fauchte Sarah. „Wer gibt Ihnen eigentlich das Recht, hier einfach so aufzukreuzen und meinen Patienten Angst zu machen? Denken Sie, nur weil Sie mich einzuschüchtern versuchen, würde ich Ihnen mehr sagen als ich weiß?“
„Sie wissen haargenau, wo sie wohnt. Verstehen Sie, ich muss sie finden. Es ist verdammt wichtig für mich.“ Und für mich ist es wichtig, dass er sie nicht findet, dachte Sarah traurig. Sie konnte irgendwie fühlen, dass dieser Mann ihr Monica wegnehmen würde, sobald er auch nur in ihre Nähe kam. Leider war ihr auch klar, das sie es nicht verhindern konnte. Denn wenn er wusste, wo sie arbeitete, konnte er auch leicht ihre Wohnung ausfindig machen, und dort würde er unweigerlich auf Monica treffen. In einem verzweifelten Versuch, das Unvermeidbare doch noch abzuwenden, fuhr Sarah den Mann wieder an: „Sie haben mir noch immer nicht gesagt, was zum Teufel Sie eigentlich von ihr wollen! Und wer gibt Ihnen das Recht, hier hereinzuplatzen und mich der Lüge zu bezichtigen?“
„Sie haben mich doch belogen, oder etwa nicht?“, konterte er. „Sie behaupten, sie nicht zu kennen, dabei sind Sie mit ihr befreundet. Verkaufen Sie mich nicht für dumm, okay? Und warum ich mit Monica reden will, geht Sie gar nichts an.“
„Und genau deshalb werde ich Ihnen nicht erzählen, wo Sie sie finden. Ich denke nicht, dass sie mit Ihnen reden will. Sonst hätte sie sich sicher bei Ihnen gemeldet, glauben Sie nicht auch?“ Sie wusste selbst, dass sie sich wiederholte. Dieser Streit war nur ein letztes Aufbegehren gegen den schrecklichen Verlust, der sich anbahnte. Den Verlust der einen Frau, die sie in ihrem bisherigen Leben geliebt hatte, und die sie am liebsten für den Rest ihrer Tage weiterlieben wollte. Aber damit war es jetzt wohl vorbei.
Offenbar erkannte der Mann, dass er mir seinem Zorn nichts aus Sarah herausbekommen würde, denn er atmete ein paarmal tief durch und fuhr dann ruhiger fort: „In Ordnung. Wir wissen beide, dass ich Monica früher oder später finden werde, ob mit oder ohne Ihrer Hilfe. Es wäre mir allerdings lieber, wenn Sie mir helfen würden. Deshalb schlage ich vor, wir gehen zusammen irgendwo etwas essen, und ich erzähle Ihnen, woher Monica und ich uns kennen, wie wir uns verloren haben und warum es mir so wichtig ist, sie zu finden. Danach können Sie sich immer noch entscheiden, ob Sie mir helfen oder mich meiner Wege schicken, die mich letztendlich doch zu Monica führen werden. Einverstanden?“
Sarah nickte ergeben. Sie spürte, er würde nicht locker lassen, und ihr war es lieber, seine Geschichte zu hören und anschließend zu urteilen oder sogar mit Monica darüber sprechen zu können, als ständig in der Angst zu leben, heute könnte der Tag sein, an dem er aus heiterem Himmel bei ihnen zu Hause auftauchte und alles zerstörte. Nein, es war auf jeden Fall besser, selbst ein gewisses Maß an Kontrolle zu behalten, anstatt sich einfach vom Strom der Ereignisse mitreißen lassen zu müssen.
Eine halbe Stunde später saßen sie sich in einem kleinen Café gegenüber der Praxis, das in der Mittagszeit auch Sandwiches und Salate für Berufstätige verkaufte. Der Mann schien keine Probleme mit dem Essen zu haben, während Sarah nur lustlos in ihrem Salat herumstocherte und darauf wartete, dass er die Bombe platzen ließ. Schließlich hatte er sein Sandwich aufgegessen und schaute sie mit einem Blick an, der in ihr den Verdacht aufkeimen ließ, seine Geduld sei nur eine Taktik, um sie noch nervöser zu machen. Sie zwang sich zumindest äußerlich zur Ruhe. „Also?“, erkundigte sie sich. „Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, in 30 Minuten muss ich wieder in der Praxis sein.“
„Dann sollten Sie vielleicht Ihren Salat essen“, schlug er vor. Sarah schüttelte den Kopf. Ohne auf ihre Weigerung einzugehen, begann der Mann zu erzählen: „Zuerst sollte ich Ihnen wahrscheinlich verraten, wer ich eigentlich bin. Mein Name ist John Doggett, und ich habe einmal fürs FBI gearbeitet.“ Das ließ Sarah aufhorchen. War er etwa hinter Monica her, weil diese ein Verbrechen begangen hatte? Sie verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Nein, das passte nicht zu Monica. Sie gehörte zu den Menschen, die für ihre Taten einstanden, und wenn sie wegen irgend etwas gesucht würde, wäre sie nicht weggelaufen. Mr. Doggett schien ihre rasenden Gedanken nicht zu bemerken, denn er fuhr ungerührt fort: „Ich habe Ihnen das bei unserer ersten Begegnung verschwiegen, weil ich nicht wollte, dass es publik wird. In einer kleinen Stadt wie dieser sprechen sich solche Dinge schnell herum. Außerdem bin ich seit Jahren nicht mehr beim FBI. Monica Reyes war meine Partnerin.“
„Reyes? Ist das ihr richtiger Name?“, wollte Sarah wissen. In ihrer Angst, Monica zu verlieren, mischte sich allmählich auch eine gewisse Neugier. Würde sie jetzt endlich mehr über die geheimnisvolle Vergangenheit ihrer Freundin erfahren?
„Yep, das ist er“, erwiderte Doggett. „Wie nennt sie sich bei Ihnen?“
„Monica Jacobs.“ Die Antwort kam zögernd, denn es widerstrebte Sarah, diesem Fremden gegenüber etwas über ihre Monica preiszugeben; es war so, als gehöre diese Monica nicht in seine Welt, als könne und müsse sie vor ihm beschützt werden.
„Jacobs... Der Name sagt mir nichts. Keine Ahnung, wieso sie ausgerechnet den gewählt hat. Jedenfalls waren wir Partner in einer Division des FBI, die sich mit unerklärlichen Phänomenen auseinandersetzte.“
„Kriminologie und Okkultismus...“ Er überging Sarahs gemurmelte Worte, als bedeuteten sie ihm nichts, und fuhr fort: „Vor uns arbeitete ein anderes Agentenpaar an diesen Fällen, die sich um angebliche UFO-Sichtungen und Ähnliches drehten. Einer dieser Agenten verschwand unter mysteriösen Umständen, und ich wurde seiner Partnerin mit dem Auftrag zugeteilt, ihn zu finden. Das gelang uns schließlich auch, doch dann musste meine Partnerin in Mutterschaftsurlaub, und ich holte Monica in die Abteilung. Wir kannten uns von früher, also malte ich mir aus, dass wir gute Partner sein würden. Gemeinsam mit meiner ehemaligen Partnerin kamen wir allmählich einem Komplott auf Regierungsebene auf die Spur, dem auch die Entführung unseres Kollegen zuzurechnen war. Um ihn endgültig mundtot zu machen, wollte man ihn umbringen, also beschlossen wir, ihm und seiner Partnerin zur Flucht zu verhelfen. Da die beiden schon seit geraumer Zeit auch privat Partner waren, flohen sie zusammen; dabei ging jedoch etwas schief, und auch Monica und ich mussten um unser Leben fürchten. Wir beschlossen, für eine Weile unterzutauchen, bis sich die Aufregung gelegt hatte und die Gefahr für uns vorbei war. Ungefähr einen Monat lang hielten wir uns gemeinsam versteckt, aber dann bin ich eines Morgens aufgewacht und musste feststellen, dass Monica verschwunden war. Zuerst glaubte ich, ihr sei etwas zugestoßen, bis ich eine Nachricht erhielt. Sie schrieb, zu zweit sei unsere Flucht ein größeres Risiko, und sie sei mehr als ich an der Fluchthilfe unserer Kollegen beteiligt gewesen. Deshalb hätte ich auch nichts zu befürchten; ich solle nach Washington zurückkehren und die ganze Schuld auf sie schieben, damit ich wieder in meinen Job zurückkehren könne. Das kam natürlich nicht in Frage. Ich kehrte zwar zurück, habe aber mit niemandem darüber gesprochen, was passiert ist. Seitdem arbeite ich nicht mehr für das FBI; ich könnte es auch nicht mehr nach dem, was ich alles gesehen und erlebt habe. Aber ich habe nie aufgehört, nach Monica zu suchen. Verstehen Sie, wir kannten uns seit vielen Jahren und waren sehr gute Freunde. Sie hat mir durch schwere Zeiten geholfen, und ich bin es ihr schuldig, sie zu finden und ihr zu sagen, dass sie wieder als Agentin arbeiten kann, da man offiziell annimmt, sie sei von den beiden flüchtigen Agenten als Geisel genommen worden. Abgesehen davon habe ich aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und weiß jetzt, dass ich mein Leben mit ihr verbringen will. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als so lange zu suchen, bis ich ihr das sagen kann.“ Mehr sagte er nicht, und auch Sarah schwieg. Das hätte sie niemals vermutet: Monica war beim FBI gewesen und hatte Leben und Karriere aufs Spiel gesetzt, um ihren Freunden zu helfen. Das passte zu ihr. Irgendwie hatte Sarah keine Zweifel, dass dieser Mann die Wahrheit sprach. Das bedeutete jedoch auch, dass er und Monica einander sehr nah gewesen waren. Wie nah? Waren sie ein Paar gewesen? Hatte Monica ihn geliebt? Liebte sie ihn etwa noch immer? Hastig schob Sarah diesen Gedanken beiseite. Sie musste jetzt einen klaren Kopf bewahren. Nach dem, was sie gehört hatte, konnte sie sich unmöglich weigern, John Doggett zu sagen, was er wissen wollte. Sie konnte sich ihm nicht in den Weg stellen. Innerlich ihr viel zu altruistisches Herz verfluchend, öffnete sie den Mund. Sie musste mehrmals zum Sprechen ansetzen, bis sie den Kloß in ihrem Hals heruntergeschluckt hatte; dann sagte sie sehr leise: „Ich verstehe, warum Sie sie unbedingt sehen wollen. Andererseits bin ich mir noch immer nicht sicher, ob sie auch mit Ihnen sprechen möchte.“ Hör auf, dir was vorzumachen, riet ihre innere Stimme scharf. Es ist doch klar, dass sie ihn wiedersehen will. Er bedeutet ihr so viel, dass sie ihn verlassen hat, damit er sein Leben weiterleben kann wie zuvor. Und jetzt bekommt sie die Chance, zu ihm und ihrem alten Leben zurückzukehren. Was sollte sie daran hindern, sie zu ergreifen? Du etwa? Was hat sie hier schon? Einen Job an einer winzigen Uni, einen falschen Namen, keinen Kontakt zu ihren Freunden und ihrer Familie. Es gibt nichts, was sie hier hält. Sie wird euphorisch sein, den Mann zu treffen, der ihr diese erfreuliche Botschaft überbringt. Mühsam die Tränen unterdrückend, die aus ihren Augen quellen wollten, zwang sich Sarah, weiterzusprechen: „Ich halte es nicht für sinnvoll, wenn Sie einfach aus heiterem Himmel auftauchen und Monica konfrontieren. Daher würde ich Ihnen vorschlagen, Sie lassen mich zuerst mit ihr sprechen und sie auf Ihr Kommen vorbereiten. So kann sie entscheiden, ob sie sich mit Ihnen trifft, und der Schock ist nicht so groß.“
Doggett sah sie zweifelnd an. „Das würden Sie tun? Warum sind Sie plötzlich so hilfsbereit, nachdem Sie vorher alles daran gesetzt haben, mich von ihr fernzuhalten? Wieso sollte ich Ihnen trauen?“
„Erstens habe ich keine andere Wahl, als ehrlich zu Ihnen zu sein, denn wie Sie schon sehr richtig bemerkt haben, werden Sie Monica früher oder später sowieso finden; so groß ist diese Stadt nun auch wieder nicht. Außerdem möchte ich ihr den Schock ersparen, nach so vielen Jahren einem Menschen gegenüberzustehen, von dem sie denkt, sie würde ihn nie wiedersehen. Ob Sie mir das nun glauben oder nicht, ich möchte für sie nur das beste, denn ich bin ihre Freundin, und sie bedeutet mir sehr viel.“ Sarah musste an sich halten, um nicht mehr zu sagen, denn sie hielt es für besser, Monicas Kollegen nicht die wahre Natur ihrer Beziehung zu verraten. Dazu hatte sie nicht das Recht; Monica würde selbst entscheiden müssen, ob sie es ihm sagte oder nicht. Insgeheim fragte sie sich, ob sie ihr damit den Weg für eine Beziehung mit diesem Mann ebnete, und sie kämpfte erneut mit den Tränen, denn inzwischen zweifelte sie nicht mehr daran, dass sie am Ende allein dastehen würde, mit nichts als Erinnerungen und Traurigkeit. Sie schluckte ihre Tränen hinunter und schlug vor: „Sie lassen mir Zeit, heute Abend mit Monica zu sprechen, und ich rufe Sie dann an. Oder sie tut es, wenn sie sich bereit erklärt, mit Ihnen zu reden. Sollte sich niemand bei Ihnen melden, bin ich sicher, Sie werden wieder in meine Praxis platzen und mich dort belästigen. Und weil ich das verhindern möchte, werde ich dafür sorgen, dass Sie Bescheid bekommen. In Ordnung?“
Doggett nickte zögernd. „Sie haben recht. Ich werde um Monicas willen warten. Aber wenn ich in zwei Tagen nichts von Ihnen gehört habe, komme ich wieder.“ Ohne eine Antwort abzuwarten legte er einige Geldscheine und eine Visitenkarte auf den Tisch, stand auf und verschwand ohne ein weiteres Wort aus dem Café. Sarah starrte ihm nach. Als sie sich Minuten später wieder weit genug in der Gewalt hatte um zu realisieren, dass es Zeit wurde, wieder in die Praxis zu gehen, bemerkte sie mit einem Anflug von wütendem Trotz, dass er auch für ihren unangerührten Salat bezahlt hatte. Wie in Trance stand sie auf, steckte seine Karte ein, ohne einen Blick darauf zu werfen, und machte sich auf den Rückweg. Dabei fragte sie sich die ganze Zeit, was sie Monica sagen sollte, wenn sie sich am Abend sahen.