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Die verlorene Tochter

von PurityC

Kapitel 1

Korridore, Gänge. Zu viele. Zu viele, zu verworren, um sich zu orientieren. Schreie. Weinen.
„Mommy, Mommy ich habe Angst! Wo bist du?!"
Sie hatte Panik. Hörte die Rufe. Wollte da sein. Den Rufen einen Grund geben, zu stoppen. Wollte ihr helfen.
„Mommy! Wo bist du?! Mach, dass sie aufhören!"
Sie rannte durch die Korridore. Der flehenden Stimme folgend. Wollte sie erreichen, sie beruhigen. Sie hörte das Weinen, hörte das Schluchzen. Wollte die Klage beenden.
„Mommy!"
Sie rannte immer schneller, ihre Lungen schmerzten bei jedem Atemzug. Musste sie erreichen, sie retten. Die Schreie wurden lauter. Sie näherte sich ihrem Ziel. Als plötzlich die Rufe verebbten.
Sie bog um die nächstgelegene Ecke. Ein Raum. Ein kleiner Raum. Sie kümmerte sich nicht um das Inventar. Sie sah nur den kleinen, leblosen Körper auf dem Boden liegen.
Ihre Kehle schnürte sich zu. Ein kleines Kind. Ein Mädchen. Sie kannte es. Kannte sein halblanges, dunkelblondes Haar. Kannte seine Gestalt. Kannte seine azurblauen Augen, welche ihren wie kopiert glichen. EMILY.
Das ungefähr dreijährige, reglose Mädchen, das auf dem Boden lag, war Emily.
„Nein!", flüsterte sie. „Nein! Nein!", ihre Äußerung schwoll zu einem Schrei an, als...

„NEIN!"
Dana Scully saß senkrecht und durchgeschwitzt in ihrem Bett. Sie atmete schwer, wie kurz nach einer außerordentlichen, körperlichen Anstrengung. Sie starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Schwärze ihres Schlafzimmers. Sie schlug die Decken ihres Bettes zurück und stand auf. Dana tat einige wenige Schritte nach vorn, als sie das leicht verzögerte Auftreten eines Schwindelanfalls bemerkte und wusste, dass sie sich ohne eine Stütze nicht länger auf den Beinen halten konnte. Also lehnte sich Scully gegen den Türrahmen, entließ in einem einzigen Stoß alle Luft aus ihren Lungen und schloss die Augen.
Ihr Gesicht kam einer verzerrten Maske gleich. Sie hob eine Hand an ihre Stirn und presste sie stark dagegen, um die aufwallenden Tränen unendlicher Trauer in sich zu begraben.
Doch als sie realisierte, dass sie ganz allein war, und niemand sie würde sehen können, entließ sie den Schmerz auf die momentan einzig richtige Weise.
Sie weinte. Dana Scully weinte und schluchzte hemmungslos über ihren schweren Verlust. Sie hatte ihre einzige Tochter verloren. Für immer verloren.

Scully stieg die dunkle Treppe in den Keller des FBI-Hauptquartiers hinunter, geradewegs zur Tür des kleinen Büros, welches sie seit nun fast 6 Jahren mit Mulder teilte. Bevor sie eintrat, nahm sie einen tiefen Atemzug, nur um ihn gleich darauf wieder entfliehen zu lassen. Dann öffnete sie die Tür und trat ein.
Wie erwartet befand sich Mulder schon an seinem Schreibtisch. Er blickte auf, als er bemerkte dass Dana hereinkam. Sein Blick verweilte einen Moment auf dem Gesicht seiner Partnerin. Sie war blass, hatte leichte dunkle Ringe unter den Augen. Generell hatte sie schon die letzten beiden Tage, seit des erst kürzlich abgeschlossenen Falls, irgendwie krank ausgesehen.
Vor zwei Tagen waren beide noch in Austin / Indiana gewesen. Dort waren einige Kinder im Alter von 3 bis 4 Jahren verschwunden. Später stellte sich heraus, dass alle von einem Mann namens Leo Johnson entführt und kaltblütig ermordet worden waren.
Bevor sie den Fall angetreten hatten, hatte Mulder Dana gefragt, ob sie es sich zutrauen würde, und sie hatte wie so oft zuvor geantwortet, dass alles in bester Ordnung wäre. Obwohl beide wussten das sie log, waren sie nach Indiana geflogen.
„Morgen. - Ist alles OK?"
Scully schaute ihn an. Mist! Genau das hatte sie befürchtet. Vor ihm konnte sie so etwas nicht verbergen.
Sie war drauf und dran zu sagen: „Nein! Verdammt noch mal! Nichts ist in Ordnung. Ich habe meine Tochter verloren und, als ob das noch nicht genug wäre, finde ich sie jede Nacht in meinen Träumen erneut tot vor!"
Statt dessen antwortete sie mit möglichst gelassener Stimme: „ Alles bestens. Was soll nicht stimmen?"
Mulder ließ es dabei bewenden, da er wusste, dass er hier und jetzt nichts aus ihr heraus bekommen würde. Der Ort war einfach zu öffentlich.

Scully hatte geduscht und sich einen ihrer Satinschlafanzüge übergeworfen. Sie war mehr als müde - um nicht zu untertreiben - überaus groggy. Sie hatte die letzten paar Nächte kaum geschlafen, und gegessen hatte sie auch nur wenig. Ihr war einfach nicht danach gewesen.
Den ganzen Tag hatte sie zusammen mit Mulder im Kellerbüro gesessen und den überdimensionalen Stapel von angefallenem Papierkram des letzten Falles bearbeitet. Ab und zu hatte Dana die Präsenz eines besorgten Blickes ihres Partners auf sich spüren können. Doch er hatte keine weiteren anstößigen Kommentare geäußert.
Jetzt wollte sie nichts anderes mehr, als ins Bett fallen und schlafen. Aber sie war ängstlich. Würde sie wieder träumen? Es half nichts, sie benötigte den Schlaf. Also stieg sie in ihr Bett und driftete allmählich in die jenseitige, verhängnisvolle Traumwelt ab.

Mulder saß auf seiner Couch und grübelte. Grübelte über das seltsame Benehmen seiner Partnerin. Es war mehr als eine Ahnung, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Er war sich sogar sicher, dass sie etwas bedrückte. Die Art, wie sie sich innerlich immer wieder zur Ordnung rief, wie sie ständig versuchte, den Ausdruck von Emotionen auf ihrem Gesicht zu verbergen.
Er war unruhig, was würde sie gerade tun? Da blieben nicht viele Möglichkeiten. Höchstwahrscheinlich würde sie friedvoll in ihrem Bett liegen und schlafen. Doch was, wenn nicht? Was, wenn sie in einer Ecke ihres Apartments saß und sich aus irgendeinem Grund, der ihr den Schlaf raubte, die Seele aus dem Leib weinte und er nicht da war, um ihr beizustehen?
Es gab Möglichkeiten das in Erfahrung zu bringen... Seine Hand glitt hinüber zum Telefon. Fox wählte die erste Taste der Programmierungen und ließ den Apparat am anderen Ende klingeln. Die Glocke schellte und schellte. Aber niemand nahm ab, nicht einmal der Anrufbeantworter schaltete sich ein...

Dunkelheit. Gänge. Die selben Gänge wie in den Nächten zuvor. Schreie. Die selben Schreie wie in den Nächten zuvor. Der selbe Weg. Der Korridor. Der Raum. Das Mädchen. EMILY.
„Nein!", flüsterte sie. „Nein! Emily! Nein!..."

„Scully! Dana!" Mulder saß auf der Kante ihres Bettes und umgriff ihre Schultern. „Dana! Wachen Sie auf!"
„Nein!" Scully fuhr hoch und saß senkrecht in ihrem Bett, Mulders Unterarme umklammernd. Schwer atmend, mit weit aufgerissenen Augen. Er starrte sie an. Entsetzt über die Vorstellung, dass ein Horror existierte, welcher es vermochte, sie so aus der Fassung zu bringen. Als Dana bemerkte, wer da auf ihrem Bett saß und wessen Arme sie wie eine Kneifzange umspannt hielt, ließ sie sofort los und stand aus ihrem Bett auf. Sie fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht, atmete tief durch.
„Was tun Sie meinem Apartment? Es ist mitten in der Nacht." Scully schaute fragend durch die Finsternis zu Mulder hinüber.
„Sie haben sich heute etwas seltsam verhalten. Ich habe mir Gedanken gemacht, was Sie bedrücken könnte, und bei ihnen angerufen. Sie sind aber nicht ans Telefon gegangen, da habe ich mir Sorgen gemacht und bin hergefahren. Als Sie dann auch die Tür nicht geöffnet haben, ich Schreie gehört habe... packte ich meinen Schlüssel aus und stürmte ihre Wohnung."
Scully ging ins Wohnzimmer. Sie wollte und konnte Mulder jetzt nicht in die Augen sehen. Tränen brannten in den ihren. Sie blieb mit dem Rücken zu ihm stehen, ihre Schultern hingen schlaff nach unten
„Was ist los mit Ihnen Scully? So habe ich Sie selten gesehen."
Für einen Augenblick herrschte Stille. Sie hörten nur den gegenseitigen Atem. Dana wusste nicht, ob sie sprechen sollte. Wusste nicht, ob sie sich im Gespräch erleichtern sollte. Wollte es doch so sehr. Doch es war Mulder. Sie hatte nicht vor, verletzlich zu wirken. Aber eben auch WEIL es Mulder war konnte sie berichten. Ihren Sorgen ein Ventil verschaffen.
Als sie sich dann schließlich herumdrehte, war sie blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Er fand es erschreckend, wie krank sie wirkte. Fast so wie damals im Krankenhaus, als sie nur noch einen kleinen Schritt vom Tod entfernt gewesen war. Ihm graute davor, sie wieder so zu sehen.
„Ich habe Alpträume... Seit wir aus Indiana zurück sind, habe ich kaum ein Auge zugetan..." Dana sog geräuschvoll Luft in ihre Lungen. „Ich... ich finde sie", ihre Stimme begann zu beben. „Ich finde sie immer wieder..." Ihr Gesicht verzog sich zu einer Maske von Leid und Schmerz. Sie konnte die Tränen kaum noch zurückhalten. „Und immer wieder ist... ist sie tot." Einzelne Tränen rollten ihr über die Wangen. Dana starrte in unbekannte Weiten. „Immer ist sie tot, und ich kann nichts weiter tun."
„Wer? Wen finden Sie immer wieder?, fragte Mulder sanft.
Scully stand vor ihm, ihre Augenlieder begannen zu flattern. Und dann entwich es ihr in einem Flüstern: "Emily... Ich sehe sie wieder, immer und immer wieder." Nun fing sie an, ungehindert zu weinen, zu schluchzen. Mulder trat auf sie zu und schloss seine Arme um sie. Dana vergrub ihr Gesicht in seinem Shirt und entließ ihre Tränen in jenes.
„Immer und immer wieder!" Ihre Stimme klang gedämpft. „Ich konnte ihr nicht helfen!"
Fox ließ seine Hand auf ihrem Rücken auf und ab wandern. Er wog Scully einige Minuten in seinen Armen, bevor er sie etwas von sich schob, um ihr in die Augen zu sehen. Er platzierte je eine seiner großen weichen Hände auf einer ihrer porzellanglatten Wangen. Ihre Augen waren gerötet, brachten jedoch nur den Bruchteil eines unendlichen Schmerzes zum Ausdruck. Dies verletzte Mulder, denn immer, wenn seine Partnerin etwas schmerzte, ging es ihm mindestens genauso schlecht wie ihr. Für eine Augenblick verweilten beide, jeder von dem Blick des anderen gefangen. Er führte seine Mund zu ihrer Stirn, küsste sie. Dana schloss die Augen, denn seine Lippen waren wie Balsam auf ihrer Haut.
Fox hatte ihr bisher kein Wort des Trostes gespendet. Jedenfalls kein hörbares. Er beruhigte und tröstete lediglich durch seine Anwesenheit; seine behutsamen, respektvollen Berührungen und durch seinen Blick. Denn seine Augen sprachen Bände zu ihr. Mulder entriss den eigenen Blick Scullys, legte ihr einen Arm um die Schulter, dirigierte sie zu ihrem Bett. Dort angekommen schlug er die Laken zurück und setzte Dana darauf. Mulder kniete vor ihr auf dem Boden und schaute ihr besorgt durch den hineinfallenden Mondschein ins Antlitz.
„Geh nicht! Bitte, geh nicht!", bat sie mit schwacher, bebender Stimme, welche kaum lauter als ein Flüstern war.
Das wollte er doch auch gar nicht! Er wollte sie so auf keinen Fall zurücklassen. In ihrem Schmerz, ihrer Trauer. Also entledigte er sich seiner Jacke und stieg zu Scully ins Bett.
Fox legte seine Arme um Dana und zog sie schützend an sich, sodass ihr Kopf auf seiner Brust ruhen konnte. Sie fühlte sich geborgen, geborgen und sicher.
Als Mulder nach einer Weile auffiel, dass Scully ruhig und regelmäßig atmete, also schlief, fielen die Ängste zu einem großen Teil von ihm ab. Er würde für sie da sein, die Alpträume vertreiben. Ihr allen Schutz zu teil werden lassen den er aufbieten konnte.


Ende
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