World of X

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Boys don't cry

von Mareike

Kapitel 1

„Lasst mich raus!“
Sein Ruf war nicht mehr als ein heiseres Krächzen. Er hatte keine Hoffnung, dass ihn hier jemand hören würde, dass er jemals wieder die Sonne erblicken würde, jemals aus diesem dreckigen Loch herauskommen würde.
„Bitte!“
Wie lange hatte er niemanden mehr um etwas gebeten und jetzt hätte er alles dafür getan, alles, nur damit jemand den Schlüssel im Schloss herumdrehte und ihn nach draußen brachte. Er lehnte seinen Kopf auf seinen schmerzenden linken Arm. Es war sinnlos. Sie hatten ihn verraten. Verraten, wie er so viele Leute verraten hatte. Aber er war dabei noch auf seine Art fair geblieben. Er hatte niemanden lebendig begraben, in einem stinkenden Loch irgendwo, tief unter der Erde in North Dakota.

Er, Alex Krycek, hatte verloren. Es hatte nicht gut gehen können. Nicht so, wie er sich immer verhalten hatte. Er, Alex Krycek, der König, der Herr über Himmel und Erde, über Leben und Tod. War es nicht so, wie er sich immer gefühlt hatte? Er hatte gedacht, er könnte es auch alleine schaffen, hatte die Männer hinter sich gelassen, als deren Werkzeug er benutzt worden war. Es war immerhin besser, für seinen eigenen Kampf zu sterben als für den von jemand anderem. Immer noch besser, sich sein eigenes Grab zu schaufeln, als in das gelegt zu werden, das andere für einen gemacht haben. Und doch hatten sie jetzt gewonnen und er war sich sicher, dass dieser rauchende Hurensohn den Gedanken genoss, dass er hier eingesperrt war.

Alex drehte sich mit dem Rücken zur Tür und lehnte sich an. Seine Beine waren schwach und er hatte das Gefühl, dass seine Knie jeden Moment nachgeben konnten und er auf den Boden fallen würde. Er wusste nicht, ob er danach jemals wieder die Kraft haben würde, aufzustehen. Wie lange mochte er jetzt hier unten sein? Ein, zwei Stunden? Oder Tage? Sein Zeitgefühl hatte ihn völlig im Stich gelassen – aber Zeit war hier auch nicht weiter wichtig. Der Gedanke an Zeit brachte andere Gedanken mit sich: Essen, Trinken, Schlafen. Und Leben. Wenn man vor sich hinvegetiert, ist Zeit etwas, was man unbegrenzt zur Verfügung hat. Nein. Er wollte nicht mehr an die Zeit denken. Zeit war etwas, das bedeutete, dass man sie nutzen sollte. Und der Nutzen bestand nicht gerade darin, in einem Raketensilo in North Dakota auf sein Ende zu warten.
Hatte er jemals die Zeit wirklich genutzt, die ihm gegeben war? So genutzt, dass er sich noch heute sagen könnte, es wäre sinnvoll gewesen? Jetzt bedauerte er vieles von dem, was er getan hatte, doch es war zu spät. Wenn er noch einmal die Chance gehabt hätte, sich zu entscheiden, er wäre bestimmt nicht noch einmal auf die leeren Versprechungen dieser Männer hereingefallen.

Was wäre, wenn du nur noch zwei Wochen zu leben hättest, Alex?
Seine Schwester hatte ihm diese Frage so häufig gestellt und er hatte jedes Mal über sie gelacht. Sterben, das passierte nur den Anderen, das war nichts, worüber man sich Gedanken machen musste.
Und wenn doch?, hörte er beinahe ihre kindliche Stimme wieder fragen.
„Dann tue ich all das, was ich schon immer mal machen wollte“, hatte er ihr geantwortet und auch jetzt flüsterte er diese Worte leise in die Stille.
„Verdammt, ja, ich werde aus meinem Leben alles 'rausholen, was man noch 'rausholen kann!“

Ja, seine Schwester. Nur ein weiterer unter den Menschen, die er im Stich gelassen hatte... Sie war damals 5 gewesen. Ob sie sich überhaupt noch an ihn erinnerte? Vielleicht hätte er sich doch bei seiner Familie melden sollen, trotz der dadurch entstehenden Gefahren.
Er fragte sich, ob es überhaupt jemandem auffallen würde, dass er verschwunden war. Den Kontakt zu seiner Familie hatte er schon lange abgebrochen – wohl die einzigen Personen, die er nicht im Streit verlassen hatte oder vor denen er nun floh. Es war nur einfach nicht länger ertragbar gewesen, diese ständige Sorge, ob das Konsortium sich nicht an ihnen vergreifen würde, um ihn zu irgendetwas zu zwingen, das er nicht wollte. Wie sie ihn zu so viel gezwungen hatten, das er nicht wollte. Es war auf jeden Fall nicht gerade sein Jugendtraum gewesen, als Killer zu enden. Leute auszuspionieren, denen er vorgab, auf ihrer Seite zu arbeiten.
So wie Mulder und Scully. Hey, vielleicht würde denen ja auffallen, dass er verschwunden war. So in ein, zwei Jahren, wenn sie so lange nichts mehr von ihm gehört hatten. Er begann, sich zu fragen, ob sie sich freuen würden, zu hören, dass er tot war und wie er gestorben war.

Krycek, die Ratte, ist verreckt, wie es sich für eine Ratte gehört...

Er merkte, wie seine Füße nachgaben. Die Erde schien ihn nicht mehr tragen zu wollen. Wie in Zeitlupe rutschte er an der kalten Tür hinunter. Blieb auf dem Boden sitzen. Es änderte nichts daran, wie er hier starb. Ob im Stehen oder im Sitzen... alles war sowieso vergebens. Keine Hoffnung mehr.
Er spürte, wie Tränen in seinen Augen brannten. Nein, diesen letzten Triumph wollte er ihnen nicht gönnen, den Männern, die ihn hier eingesperrt hatten... Er kämpfte gegen das Gefühl an. Es war nicht seine Art, nicht sein Stil. Er, Alex Krycek, würde nicht um Vergebung betteln, nicht flehen und nicht weinen. Schon gar nicht weinen, wie ein Kleinkind, das seinen Willen nicht gekriegt hat. Wie ein Versager, der am Boden zerstört war.
Wie ein Versager... Aber was war er denn anderes? Was, wenn nicht ein totaler Verlierer?

Ihm wurde schlecht. Die Wände schienen näher zu kommen und ihn zu erdrücken. Seine Atmung wurde flacher und schneller. Nein, er wollte nicht sterben. Noch nicht jetzt. Es war noch zu früh. Viel zu früh. Es gab noch so viel, das er tun wollte, all die Pläne, die man als junger Mann hat – und die ihm wohl doch auf immer verwehrt bleiben würden. Aber er wusste, sollte er jemals – warum auch immer – hier herauskommen, er würde es diesen Männer heimzahlen. Er würde diesen Raucher töten. Nicht schnell und lautlos, wie er es bei seinen anderen Opfern getan hatte. Denn dieser Mord wäre anders. Er würde nicht aus Zwang geschehen. Es wäre vielmehr persönliche Genugtuung.

Der Gedanke an Rache gab ihm Kraft. Er wollte aufstehen. Seine Füße fanden auf dem glatten Boden kaum Halt, doch irgendwie schaffte er es, sich hinzustellen. Rache. Er würde es nicht zulassen, dass sie damit davon kämen...
Doch er wusste, es war sinnlos, wusste das noch in dem Moment, als er den Gedanken an Rache das erste Mal gedacht hatte. Er würde hier nicht mehr herauskommen. Die Welt würde sich ohne ihn weiterdrehen. Die Sonne würde weiterhin scheinen. Mulder und Scully würden weiterhin an ihren Fällen arbeiten und der Wahrheit dabei doch nie näher kommen als ein Falter, der eine Glühbirne umkreist, der Sonne.

Sonne... Was würde er darum geben, noch einmal auf einer sonnigen Wiese zu liegen... Der Gedanke an die Farben und die Wärme nahm ihm jede andere Empfindung. Was würde es bringen, den Krebskandidaten zu töten? Wenn er doch nur einen Weg in die Freiheit finden würde...

Matt schlug er gegen die Tür. Für einen stärkeren Schlag langte seine Kraft nicht mehr. Doch das machte keinen Unterschied, da die Geräusche sowieso in dem betonierten Flur verhallten, ohne von einem Menschen gehört zu werden.

„Lasst mich raus!“,
forderte er mit schwacher Stimme. Doch bereits zwanzig Meter weiter war die Stimme nur noch ein heiseres Flüstern, das wenige Meter später ganz erstarb.

ENDE
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