World of X

Das älteste Archiv für deutsche Akte-X Fanfiction

Vertigogo

von Martina

Kapitel 1

„Hab ich Ihnen schon gesagt, dass das hier einer Ihrer mit Abstand schlechtesten Ideen ist, Agent Scully?“, fragte Doggett seine Aggression versuchend zu verstecken. Er konnte nicht verstehen, wie sie das Risiko eingegangen war, dieses Zimmer aufzubrechen, obwohl absolut klar war, dass der Besitzer, Mr Iron, jeden Moment aus dem Nebenraum kommen würde.

„Nein, bis jetzt wollten Sie mich nur davon abhalten“, erwiderte Scully schnippisch, doch ihre Siegessicherheit, dass er es nicht geschafft hatte, schwang in einem leichten Unterton mit.

Scully ging direkt auf den Schreibtisch zu und suchte ihn nach einem Hinweis auf alles ab, was sich als Fährte zu dem ermordeten Assistant Direktor Revooh herausstellen könnte; während Doggett bemüht war die Einbruchsspuren am Schloss zu verwischen, indem er die Tür wieder verschloss, so dass niemand auf den ersten Blick bemerken würde, dass jemand daran herum hantiert hatte. Außerdem verschaffte es Scully und ihm noch ein wenig Zeit, falls wirklich irgendwer im nächsten Augenblick herein käme. Danach ging er zu Scully, die eilig mit einem Bleistift jeweils das obere Blatt der verschiedenen Blöcke straffvierte. Der älteste Trick, um einen Durchdruck des vorherigen Zettel entnehmen zu können, was aber bei diesem aufgeräumten Schreibtisch scheinbar die beste Möglichkeit war. Denn alle Schubladen des schweren Mahagonitisches waren leer, scheinbar nur als Tarnung lag eine Ablage mit Schreibtischlampe, Telefon, Stiften, einem Adressbuch, einem Kalender und mehreren kleinen Blöcken darauf. Sowieso sah der ganze Raum statistisch aus. Die Möbel, alle in demselben Mahagoniton gehalten, erweckten einen alten aber nicht abgenutzten, beziehungsweise benutzten Eindruck. Auch der große Schrank, natürlich aus Mahagoni, an der hinteren Wand des Raumes sah eher fehl am Platz aus. Er ähnelte einem Kleiderschrank.

Doggett seufzte nur und überflog das Adressbuch. Keine ihm bekannten, verdächtigen Namen. Dann führte er sich den Kalender zu Gemüte. Worin er nichts Außergewöhnliches fand – wie auch in der Eile mit dem Adrenalingehalt? Doggett fand dies alles mehr als riskant und sinnlos.

„Ha!“, ertönte Scully und deutete auf den straffvierten Block. Sie riss den Zettel ab, wie sie es bei den vorherigen getan hatte, inspizierte diesen aber genau im Licht der Schreibtischlampe. Doggett trat zu ihr und sah ihr über die Schulter. Nebenbei bemerkte er ihr neues Parfum.

„April“, entzifferte Scully. „April steht hier, die Zahl davor...“

„28?“, riet Doggett.

„Nein, 23!“, bestimmte Scully.

Doggett nahm den Kalender und überprüfte das Datum: der 23. April war mit einem Kreuz markiert – Scully konnte Recht haben, einen Hinweis gefunden zu haben.

„Können Sie einen Namen ausfindig machen?“

„R. P. Drake“, murmelte Scully, immer noch auf den Zettel starrend.

Robert Putney Drake, schoss es Doggett durch den Kopf, ein erfolgreicher Banker. Er nahm sich das Adressbuch, das unter Drake eine Bankadresse angab.

„Mul... Muldano“, murmelte Scully weiter.

Doggett zog eine Augenbraue hoch. Muldano war inoffiziell einer der berüchtigten Mafia Bosse.

Das Adressbuch hielt über Muldano keinerlei Eintrag bereit, was Doggett nicht überraschte. Welcher angesehene, reiche Mann wie Iron wollte mit der Mafia in Verbindung gebracht werden? Doggett blätterte weiter, vielleicht war eine solche spezielle Adresse irgendwie anders formuliert. Beim Buchstaben W stoppte er, dort stand eine Adresse ohne Namen. Dann hielt er inne und sah zur Tür, er hatte doch etwas gehört. Sein Herz schlug schneller. Scully trat zu ihm.

„Was haben Sie...“, weiter kam sie nicht, Doggett berührte sie am Arm und legte seinen Zeigerfinger auf seine Lippen, damit sie sich ruhig verhielt. Erst überrascht hielt Scully für einen Moment inne. Dann hörte sie auch etwas, was nach fernen Schritten klang. Doggett und Scully sahen sich an.

„Shit!“, kommentierte Doggett leise und riss die Seite aus dem Adressbuch.

„Agent Doggett?!“, flüsterte Scully schockiert über seine rege Anteilnahme Spuren zu hinterlassen. Doch Doggett klappte das Buch zu, knipste die Schreibtischlampe aus und schaute sich im Zimmer um. Sie mussten sich verstecken.

„Der Schrank!“, flüsterte Scully. In diesem Bereich ihrer Partnerschaft, mit wenigen Worte zu kommunizieren, wurden sie wirklich immer besser.

Da der Raum nur eine Tür hatte, war der Schrank wirklich die einzige Lösung, also eilten beide darauf zu. Doggetts Attrappen-Verdacht bestätigte sich, als der Schrank nur einige Kleidungstücke aufwies. Die linke Hälfte war mit Fächern unterteilt, in der rechten hingen glücklicherweise nur zwei Jacketts. Schnell stolperten die beiden Agenten in die rechte Schrankhälfte und Scully schloss die Tür schnell von innen, so dass sie im Begriff war, ihre Balance zu verlieren. Doch Doggett stützte sie ab. Scullys linke Hand lag somit auf Doggetts Brust, die rechte krallte sich an seinem Arm fest. Doggett hatte den rechten Arm um Scullys Taille geschlungen, seine rechte Hand lag auf ihrem Rücken, seine linke stützte sich an der Schrankwand ab. So hielten sie inne, jeder bemüht langsam und lautlos zu atmen. Sie lauschten dem Geschehen hinter der Tür. Personen betraten den Raum und redeten miteinander. Durch die dicke Holztür konnten sie nur Gesprächsfetzen verstehen.

Doggett blickte auf Scully, die er in seinem Arm hielt. Ihr neues Parfüm roch gut, sehr gut sogar.

„Die Kassette ist im Schrank!“, hörte Scully und Doggett eine Männerstimme sagen, die scheinbar schon auf dem Weg zu ihm war, da sie den vollen Satz verstanden.

„Shit!“, entfuhr es Scully leise, als die Schritte in ihre Richtung immer lauter wurden. Doggett legte aus Reflex seine Finger auf ihren Mund, um sie zum Schweigen zu bringen. Er war erstaunt wie weich sich ihre Lippen anfühlten. Scully sah ihn an. In jedem anderen Moment, in jeder anderen normalen Situation wäre sie zutiefst verärgert über diese Geste gewesen. Doch jetzt hielten seine Augen ihren Protest und mit diesem die gegenwärtige Realität zurück. Der Ausdruck in Doggetts Augen veränderte sich. Seine Aufmerksamkeit und sein Ärger wichen einer Sanftheit, die Scully noch nicht oft in dem Blau gesehen hatte. Sie fühlte deutlich, wie sich eine plötzliche Spannung zwischen ihnen aufbaute.

Doch es verwunderte sie nicht nur, es trieb ihr auch schmerzliche Erinnerungen in den Sinn, die sie so intensiv zu verdrängen versuchte: Die Erinnerungen an Mulder. Diese Spannungsmomente hatte sie so oft mit ihm erlebt - sieben ganze Jahre lang! Und vor etwas über einem Monat gipfelten all diese Momente in einem Kuss. Was der Anfang für ein erfülltes Leben für Scully zu sein schien, wurde mit der Priorität von ihm, von Mulder, zerstört. Er hatte sie verlassen, sie und ihren Sohn William, um die Wahrheit nicht nur zu suchen, sondern jetzt auch zu finden. Scully wusste, er wäre vermutlich schon eher verschwunden, doch er hatte noch abgewartet bis William geboren war. Er vermutete bestimmt, sie jetzt glücklich zurück gelassen zu haben, mit einem Baby und seinem Liebesgeständnis. Scully hatte ebenso gedacht, sie würde es überstehen. Sie hatte fast acht Jahre auf seine Liebe gewartet, jetzt konnte sie auch noch etwas länger warten, denn nun wusste sie genau, dass er sie liebte; er musste nur noch schnell < diese eine Sache > erledigen, bevor er sich ihr und William völlig widmen konnte.

Doch seit diesen letzten Wochen, die sie nach Mulders Aufbruch bis heute durchlebt hatte, hatte Scully Mulder lieben, aber vor allem auch hassen gelernt. Sie war des Wartens müde geworden. Oftmals wollte sie ihn einfach nicht verstehen und es erst recht nicht versuchen zu verstehen. Wie konnte er während ihrer Schwangerschaft sich oftmals so zuckersüß um sie kümmern und ihr dann nach der Geburt von William seinen Plan die Wahrheit jetzt letztendlich zu finden, offenbaren? Der Kontakt eines flüchtigen Telefonats oder einer E-Mail reichte ihr auf lange Zeit nicht mehr.

Wie hatte sie ihn nur gehen lassen können und das auch noch mit einem guten Gewissen?

Doch irgendwann in den letzten Wochen begann sie diese Geschichte nicht mehr aufzuregen, sondern berührte sie fast gar nicht mehr; sie nahm es hin. Denn sie hatte William, sie hatte ihre Mutter, die sie wundervoll unterstützte. Sie hatte immer noch einen Beruf, wenn auch in der Akademie in Quantico und sie hatte die Illusion, Mulder zu einem Familienmenschen zu erziehen, endlich abgelegt.

Vielleicht war also das Fazit Mulder als Mann gehen gelassen zu haben der Grund für diese Spannung zwischen Doggett und ihr: Sie ließ sich wieder auf andere Männer ein und Doggett war gutaussehend sowie stets höflich. Ein Gentleman durch und durch. Aber wollte sie das wirklich? Diese Situation erinnerte sie einfach zu sehr an die Mulder-Art, die sie kein zweites Mal verkraften würde.



Doggett sah es in ihren Augen, dass irgend etwas anders war. Als er seinen Finger aus Reflex auf ihre Lippen legte, wurde ihm sofort klar, wie respektlos diese Geste gegenüber Agent Scully war. Die dadurch eigentlich hätte hervorgerufen werden müssende Wut blieb jedoch aus. In ihren Augen lag etwas anderes und er vermochte nicht es zu beschreiben. Doggett wusste nur, dass dieser Blick ihn fesselte, ihn sogar der Realität entrückte. Langsam nahm er seinen Finger nach einer scheinbaren Ewigkeit, die aber nur ein paar Sekunden gedauert hatte, von ihrem weichen Mund, doch der Blickkontakt blieb bestehen. Doggett schluckte unbewusst: Was war los mit seiner Partnerin? Er spürte, wie sein Herz schneller anfing zu schlagen. So eine Spannung war noch nie zwischen ihnen aufgetreten, jedenfalls nicht in diesem sexuellem Sinne.



Im nächsten Augenblick aber wurden sie dumpf in die Realität zurückgeholt. Der Mann war an den Schrank getreten und öffnete die linke Seite mit den Fächern. Doggett brach den Blickkontakt ab und wandte sich zu der Richtung, aus der die Geräusche kamen. Scully sah wie seine Professionalität wieder in seinen Blick auftauchte und schalt sich selbst, dass ihr Blick noch nicht so scharf eingestellt war.

„Der Schlüssel zur Schatulle ist in meinem Jackett.“

Bei diesem Satz war auch Scully wieder ganz in ihrer Agentenrolle. Die Jacketts hingen neben ihr. Doggett und sie saßen in der Falle. Ehe sie sich irgendwie über eine gemeinsam aufeinander abgestimmte Reaktion verständigen konnten, fiel ein Schuss. Doggett und Scully zuckten zusammen und legten gleichzeitig jeder seine Hand auf seine Pistole. Gleichzeitig mit dem Fallen des Mannes, der gerade ihre Schranktür öffnen wollte, waren erneut vier Schüsse zu hören. Scully und Doggett zogen beide ihre Waffe. Kurz brach ein Tumult im Zimmer aus, doch dann trat Stille in dem Zimmer ein.

„Mavis?“, fragte eine Männerstimme erst kaum hörbar, dann aber immer lauter: „Mavis, du Hure! Atlanta Hope wird dich ...“, weiter kam der Mann nicht, ein einzelner Schuss ertönte und brachte eiskalte Stille mit sich. Absatzschuhe klapperten in Richtung Schrank. Scully und Doggett nickten sich zu.

Die Frau, die scheinbar Mavis hieß, öffnete die Schranktür und sah sich zwei Pistolen gegenüber.

„FBI – Sie sind verhaftet!“, brüllte Doggett den Standardtext.

Scully hockte im Schrank, um den Raum hinter Mavis abzusichern, während Doggett stehend seine Pistole direkt auf sie richtete.

Unbeeindruckt und voller Geistesgegenwärtigkeit schlug sie die Schranktür wieder zu und verschloss sie. Den Schlüssel nahm sie an sich.

Doggett und Scully hörten die Absatzschuhe ruhig und ohne Hast aus dem Raum stolzieren. Scully richtete sich wieder auf, um Doggett Platz zu machen, der gewaltvoll mit seiner Schulter versuchte die Schranktür aufzubrechen. Seine Schulter reibend musste er schmerzvoll erfahren, wie widerstandsfähig diese Mahagonitür war. Er schoss auf das Schloss und nach seinen nächsten zwei Schlägen, gab das Schloss endlich nach und Scully und Doggett konnten aus dem Schrank. Die Freiheit, die sie erwartete, war Blut besudelt. Fünf tote Männer lagen auf dem Fußboden zwischen dem Schreibtisch und dem Schrank. Vier davon mit einem gezielten Kopfschuss getötet, einer mit einer Kugel in der Schulter und ins Herz.





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Scully ging wütend den Gang von Kersh’ Büro zum Fahrstuhl hinunter. Neben ihr lief Doggett genauso zügig und mit einem ähnlichen Gesichtsausdruck.

Scully war sauer auf Kersh. Sie hatte einen Vermerk in ihre Akte bekommen. Zum Einen auf Grund unbefugten Eintritts und zum Anderen, weil sie den vierfachen Mord der jetzt gesuchten, aber noch nicht gefundenen Frau, nicht verhindert hatte. Die ersten Ermittlungen hatten ergeben, dass Mr. Iron, der den Kasten aus dem Schrank geholt hatte, von einem der vier Männer mit Namen Evan Cerly erschossen wurde und Mavis danach die vier, inklusive Mr. Cerly, ermordet hatte.

„Ich habe Sie keinem Spezial- *Team* zugeordnet, um auf eigene Faust zu ermitteln. Ihr Job war es lediglich die Villa zu observieren! Haben Sie irgendeinen Hinweis, den Iron mit dem Mord an Assistant Director Revooh in Verbindung bringen könnte? Nein, haben Sie nicht. Nur noch vier weitere Leichen! Dafür werde ich Sie zur Rechenschaft ziehen, Agent Scully und Agent Doggett“, hatte Kersh geknurrt und an Agent Doggett gewandt hatte er noch einmal betont: „Sie wissen doch, wenn es schlecht aussieht, sieht es auch schlecht fürs FBI aus! Ich will, dass Sie beide das klären!“

Der Vermerk in ihrer eigenen Akte war aber nicht der springende Punkt ihrer Wut, vielmehr dass Agent Doggett genau denselben bekommen hatte, obwohl die Schuld eindeutig auf ihrem derzeitigen mangelnden Einschätzungsvermögen beruhte. Aber dieses, eigentlich schlagende Argument bewirkte nichts bei Kersh, er liebte es viel zu sehr Doggett in den Arsch zu treten, vor allem, wenn er die Schuld jemand anderem, besonders ihr, in die Schuhe schieben konnte.

All dies ließ Scully aber auch ein Stück näher an ihre Verzweiflung rücken, denn all dies erinnerte sie so sehr an die Ermittlungszeit mit Mulder. Wie oft saßen sie nicht vor Skinners Büro, um sich einige Rüffel abzuholen?

Das Einzige, was sie noch hier hielt, waren die Beweise, die sie gesammelt hatten. Worauf Kersh natürlich nicht eingegangen war, denn es war ja etwas Positives! Scully verfluchte diesen Motherfucker noch ein weiteres Mal in ihren Gedanken und versuchte sich dann auf die Beweise in den Tüten in ihrer Hand zu konzentrieren. Doggett und sie hatten Namen: Mavis, die Mörderin und Atlanta Hope, die eine scheinbare Organisatorin war. Mr. Carl Birling, der Mann mit den zwei Schusswunden, war höchst wahrscheinlich einer der Handlanger von Atlanta Hope – wer oder was auch immer sich hinter dem Pseudonym verstecken sollte.

Dummerweise hatten die vier toten Männer eine leuchtend weiße Weste und erschienen so unschuldig wie Lämmer.

Weiter hatten sie eine Adresse, die vermutlich Muldanos war, ein Mafia Boss, wie Doggett sie wissen ließ.

Zusätzlich hatten sie den Schlüssel für die verschwundene Schatulle. Scully seufzte. Sie hoffte nur, dass auch all diese Sachen irgendwann zusammen passten.



Doggett eilte neben ihr zum Fahrstuhl. Er war genauso wütend, denn auch er hatte Kersh’ Machenschaft, Scully und ihn gegeneinander aufzuhetzen, durchschaut. Diese harte Realität vom Vorgesetzten Steine in den Weg gelegt zu bekommen, behagte ihm gar nicht. Eine Realität, die Agent Mulder auch ausgesetzt war. Er musste damit klar kommen, so wie Mulder es auch getan hatte. Doggett fuhr sich im Laufen mit der Hand durch sein Haar. Er durfte sich jetzt nicht in diese Ungerechtigkeit und in die Wut auf Kersh hineinsteigern. Er sollte sich jetzt zusammen mit Agent Scully auf die Beweise, die sie immerhin sammeln konnten, konzentrieren. Doggett gab ihr keine Schuld an dem Dilemma. Okay, sie hatte sich nicht davon abbringen lassen, sich in dem Zimmer „unbefugten Eintritt“ zu verschaffen, aber die Morde hatten sie nicht verhindern können. Und hätte sich Agent Scully ihm gegenüber nicht durchgesetzt, würden sie immer noch vergeblich die Villa Irons observieren und hätten keine Anhaltspunkte, wie er jetzt zu haben hoffte.



Endlich im Fahrstuhl angekommen, drückte Scully auf das vermeintliche „U“ wie Untergeschoss. Doggett trat nach ihr ein, drückte aber auf die Taste fürs Erdgeschoss. Scully schaute ihn verwundert an, aber Doggett starrte nur auf die gegenüberliegende, metallene Wand. Dieser Mann sollte sie langsam besser kennen. Nach so einer Verarsche von Kersh, sollte man ihr besser nicht doof kommen und das tat er gerade. Nicht nur, dass er nicht in ihr Büro wollte, er erklärte seine „Erdgeschoss-Wahl“ nicht einmal. Scully atmete tief ein und aus.

Nur nicht aufregen. Im Gegensatz zu Mulder gibt es bei diesem Mann immer eine plausible Erklärung.

Und wieder war da die Erinnerung an Mulder. Scully wusste, dass sie überreagierte, als sie die Männerwelt verfluchte, weil Mulder ein Arsch war und Doggett sich gerade wie einer benahm, aber sie konnte es nicht abstellen.



Doggett starrte gegen die Wand. Wider seines Verstandes regte er sich immer noch über Kersh auf. Er musste aus dem Gebäude, er konnte jetzt nicht wieder ins Büro gehen mit dem Wissen, dass egal, was er tat, es nicht gewürdigt werden würde. Man würde ihn nur auf seine Fehler und Versäumnisse hinweisen und den Lob oder gar den Erfolg unter den Tisch fallen lassen. Nein, er musste hier raus, musste die Welt außerhalb der Macht von Kersh sehen, um zu erkennen, wofür er sich eigentlich immer nieder machen ließ. So hatte Doggett auch das Erdgeschoss, den Ausgang gewählt. Er merkte, wie Scully ihn von der Seite ansah, doch er stellte sich dem Blick nicht, er wollte nichts erklären, er wollte nicht reden, nicht mehr in diesem Gebäude zu dieser Zeit. Als er aber einen Augenblick später zu Scully hinüber schaute und sie fast noch wütender die Fahrstuhlwand anfunkeln sah, nahm er erst wahr, dass sie wieder ins Büro wollte. Sein nächster Gedanke wurde von dem schmatzenden Geräusch des Aufzugs unterbrochen. Erdgeschoss, Freiheit. Doggett stieg aus. Scully folgte ihm nicht, wie auch, sie wusste ja nicht, was er vor hatte. Also drehte er sich wieder um und hielt den Fahrstuhl mit der Hand offen. Der wütende Blick von Scully traf ihn.

„Kommen Sie schon, Agent Scully. Lassen Sie uns kurz von hier verschwinden. Sie wollen doch sicher auch einen richtigen Kaffee und nicht das Gepansche von unten, oder?“, erklärte er mit einem kleinen Lächeln.



Damit hatte Doggett sie überzeugt. Zusammen waren sie in ein Café gegangen und hatten dort die Beweise näher betrachtet. Die Adresse auf dem Block unter dem Buchstaben W lautete Lincolnia Street 23. Die Gemeinde Lincolnia lag nahe der Route 50. Dem Besitzer des Anwesens würden sie morgen einen Besuch abstatten.

Der Schlüssel war aus Metall mit einem Goldüberzug. Er erweckte durch seine Verschnörkelungen einen antiken Eindruck, war aber nicht sonderlich abgenutzt. Das Seltsame und Auffällige an dem Fund vom Tatort war der Zahlencode: 17760011010000001000000011005010101023. Um achtunddreißig Zahlen lesbar auf einen solchen Schlüssel zu bekommen gehörte einiges an Geschick dazu. Scully und Doggett vermuteten, dass der Schlüssel nicht nur für die von Mavis entwendete Schatulle nützlich war, sondern auch noch den Code, einen ziemlich langen Code, für etwas anderes besaß.

Mit den Namen Mavis und Atlanta Hope konnten sie bis jetzt noch nicht viel anfangen.

Trotz der eher dürftigen Beweise hatte sich Scullys Laune erheblich gebessert. Zumindest hatten sie und Doggett jetzt die Andeutung einer Spur und eines Weiterkommens.

Scully starrte in ihren leeren Kaffeebecher, den sie mit beiden Händen umschlang, um die verblassende Wärme zu genießen. Eigentlich war es Zeit zu gehen. Sie schaute auf die Uhr, es war kurz vor sechs. Doggett trank nun auch seinen letzten Schluck Kaffee aus. Er schaute sie an, doch sie konnte nur kurz in seine Augen blicken und wandte ihren Blick dann auf die Wand hinter Doggett. Eine seltsame Stimmung erfüllte die Luft.

„Wollen Sie noch einen Kaffee?“, fragte Doggett ganz der Gentleman und normalisierte die Atmosphäre.

Mulder wäre sicherlich aufgestanden und wieder ins Büro gegangen, schoss es Scully durch den Kopf.

„Nein“, antworte Scully. „Nein, danke. Ich denke, ich werde jetzt nach Hause fahren.“

„Ist William eigentlich bei Ihrer Mutter?“, fragte Doggett.

Scully stutzte kurz, hatte sie nicht eben gesagt, sie wolle gehen und trotzdem fing er ein persönliches Gespräch an? Doch seine Fürsorge zauberte ihr ein Lächeln auf den Mund. Die Frage, wo Will blieb, wenn sie diesen Fall mit Doggett bearbeitete, war unter diesen speziellen Umständen berechtigt. Denn Scully wollte eigentlich erst mal nur noch in Quantico arbeiten und das halbtags. Aber Kersh hatte ihr eins auswischen wollen, was ihr gegenwärtiges Lächeln ersterben ließ. Agent Reyes hatte sich Urlaub genommen und so hatte Kersh ihr die Urlaubsvertretung „angeboten“, obwohl er wusste, dass ein Fulltimejob für Scully fast unmöglich war. Doch sie ließ sich nicht unterkriegen, sie wollte Kersh nicht noch einen negativen Punkt für ihre Zukunft einheimsen lassen und machte es möglich.

„Nein, meine Mutter ist bei William“, antwortete Scully und lächelte wieder.

Doggett nickte und erwiderte ihr Lächeln, er ahnte, wie schwer es für sie war einen geeigneten, kompetenten und vor allem vertrauenswürdigen Babysitter zu finden. Darum hatte sie vermutlich auch in die Villa eindringen wollen, um die Lösung des Falles voranzutreiben, damit sie wieder bei ihrem Sohn sein konnte.

Aus den Augenwinkeln sah Doggett plötzlich eine ihm bekannte Person. Sein Lächeln verschwand und sein Blick verfinsterte sich, als er die Person fixierte, die nun draußen, direkt vor der Fensterreihe des Cafés stehen blieb und sich mit jemandem unterhielt.

Scully, die mit dem Rücken zu der Fensterreihe saß, drehte sich um und folgte Doggetts Blick. Sofort sah sie die Ursache seiner Verärgerung: Kersh. Scully musste lächeln. Sie wandte sich zu Doggett, der immer noch mit leicht zusammen gekniffenen Augen nach draußen starrte und legte ihre rechte Hand auf Doggetts linke, die seinen Kaffeebecher verspannt festhielt. Scully wollte nur seine Aufmerksamkeit, ihn von Kersh ablenken, aber als sein Blick ihre Augen traf und sie die Veränderung von stahlhart zu einem weichen blau sah, stockte ihr leicht der Atem. Diese verflixten blauen Augen gefielen ihr immer besser. Doch Scully besann sich, wenn ihr kurzes Zögern doch aufgefallen war, auf was sie eigentlich hatte sagen wollen:

„Da müssen Sie sich noch dran gewöhnen, Agent Doggett.“

„Woran?“, fragte er scheinbar etwas verwirrt.

„Dass Ihre Vorgesetzten meistens nicht Ihre Freunde sind und Sie irgendwie immer alleine dastehen“, antwortete Scully und zog ihre Hand von seiner weg.

„Nach fast einem Jahr sollte ich es wirklich mal begriffen haben“, gab Doggett zu. „Aber ich werde es schon schaffen – wenn Mulder es auch geschafft hat.“

Autsch! Der Name versetzte ihr innerlich einen kleinen Stich. Aber auch äußerlich musste sie es ausgedrückt haben, denn sie sah es an Doggetts Gestik, wie er sine Worte anfing zu bereuen. Doch Scully wollte jetzt Mulders Entschluss, seine Wahrheitsgier akzeptieren und sich nicht länger davon deprimieren lassen.

„Tun Sie mir einen Gefallen, Agent Doggett – werden Sie nicht wie Mulder“, antwortete sie lächelnd und stand auf, um zu gehen.



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Scully lag wach in ihrem Bett. Es war Vollmond und wie viele andere Menschen reagierte auch sie auf ihn mit Ärger, denn er raubte ihr den Schlaf. Seufzend resümierte sie noch einmal den Tag. Sie blieb mit ihren Gedanken im Schrank in der Iron Villa hängen, als Doggett seine Finger auf ihren Mund gelegt hatte. Die Berührung war hauchdünn gewesen. Jetzt, um 23:10h nachts konnte sie nicht mehr mit aller Genauigkeit sagen, ob er sie wirklich berührt oder ob er nur gestikuliert hatte. Diese Zweifel, diese Unsicherheit riefen ihr abermals Mulder in ihre Gedanken. Wie viele Jahre hatte sie sich gefragt, ob alles nur eine Geste war oder doch eine tiefere Berührung ihrer Beziehung zueinander.

Scully seufzte, drehte sich auf die Seite und starrte die Wand an. Der letzte Gedankengang war mehr als weit hergeholt. Doch ein Teil ihres Innern wollte sich rastlos damit auseinandersetzen. Das Gefühl, Tränen würden sich in ihren Augen bilden, stieg in ihr auf, als sie ihre Vergangenheit mit Mulder im Schnelldurchlauf Revue passieren ließ. Sie begann Vergleiche zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart zu ziehen, zwischen Mulder und Doggett. Eine menschlich normale Gewohnheit, ein Reflex, denn sie tat es unbewusst. Sie kam zu dem Schluss, dass Mulder und Doggett verschieden waren, ihre Partnerschaft mit Doggett war anders als die mit Mulder – mal ganz abgesehen von den privaten Gefühlen und nur aufs Berufliche bezogen. Doggett nahm die Kollegialität sehr ernst. Er tat keine Schritte alleine ohne sie darüber zu informieren, er hatte keine Geheimnisse, war immer aufrichtig und ehrlich. Mulder hingegen hatte auch alleine ohne sie ermittelt, seine lebensbedrohliche Krankheit hatte er vor ihr geheimgehalten, doch war er immer versucht aufrichtig und ehrlich zu sein.

„Ich würde Sie nie hinter Ihrem Rücken in Gefahr bringen!“, hatte Scully letztes Jahr zu Doggett gesagt, als sie Mulders Art, somit auch seine Ansicht von Partnerschaft und seine Gedanken versuchte nachzuahmen, um Mulder zu finden. Doggett hatte erwidert, sie solle ihm den Rücken besser frei halten.

Ja, Doggett und Mulder unterschieden sich, in ihrer Kollegialität zumindest definitiv. Auf eine seltsame Weise beruhigte Scully dieses Fazit, so dass sie vom Tag erschöpft die Augen schloss, um vom Schlaf übermannt zu werden.
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