World of X

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Gloria victis

von Sonja K

Kapitel 1

Scully öffnete die Tür, die ihr Hotelzimmer mit dem von Mulder verband. Erst zögerte sie einen Moment, unschlüssig, ob sie wirklich hineingehen sollte. Mulder hatte ihr doch mehr als deutlich zu verstehen gegeben was er wollte, oder genauer, was er nicht wollte: Sie.
Scully straffte die Schultern und trat entschlossen über die Schwelle. Nein, so leicht würde er ihr nicht davonkommen. Sie hatte den ersten Schritt getan und sich entschieden, und auch wenn sie den Eindruck gehabt hatte, dass er ihre Gefühle erwiderte, war es doch ein Risiko gewesen, und das hatte sie gewusst. Jetzt sah es so aus, als sei alles schiefgelaufen, und wenn sie ehrlich war, brachte sie die Enttäuschung darüber fast um den Verstand. Gut, es war medizinisch unmöglich, dass das menschliche Herz aufgrund von Zurückweisung und Liebeskummer brach, aber jetzt gerade fühlte es sich verdächtig danach an.
Trotzdem! Sie war eine starke Frau, und sie würde sich nicht in ihrem Bett verkriechen und leiden, ohne den Grund zu erfahren, egal wie gerne sie es auch getan hätte. Aber sie würde erst eine Antwort bekommen. Das war auch notwendig, wenn sie wenigstens ihre Freundschaft mit Mulder retten wollte. Mit diesem Gedanken blickte sie auf, bereit, Mulder gegenüberzutreten.

Er sah sie nicht einmal an. Mulder saß mit dem Rücken zur Tür am Tisch, den Laptop vor sich, und spielte ein Computerspiel. Das war absolut untypisch für ihn, denn gewöhnlich verabscheute er Computerspiele, besonders diese stumpfen Kartenspiele, aber heute brauchte er eine Ablenkung ...
"Tut mir leid, Fox ... Sie mögen einen lieber, wenn man einen Freund hat, aber ich habe festgestellt, dass es fürs Ansehen wesentlich besser ist, keinen Freund zu haben als dich. Hast du wirklich gedacht, dass irgend jemand freiwillig mit dir zusammen ist?"
Immer wieder hörte er in seinem Kopf die Worte von Lisa, seiner ersten großen Liebe, die mit ihm zur Schule gegangen war. Damals hatte es weh getan, sehr sogar, und doch hatte er es im Laufe der Jahre vergessen. Bis heute. Scully war zu ihm gekommen und hatte ihm gesagt, dass sie ihn liebe, und obwohl es das war, wovon er seit Jahren geträumt hatte, was er sich in langen, schlaflosen Nächten in den verschiedensten Szenarien ausgemalt hatte, hatte er sie vor den Kopf gestoßen. Gut, es war nicht die romantische Szene gewesen, von der er geträumt hatte, aber das war egal, solange es nur Scully war. Es machte nichts, dass sie einfach zu ihm gekommen war und gesagt hatte, sie müsse mit ihm reden. Sie hatte es ihm gesagt, ohne zu stottern und ohne rot zu werden, offen und geradeheraus, wie sie immer mit ihm sprach, und doch hatte sie ihm dieses Mal ihr Herz geöffnet. Und er hatte sie zurückgewiesen, auch wenn er nichts lieber getan hätte, als vor Glück über das ganze Gesicht zu strahlen. Allmählich ging ihm auf, warum er ihr nicht hatte sagen können, dass er ebenso fühlte wie sie. Dieses Problem hatte er nie zuvor gehabt, und er begann zu ahnen, dass es daran lag, dass er für keine Frau je so viel empfunden hatte wie für Scully. Jeder seiner früheren Freundinnen hatte er misstrauisch gegenübergestanden, außer Lisa und Scully. Lisa hatte ihm in gewisser Weise die Unschuld genommen, ohne Angst in eine Beziehung zu gehen, und Scully vertraute er mit seinem Körper und seiner Seele, sogar mit seinem Leben. Aber konnte er ihr auch sein Herz anvertrauen? Obwohl der fragliche Teil von ihm laut "Ja" zu schreien schien, konnte er ein Gefühl der Panik nicht abschütteln. Lisa war damals genauso offen auf ihn zugekommen, und sie hatte aus Berechnung gehandelt und ihn genauso schnell wieder fallen lassen, wie sie ihn sich "geangelt" hatte. Die Erkenntnis, dass ihm seither keine andere Frau mehr so viel bedeutet hatte wie seine erste Liebe machte ihn wütend. Diese Lisa hatte sein Vertrauen in die Liebe mit Füßen getreten und ihn dazu gebracht, ein jämmerlicher Feigling zu werden, der die Frau leiden ließ, die er liebte, seine liebevolle, ehrliche, großzügige, selbstbewusste Scully. Er hatte gehört, wie sie ins Zimmer gekommen war, konnte sich aber nicht dazu überwinden, sich zu ihr umzudrehen, da er sich vor dem Zorn in ihrem Blick fürchtete. Und natürlich würde sie wütend sein. Wer konnte es ihr verdenken?

Schließlich, nach einer, wie es beiden schien, halben Ewigkeit, hob Mulder den Kopf und sah seine Partnerin schüchtern an. In ihren Augen stand kein Zorn, nur Enttäuschung und Unsicherheit, und Mulder erkannte, dass es nicht Selbstbewusstsein war, das sie dazu getrieben hatte, ihm ihre Gefühle zu gestehen, sondern pure Verzweiflung. Sie hatte einfach nicht so weiterleben können, ein Gefühl, dass Mulder nur zu gut kannte. Wie oft hatte er schon geglaubt ersticken zu müssen, wenn er ihr nicht sofort sagte, was er für sie empfand? Etwas hatte ihn immer wieder im letzten Moment daran gehindert, Feigheit, wie er vermutete. Nicht so Scully. Sie hatte ihre Angst überwunden, hatte den Schritt auf ihn zu getan, und was war der Dank? Er verletzte sie, bereitete ihr den Kummer, den er jetzt in ihren Augen lesen konnte, und ließ sie glauben, sie sei die einzige, die so fühlte.

"Scully, es tut mir leid", begann er. "Ich ..."

"Nein, lassen Sie mich zuerst", bat sie, nicht gewillt, sich seine Meinung zu dem anzuhören, was passiert war, bevor sie nicht wenigstens den Versuch gemacht hatte, ihre Freundschaft zu retten.

"Ich weiß, dass ich das, was ich zu Ihnen gesagt habe, nie hätte sagen dürfen. Ich meine, wer von uns beiden zitiert denn immer die Vorschriften? Ich hätte wissen müssen, dass Sie nicht dasselbe fühlen wie ich und hätte es das bleiben lassen müssen, was es nun einmal ist: Mein Problem. Tatsache ist, ich habe es nicht getan, weil ich es einfach nicht mehr ausgehalten habe. Bitte, vergessen Sie das Ganze und versuchen Sie, mich jetzt nicht zu hassen. Ich verspreche, ich werde es nie mehr ansprechen."

"Das wäre das Letzte, was ich will."

Mulders leise Worte ließen sie aufschauen. Sie wagte es endlich, ihm in die Augen zu sehen und war überrascht von dem, was sie dort sah: Unsicherheit, Furcht und eine gewisse Schüchternheit, die sie nie bei ihrem Partner vermutet hätte. Sie hatte ihn immer als einen Mann eingeschätzt, den nichts, was eine Frau tat, aus der Bahn werfen konnte. Sie fragte sich, ob sein Bild von ihr sich heute ebenso radikal verändert hatte wie ihres so eben von ihm. Ob er heute wohl noch etwas sagen würde, oder wollte er den einen Satz, der eine unsinnige Hoffnung in ihr geweckt hatte, einfach so stehen lassen und von ihr erwarten, dass sie las, was er ihr damit sagen wollte? Als das Schweigen unbehaglich zu werden drohte - etwas, das zwischen ihnen noch nie vorgekommen war - fasste Mulder Scully am Arm und führte sie zum Bett. "Ich muss Ihnen was sagen", begann er, und Scully fühlte sich auf seltsame Weise an ihren ersten Fall erinnert, als Mulder ihr von seiner Schwester und seiner Suche berichten hatte. Auch damals hatte er sie gebeten, sich aufs Bett zu setzen, und es sah ganz so aus, als erwarte sie heute eine weitere Hiobsbotschaft. Sie setzte sich unbehaglich auf die Bettkante und wartete ab.

"Scully, zuerst muss ich Ihnen sagen wie leid es mir tut, dass ich Sie verletzt habe. Sie hatten den Mut das zu tun, wozu ich seit Jahren zu feige war, und ich habe Sie im Ungewissen gelassen. Ich hätte Ihnen schon längst sagen sollen, dass ich Sie liebe, aber das konnte ich einfach nicht tun. Ich sollte es besser wissen, aber ich hatte Angst, dass Sie mit mir spielen und sich über meine Gefühlt lustig machen würden. Das Letzte, was ich mir wünsche, ist ein gebrochenes Herz."

Scully sagte sich, dass ein gebrochenes Herz auch das Letzte war, was Mulder brauchen konnte, und sie streckte die Hand nach ihm aus, um ihn zu versichern, dass das niemals passieren würde, aber Mulder trat einen Schritt von ihr weg.

"Lass es mich erst erzählen", bat er. "Ich glaube, das bin ich dir schuldig." Scully nickte und schwieg, wartete darauf, dass er bereit wäre das zu sagen, was er sagen musste. Dankbar für ihr Verständnis fuhr Mulder fort, erzählte ihr die Geschichte seiner ersten Liebe und wie er seitdem nie wieder einer Frau ein solches Vertrauen entgegengebracht hatte. Bis jetzt.
"Wahrscheinlich ist es total albern von mir, alles auf Lisa zu schieben und vermutlich versuche ich nur, damit meine Beziehungsunfähigkeit zu begründen, aber es fällt mir schwer zu glauben, dass sich jemand nur um meiner selbst willen für mich interessiert. Und ich hoffe, dass ich nicht alles verdorben habe, auch wenn ich mich zugegebenermaßen wie ein Idiot aufgeführt habe."

Scully spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten. Sie hatte gewusst, dass Mulder ein schweres Leben gehabt hatte, aber dass nicht einmal seine erste Liebe einigermaßen glücklich gewesen war, machte es ihr aufs Neue deutlich, wie wenig Gutes er erlebt hatte. ‚Er verdient so viel mehr‘, dachte sie, und sie wusste, wenn sie ihm auch nie all das ersetzen konnte, was er verloren hatte, so konnte sie doch wenigstens eins für ihn tun: Sie konnte und würde ihm das Gefühl geben, wenigstens einmal in seinem Leben ehrlich und ohne Hintergedanken geliebt zu werden. Auch wenn sie nicht Psychologie studiert hatte war ihr klar, dass Lisa ein Symbol für jedes Mal war, wenn Mulders zerbrechliches Vertrauen gebrochen wurde, und sie nahm sich vor, keine weitere Lisa für ihn zu sein. Langsam stand sie vom Bett auf und trat zu Mulder, der sie nicht ansah. Sie nahm seine Hand und drückte sie leicht, bevor sie sprach: "Egal was du erlebt hast, es ist vorbei. Ich weiß, dass es schwer ist, aber du kannst mir vertrauen. Bitte, vertrau mir dein Herz an."

Es dauerte einen Moment, bis Mulder den Druck ihrer Finger erwiderte, und Scully erkannte, dass es eine Weile dauern würde, bis er es wusste, aber sie würde ihn überzeugen, ihr auch diesen verletzten Teil seiner selbst anzuvertrauen, damit sie ihm helfen konnte.

"Das habe ich schon lange getan", unterbrach Mulder schließlich ihre Gedanken und nahm auch ihre andere Hand. "Aber ich kann nicht versprechen, dass ich es dir immer zeige. Es ist ein ziemlich hoffnungsloser Fall, auf den du dich da einlässt."

Scully sah zu ihm auf und schenkte ihm eines ihrer seltensten Lächeln, das wirklich fröhliche. "Hey, ich arbeite seit Jahren nur an hoffnungslosen Fällen, und wir haben sie noch jedes Mal gelöst."
**********
Scully sah auf ihre Armbanduhr, die auf dem Nachttisch lag. 7.30 Uhr. Sie hatte definitiv verschlafen, und wenn sie noch pünktlich zu dem Treffen mit Sheriff Werber in einer Stunde kommen wollte, musste sie SOFORT aufstehen und sich fertigmachen. Mulder würde sich erst gegen Mittag mit ihr in der Polizeistation treffen, nachdem er um 11.00 Uhr mit einigen Zeugen gesprochen hatte. ‚Er hat das fotografische Gedächtnis, und ich erinnere mich an seine Termine‘, dachte sie ein wenig amüsiert und wollte gerade unter der Decke hervorkriechen als ihr bewusst wurde, dass sie nicht allein war. Neben ihr, wie ein Baby zusammengerollt und an sie gekuschelt, schlief Mulder. Jetzt fielen ihr auch die Ereignisse von gestern wieder ein: Nachdem sie und Mulder sich ausgesprochen hatten, waren sie zum Abendessen gegangen, und anschließend hatte sie gefragt, ob Mulder nicht bei ihr schlafen wolle. Zuerst hatte er ziemlich erschreckt ausgesehen, aber nachdem sie ihm erklärt hatte, dass sie ihm keinesfalls ein "unmoralisches Angebot" mache, sondern einfach nur fähig sein wolle, am Morgen aufzuwachen und zu wissen, dass nicht alles nur ein Traum gewesen war, hatte er schließlich zugestimmt und sie tatsächlich die ganze Zeit über festgehalten, bis sie eingeschlafen waren. Und er schlief immer noch. Sie überlegte, dass sie ihm einen Wecker stellen könnte, damit er nicht auch verschlief, entschied sich dann aber dagegen. Er hatte zwar jede Minute an Schlaf nötig, die er bekommen konnte, aber was wäre, wenn er aufwachte und sie nicht mehr da war? Würde er dann nicht glauben, dass er alles nur geträumt hatte? Das konnte sie ihm nicht antun, also stupste sie vorsichtig seine Nase mit dem Zeigefinger an. Sofort war Mulder wach. Noch ziemlich verschlafen blinzelte er ihr entgegen, und als er sie erkannte, nahm sein Gesicht den besorgten Ausdruck an, den er immer zeigte wenn er befürchtete, dass es ihr nicht gut ging.

"Alles okay mit ... dir?", erkundigte er sich, und Scully musste lächeln. So ganz traute er der Tatsache nicht, sie im Pyjama auf seinem Bettrand - ihrem Bettrand - sitzen zu sehen, während er im Bett lag.

"Ja, es geht mir gut, abgesehen davon, dass ich verschlafen habe und mich jetzt wirklich beeilen muss, wenn ich den Sheriff nicht versetzen will. Ich wollte nur nicht, dass du nachher aufwachst und denkst, alles sei nur ein Traum gewesen. Außerdem werde ich keinen Fuß aus diesem Zimmer setzen, ohne einen ordentlichen Abschiedskuss."

An dem Aufleuchten eines breiten Lächelns auf Mulders Gesicht erkannte sie, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Sie hatte ihm zum ersten Mal bewiesen, dass auch ihre neue Beziehung auf Vertrauen und Verständnis basierte, und egal wie lange es dauern würde, schließlich würde auch Mulder das begreifen. Sie würden zusammen sicher werden, so wie sie seit Jahren alles zusammen taten.


~ Finis ~
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