World of X

Das älteste Archiv für deutsche Akte-X Fanfiction

Vertigogo

von Martina

Kapitel 2

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Als Scully am nächsten Tag ins FBI Gebäude trat, war sie nicht nur müde, sondern auch zu spät. Wenn es auch nur um die fünfzehn Minuten waren, störte sie die Vorahnung Doggett bereits an seinem Bericht tippen zu sehen, während sie sich noch mental darauf vorbereitete, sich den gestrigen Tag noch einmal durch den Kopf gehen ließ und nur noch eine Fahrstuhlfahrt und zweihundert Meter dafür Zeit hatte. Scully war überrascht, als sie ins Büro kam und Doggett mit einer Kaffeetasse lässig an seinem Schreibtisch gelehnt da stand. Ihr Eintreten riss ihn aus seinen Gedanken.

„Agent Scully – Guten Morgen“, begrüßte er sie.

„Morgen.“ Ihre Stimmung besserte sich.

„Bereit einen perfekten, nervenaufreibenden Bericht für Direktor Kersh zu schreiben?“, fragte er sarkastisch.

„Nein!“, erwiderte sie mit einem unvergleichlich gespieltem Lächeln in einem euphorischen Ton, der normalerweise eigentlich mit einem „Ja“ hätte verbalisiert werden müssen und ging zur Kaffeemaschine, um sich ebenfalls einen Kaffee einzuschenken.



Doggett und Scully brauchten zwei Stunden für ihre Berichte und hatten danach zwei Stunden bis Kersh mit ihnen die Berichte durchgehen wollte. Also beschlossen sie den Zeitpuffer für den ersten Eindruck der Adresse zu nutzen. Sie fuhren aus dem Stadtkern die Route 50 in südwestlicher Richtung. Die angegebene Adresse entpuppte sich anstatt eines vermuteten mafiosie Schlosses als nobles Ausstellungshaus, das um diese Uhrzeit am späten Morgen verlassen schien. Die kleine Villa war über einen Kiesweg zu erreichen, der einen grünen, perfekt gepflegten Rasen, der sich in einem zweihundert Meter Radius ums Haus legte, durchschnitt. Es gab keine Blumen, Büsche oder Bäume, einfach nur den grünen, gepflegten Rasen.

„Hübsch“, kommentierte Scully mit einem Hauch von Ironie, als sie aus dem Wagen stieg, den sie auf dem Kiesparkplatz an der Straße abgestellt hatten.

„Fehlt nur noch die Giftstoff- und Düngerreklame!“, ergänzte Doggett.

Doggett und Scully gingen den Kiesweg hinunter auf das große Haus zu. Die Fenster waren mit schwarzen Vorhängen verdeckt, genauso wie der große, gläserne, doppeltürige Eingang. Alles, was sie fanden, war ein DinA4 großer Zettel auf den in großen, schwarzen Lettern stand:

PLASTIK AKT MARTINI

*DeMolay Frères*

(23.April)

Dieser war auf der Innenseite der großen Eingangstür vor dem schwarzen Vorhang geklebt worden.

„Was zum Teufel ist ein Plastik Akt Martini?“, fragte Doggett.

Scully zuckte nur mit den Schultern. „Viel Werbung scheinen die DeMolay Frères jedenfalls nicht dafür zu machen.“

Scully besah sich das große Haus. Sie glaubte nicht, dass diese Adresse eine Sackgasse war, auch wenn es nicht eine Unterkunft Muldanos oder von sonst irgend jemandem zu sein schien. Sie hatte das Gefühl, dass genau diese Plastik Akt Martinis – was auch immer das sein sollte – ein Schritt in die richtige Richtung waren.

„Wir sollten das Haus observieren lassen.“



Eine Stunde später machten Doggett und Scully sich auf den Weg von Kersh’ Büro zu ihrem Kellerbüro. Wenig überrascht davon, dass ihre Berichte nichts an den Aktenvermerken änderten und noch weniger überrascht von der Ablehnung Kersh’ gegenüber ihres Gesuchs nach Observationskräften.

„Wir müssten eigentlich nur da sein, wenn die Party im Gange ist“, begann Doggett eine neue Vorgehensweise zu planen. „Ich bezweifle, dass diese Martinis für jedermanns Gutachten bereitstehen. Es werden bestimmt geladene Gäste kommen, was die mangelnde Werbung erklären würde. Und falls wirklich eine Verbindung zu den Morden besteht, können wir die Besucher bestimmt auch an Hand der Einladungen ermitteln.“

„Und wann denken Sie, wäre die Ausstellung im vollen Gange?“

Sie erreichten den Fahrstuhl und stiegen ein. Außer ihnen fuhren zwei weitere Agenten mit.

Doggett zuckte mit seinen Schultern. „Keine Ahnung, so gegen vier?“



Und er hatte richtig spekuliert. Doggett und Scully hatten versucht irgend etwas über Plastik Akt Martinis heraus zu finden oder auch nur ein Hinweis auf Reklame dafür. Doch sie hatten nichts Konkretes gefunden. Vor allem keine Werbung. Sie waren um zwei Uhr an dem Haus vorbei gefahren, was aber wie am Morgen verlassen dastand. Jetzt, um vier Uhr, als sie auf dem Parkplatz parkten, schien das Haus gefüllt zu sein. Niemand hielt sich draußen vor dem Haus auf, aber der Parkplatz war mit einigen Autos beparkt. Die Fenster waren immer noch mit den schwarzen Vorhängen verdeckt, doch die Tür hieß sie willkommen. Als Doggett und Scully an der Eingangstür ankamen und Doggett Scully die Tür aufhielt, traten sie in einen großen Vorraum, in dem die Garderobe und der erste Empfang sich befand. Scully bemerkte die überwiegend feineren Mäntel und Hüte an der Garderobe, während ein älterer, ebenso nobler Mann mit Vollbart im Frack auf sie zuging.

„Herzlich Willkommen zu unserer Plastik Akt Martini Ausstellung! Dürfte ich Ihre Einladung sehen?“

„Wir sind vom FBI“, erklärte Doggett und zog seinen Ausweis. Die Miene des Mannes zeigte eine kurze, erfreute Überraschung. „Das ist Agent Scully und ich bin Agent Doggett.“

„Ah! Sie werden bereits erwartet“, flötete der ältere Herr freundlich. „Hier noch unsere Broschüre“, fügte er hinzu und drückte Doggett eine Karte aus festem weißen Papier in die Hand.

„Wenn Sie mir bitte folgen würden.“

Doggett und Scully sahen sich irritiert an. Sie wurden erwartet? Doch trotz den Ungereimtheiten folgten sie der Einladung. Der ältere Herr öffnete eine sehr große, weiße Doppelholztür und sie traten von dem ruhigen, diskreten Empfangsraum in einen lauten, großen und völlig in weißem Holz gehaltenen Saal. Der Teppich hatte ein edles Rot und die Decke des Saals war das Dach hoch oben über ihnen, natürlich auch in weiß. Nur die vereinzelten schwarzen Vorhänge an den Fenstern unterbrachen jene weiße Monotonie. Überall standen Stehtische und vereinzelte Sitznischen mit bequem aussehenden Sesseln. Der Saal war gefüllt mit Menschen, die sich zu neunzig Prozent in eleganter Abendkleidung angeregt und laut unterhielten. Scully fühlte sich in ihrem FBI Outfit ein wenig unelegant, dankte aber ihrem Instinkt, dass sie heute morgen den Rock angezogen hatte. Ein Kellner kam mit einem Tablett auf sie zu und gab Doggett und Scully je einen Martini. Doggett erkannte, dass die DeMolay Frères es wirklich ernst meinten. Es gab Martinis und Oliven (für diejenigen, die es vorzogen, gab es Cocktailzwiebeln anstatt Oliven) und alles in transparentern Plastikbehältern, die wie nackte Frauen geformt waren. Der Hersteller besaß einen ausgesprochen schlechten Geschmack, fand Doggett.

Viele der Besucher sahen einfach wie snobistische möchte-gern Kunstkritiker aus und Doggett fiel es schwer, sich von diesem Klischee loszulösen und sich möglichst viele Gesichter zu merken. Ein Paar erregte besonders seine Aufmerksamkeit. Eine bildschöne, orientalische Frau mit langem, schwarzen Haar, das bis ans schmale Ende ihres Rückens reichte, unterhielt sich flirtend mit einem ... Öko. Der Kerl hatte lange, glatte, braune Haare, die mit einem Zopfgummi zusammengehalten auf seine Schulterblätter fielen. Er hatte keinen Anzug an, sondern einfach nur Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Als die Frau ihren Kopf kurz in Doggetts Richtung wandte, erkannte er ein Symbol auf ihrem Kopfschmuck, das ein goldener Apfel mit einem K darinnen darstellte. Dann hatte ihr Führer aber sein Ziel erreicht und schritt auf einen Mann zu.



„Mr. Moon, der erwartete Besuch ist eingetroffen“, hörte Scully den älteren Herrn sagen, der daraufhin verschwand. Hätte Scully Mr. Moon beschreiben sollen, wäre er ihr als erstes normal und unscheinbar aufgefallen. Er war groß, schlank und hatte blonde, kurz geschnittene Haare sowie blaue Augen.

„Moon, Simon Moon“, stellt er sich vor, küsste Scullys Hand mit einer kleinen Verbeugung und schüttelte Doggett die Hand. Scully war nicht von der Geste angetan, sondern fühlte sich eher herabgestuft. Sie war hier als Agentin, nicht als Vorbild für jene Plastikbehälter, die sie und Doggett in der Hand hielten..

„Das ist Agent John Doggett und ich bin Agent Dana Scully“, antwortete sie sachlich.

„Wie gefallen Ihnen die Plastik Akt Martini?“, fragte Simon Moon.

Scully sah Doggetts kritischen Blick auf das Glas in seinen Händen, welcher nicht von positiver Kritik sprach.

„Um ehrlich zu sein, finde ich, dass diese Martinis eine ausgesprochen dümmliche Form haben“, antwortete Doggett.

„Genau meine Meinung, Agent Doggett“, sagte Simon Moon. „Was mich stört ist dieser abscheuliche Geschmack, der da sichtbar wird. Aber so gesehen ist die ganze amerikanische Industrie nichts weiter als ein gigantischer obszöner Zirkus für mich. S179f. Doch lassen Sie uns nicht über die amerikanische Moral diskutieren, sondern uns in ein Nebenzimmer verziehen, wo wir ungestört reden können.“

Simon Moon drehte sich um und steuerte die Wand an. Die Tür, die er öffnete, war vollkommen unscheinbar. Sie war wie die Wand in demselben weißen Ton gehalten und fiel nur durch ihren weißen Türknopf auf, wenn man genau davor stand. Doggett und Scully folgten ihm, beide hatten noch nichts von ihren Drinks getrunken. Sie traten in einen Raum, der mit demselben weißen Holz gestaltet worden war: Ein Schreibtisch in einer Ecke des Raumes, dahinter ein Schrank, in der Mitte des Zimmers vier Sessel, dessen Mittelpunkt ein runder, kleiner Tisch war. Ansonsten war auch der Teppich in demselben edlen Rot wie im großen Saal und dem Empfangsraum. Doch in diesem Raum war der Teppich ein großer Läufer und an einigen Stellen kam Parkett zum Vorschein.

„Bitte setzen Sie sich“, bot Simon Moon Doggett und Scully an, die sich setzten, während er hinter dem Schreibtisch einen oliv grünen High Peek Rucksack hervor holte.

„Mr. Moon,“, begann Doggett sogleich, „woher wussten Sie, dass wir hier eintreffen würden?“

„Nun, Agent Doggett, darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Denn...“, er setzte sich mit dem Rucksack zu Doggett und Scully, öffnete den Rucksack ein Stück und zog ein Holzkästchen bis zur Hälfte heraus. Doggett schätzte die Maße auf dreißig mal zwanzig Zentimeter und in der Höhe auf ungefähr zwölf Zentimeter. „Denn“, setzte Simon wieder an, „ich schlage Ihnen beiden einen Deal vor. Ich habe hier eine Schatulle zugespielt bekommen von einer gewissen Mavis.“ Bei dem Namen nahmen Doggett und Scully eine angespanntere Position ein, bereit jeden Moment ihre Waffen zu ziehen. „Sie haben den Schlüssel – ich habe Antworten auf Ihre Fragen...“, weiter kam er nicht, sein Handy klingelte. Simon beeilte sich es schnell aus der Innentasche seines Jacketts zu ziehen. Er hielt es sich ans Ohr, fluchte und warf es in den Rucksack. Während er schnell die Schatulle in den Rucksack stopfte, erklärte er mit einer sichtlichen Panik: „ Wir müssen gehen, sofort. Sie müssen mir folgen. Unangenehme Gäste werden sehr bald hier auftauchen.“

Eilig schnallte er sich den Rucksack auf den Rücken, stand auf und zog ein Stück des Teppichläufers in der Ecke des Raumes beiseite und legte eine Luke frei. „Los, beeilen Sie sich!“, trieb er Doggett und Scully zur Eile, die irritiert aufgestanden waren und seinem hetzenden Treiben zugesehen hatten. Seine Nervosität und Panik schienen wie die Schweißperlen auf seiner Stirn, die gerade hervortraten, echt zu sein.

„Was ist...“, fing Scully an, doch Simon hatte die Luke bereits geöffnet und unterbrach sie grob: „Hören Sie, Agent Scully, diese Männer schlagen Ihnen keinen Deal vor, sondern erschießen Sie – genauso wie sie es bei Iron getan hatten.“

Die Tatsache, dass Simon die Schatulle hatte, viel wusste und ihnen sehr wahrscheinlich ziemlich viele Fragen beantworten konnte, sowie der Fakt, dass sie plötzlich draußen vor den Fenstern einen Wagen mit hoher Geschwindigkeit heranfahren und quietschend bremsen hörten, überzeugte Doggett und Scully schnell in die Luke zu steigen. Simon sprang hinter ihnen herunter und zog an einem Seil, so dass die Luke sich schloss und der Läufer wieder in seiner ursprünglichen Position, die Luke versteckend, lag. Während Doggett und Scully ihre Taschenlampen einschalteten, hörten sie über ihnen Scheiben zersplittern sowie laute Stimmen und Simon flüstern:

„Schnell, der Gang geht um ein paar Ecken und führt zum Parkplatz – beeilen Sie sich!“

Und im nächsten Augenblick rannten sie etwas gebückt los. Scully, obwohl sie sich eigentlich nicht hätte bücken müssen, aber es aus Reflex tat, kam sich wie in einem Maulwurfsgang vor. Der Tunnel schien einfach nur in den Boden gegraben worden zu sein, ohne Stützbalken oder sonstige Befestigungen. Tatsächlich aber waren die Wände mit Lehm überzogen und die Form und Größe so gewählt, dass es keine anderen Befestigungen benötigte. Nach hundert Metern Sprint hörten sie, wie die Luke hinter ihnen entdeckt wurde. Außer Atem versuchten die drei noch einmal das Tempo zu steigern, denn vor ihnen erblickten sie eine rettende Ecke, um die sie biegen konnten. Als die ersten Schüsse erklangen, bog Scully dicht gefolgt von Doggett um die Ecke, Simon aber schrie und stürzte. Doggett stoppte, zerrte ihn mit sich und sagte: „Los, Mr. Moon, das ist nur eine Fleischwunde in Ihrem Oberarm!“, was halb geraten war, aber seine Wirkung nicht verfehlte. Etwas langsamer und den verwundeten Oberarm mit der anderen Hand haltend, rannte Simon tapfer weiter. Wieder um eine Ecke. Die Schritte ihrer Verfolger waren zahlreich und hatten ein schnelles Tempo.

Scully war nicht angehalten und hatte einen kleinen Vorsprung. Als sie um die übernächste Ecke bog, sah sie die Luke und beschleunigte noch einmal. Schnell erklomm sie die kleine Leiter und drückte mit aller Kraft gegen die metallene Luke. Doggett und Simon bogen jetzt auch um die Ecke. Von weiter hinten hörte sie die Rufe ihrer Verfolger. Dann, mit einem Schmatzen, öffnete sich die Luke. Schnell kletterte sie an die Oberfläche. Kies rieselte in den Tunnel, denn wie Simon gesagt hatte, befand sich der Ausgang auf dem Parkplatz. Ein älterer Herr, der Herr vom Empfang, packte sie am Oberarm und half ihr.

„Schnell, lassen Sie den Wagen schon mal an“, befahl der Mann.

Scully tat, was er sagte, denn einen Meter weiter stand ein dunkel blauer Mercedes Benz.

Als sie sich im Sitz des Wagens umdrehte, sah sie Doggett und den blutenden Simon aus dem Tunnel krabbeln. Weiter hinten, auf der Wiese direkt bei einer Fensterreihe standen zwei Jeeps, die Wagen ihrer Verfolger. Durch die kaputten Fenster wehten die schwarzen Vorhänge nach draußen. Aus jeder Fahrerkabine eines Jeeps kam ein Mann heraus und winkte dem älteren Herrn vom Empfang zu. In den Händen hielten sie Spritzen und in den Jeeps saß jeweils immer noch ein Mann auf dem Fahrersitz. Scully runzelte die Stirn. Was ging hier zum Teufel noch mal vor?

Doch dann sprangen auch schon Doggett und Simon auf die Rückbank und der ältere Herr auf den Beifahrersitz.

Ohne ein Wort trat sie aufs Gaspedal und fuhr in Richtung Stadtkern. Im Rückspiegel konnte sie gerade noch den verriegelten Tunnelausgang sehen.



Nach einer Weile, als sie alle wieder zu Atem gekommen waren, stellte sich der ältere Herr vor.

„Hagbard, Hagbard Celine ist mein Name!“, sage er unverhofft und reichte Scully die Hand. Dann drehte er sich zur Rückbank und schüttelte Doggett die Hand. Scully fielen seine beharrten Hände auf und das Gesicht erinnerte sie an einen Falken. Dann erkannte sie, dass er statt des Fracks nun ein eher gewöhnliches Jackett trug.

„Und, wohin fahren wir, Agent Scully?“, fragte er genauso unverblümt. Die Verfolger hatten sie in Lincolnia abgehängt und nun fuhren sie ins Straßengewirr von Washington DC, wo man sie garantiert nicht mehr wiederfinden würde. Doch Scully hatte ein Ziel vor Augen.

„Ins nächste Krankenhaus, um Mr. Moon zu behandeln.“

„Das ist gut“, antwortete Hagbard.

Im Rückspiegel sah sie Doggett genauso verwirrt dreinblicken, wie sie sich fühlte.



Als Scully auf dem großen Parkplatz vom Washington Memorial Hospital hielt, ergriff Hagbard wieder das Wort.

„Wenn ich etwas vorschlagen dürfte“, er hielt kurz inne, sprach dann aber weiter. „Ich würde sagen, Agent Scully geht mit Simon ins Krankenhaus und Agent Doggett und ich werden alle Vorbereitungen für unseren Deal, der jetzt sogar dringender für sie ist, treffen. Da ich keine ernsthafte Verletzung sehe, denke ich, dass die Behandlung mit Miss Scullys Ausweis nicht all zu lange dauern dürfte.“

„Vorbereitungen für den Deal, Mr. Celine?“, fragte Doggett.

„Jepp.“

Nachdem Doggett durch seinen fragenden Blick, der Hagbards Blick festhielt, die Frage für nicht beantwortet erklärte, antwortet Hagbard ein weiteres Mal:

„Mr. Doggett, lassen Sie uns eine Ortschaft auswählen, etwas zu essen besorgen, dann wieder ihre Partnerin und Simon abholen, um dann die Umstände, die Notwendigkeit und falls sie beide es dann wollen, die Einzelheiten des Deals klären!“

Simon stöhnte auf. „Ich hab jetzt wirklich keinen Bock auf `ne Diskussion, ich hab zum ersten Mal in meinem Leben Bock auf eine Spritze, also wenn ihr mich entschuldigen wollt“, presste er unter Schmerzen hervor und öffnete die Tür.

Scully und Doggett tauschten einen Blick aus, ihre wortlose Kommunikation funktionierte, dann stieg auch Scully aus. Sie wussten beide, dass diese beiden Herren eine gute Fährte zur Lösung des Falles waren, wenn nicht sogar die einzige.

„Ich werde Sie begleiten, Mr. Moon“, erklärte Scully

Als Scully und Simon zum Krankenhauseingang liefen, stieg auch Doggett aus und setzte sich auf den Fahrersitz.

„Nun?“, forderte er Hagbard auf, denn Doggett vermutete zu Recht, dass der alte Kauz neben ihm schon längst alles durchgeplant und durchdacht hatte.

„Nun, Agent Doggett, was halten Sie davon, einen Kaffee trinken zu gehen?“

Doggett nickte und startete den Wagen.



Doggett saß Hagbard in einem kleinen, modernen Cafe unweit des Krankenhauses gegenüber. Doggett fiel auf, dass sein Gegenüber, trotz den weißen Haaren und fast schon weisen Augen, besser in solch ein modernes Cafe passte, als in ein altmodisches, wo vermutlich mehr Menschen seines Alters sich aufhielten.

Sie hatten auf der Fahrt nicht viel geredet und taten es auch jetzt nicht. Doggett verwirrte diese Tatsache, hatte Hagbard nicht selbst gesagt, der Deal wäre dringend? Dabei saß er hier so locker mit ihm in einem Cafe ohne bis jetzt ein Wort darüber verloren zu haben. Aber genau das ließ Doggett vorsichtiger werden. Er maß Hagbard immer mehr Respekt zu.

„Also, Mr. Celine, was hat es jetzt auf sich mit Ihrem Deal, den Sie Agent Scully und mir anbieten wollten?“

„Es geht um ihr Fundstück in der Iron Villa“, antwortete Hagbard, der wollte, dass Doggett es alleine herausfand, vor allem, damit er nicht alles doppelt erzählen würde, denn Agent Scully hatte bestimmt ihrerseits auch Fragen.

„Den Schlüssel“, stellte Doggett fest, als Hagbard nicht weiter sprach.

Hagbard nickte.

„Den Schlüssel für die Schatulle, die Mavis nach dem vierfachen Mord stahl und die jetzt in Mr. Moons Besitz ist.“

„Korrekt“, bestätigte Hagbard und beobachtete Doggett, der versuchte seine Beweggründe für den Deal heraus zu finden.

„Sie wollen den Schlüssel wegen dem Zahlencode“, sagte Doggett langsam.

„Aber auch, um die Schatulle zu öffnen“, bestätigte Hagbard.

„Wieso brechen Sie sie nicht einfach auf?“

„Aus Respekt.“

„Respekt? Respekt vor wem – vor der Schatulle?“, fragte Doggett leicht spöttisch.

„Nein, aus Respekt vor der Kultur, die sie hergestellt hat“, stellte Hagbard ruhig klar.

„Welche Kultur?“

Hagbard lächelte. „Sie würden es mir nicht glauben, Agent Doggett. Genau darum sind die Schatulle und der Schlüssel so wertlos für sie. Und auch wenn Sie und Agent Scully den Bericht, den ich Ihnen erzählen werde, glauben; ihre Vorgesetzten werden es nicht tun – oder sie werden so tun, als würden sie es nicht glauben. Egal, wie Sie empfinden oder reagieren, Sie stehen vor dem Ende einer Sackgasse als kleine Marionette und sehen es nicht. Noch nicht.“

„Sie sprechen in Rätseln, Mr. Celine.“

„Haben Sie Geduld, Agent Doggett. Lassen Sie uns unseren Kaffee gemütlich austrinken, dann zum Potomac fahren und danach ...“

„Zum Potomac?“, unterbrach Doggett ihn.

„Yeah. Wir werden noch ein Assesoir, es ist eine Art Duftkerze, abholen. Ich bin ein sehr zeremonieller Mensch, der die Atmosphäre liebt“, erklärte Hagbard.

Doggett schüttelte imaginär den Kopf. An was für einen alten Freak war er da geraten? Aber hey, er arbeitete an den X- Akten, eigentlich sollte er daran gewöhnt sein.

„Und danach?“, griff Doggett den letzten Punkt von Hagbards Plan auf.

„Da ein einigermaßen neutraler Ort zu unsicher ist, wie wir heute Nachmittag erfahren haben, denke ich, sollten wir einen subjektiveren Aufenthalt wählen.“

„Und der wäre?“

„Bei Ihnen zu Hause, Agent Doggett.“



Als Hagbard und Doggett fünfzig Minuten später im Krankenhaus eintrafen, entdeckte Doggett Scullys Rotschopf in dem Wirren der Eingangshalle auf Anhieb. Mit einem Nicken dirigierte er Hagbard die Richtung.

„Sie scheinen ein Gespür für Ihre Partnerin zu haben, Agent Doggett“, kommentierte Hagbard grinsend und flüchtete vor einem Konter von Doggetts Seite, indem er an ihm vorbeieilte, während Doggett Stirn runzelnd einen Moment innehielt, aber bewusst nicht weiter darüber nachdachte.

Hagbard hatte Simon auf einer Stuhlreihe entdeckt und unterhielt sich bereits mit ihm, als Doggett sich durch die Masse in Richtung Scully gekämpft hatte. Sie hielt zwei Kaffeebecher in den Händen. Als sie Hagbard und Simon sah, grinste sie. Doggett empfand es als ungewöhnlich, ertappte sich darauf aber selbst bei einem Lächeln.



Eine Stunde war es nun her, dass Scully mit Simon Moon ins Krankenhaus kam. Jetzt lief sie mit zwei Kaffeebechern zur Stuhlreihe nahe dem Eingang, wo sie auf Doggett und Hagbard warten wollten. Als sie aufblickte, erkannte sie durch die Menschen hindurch Hagbard, der mit dem blassen Simon sprach. Scully gönnte sich ein Grinsen, dieser Simon Moon hatte sich als unter Blut-Phobie Leidender herausgestellt. Einmal war er bereits kollabiert, doch dieser Kaffee würde seinen Kreislauf schon wieder in Schwung bringen. Aus einem unterbewussten Reflex heraus, sah sie zur Seite und erblickte Doggett, der sich einen Weg zu ihr bahnte. Er lächelte kurz.

„Und?“, fragte Doggett sofort, als er sie erreicht hatte. „Wie ist es Ihnen ergangen, Agent Scully?“

„Nun ja, wenn Mr. Moon nicht so ein Weichei wäre, wären wir bereits fertig gewesen. Bis jetzt konnte ich mich nur wenig mit ihm unterhalten.“

„Ich kann Ihnen sagen, dieser Hagbard Celine ist ein gerissener Hund, aber ich glaube, er ist ehrlich. Er wollte noch nicht auf konkrete Dinge eingehen. Schätze, dass finden wir erst bei mir heraus.“

„Bei Ihnen?“, stutzte Scully.

Doggett blieb stehen, um ihr kurz alles zu berichten.

„Die Ausstellung war nach Mr. Celine ein neutraler Ort und scheinbar zu unsicher, also haben wir uns auf einen subjektiveren Ort geeinigt – falls Sie damit einverstanden sind.“

Scully nickte.

„Der Deal ist, dass Mr. Celine und Mr. Moon die Schatulle aus der Iron Villa haben. Sie wollen mit uns und dem Schlüssel die Schatulle öffnen“, Doggett machte eine kurze Pause. „Ich denke, wir können es wagen. Der alte Kauz scheint ´ne Menge über diese Mavis zu wissen, er scheint viele Antworten zu haben.“

„Wir sollten trotzdem vorsichtig sein“, erwiderte Scully.

„Ach ja -“, fragte Doggett im Weitergehen. „Mögen Sie eigentlich Chinesisch?“



Der oliv grüne High Peek Rucksack, in dem bis vor knapp zwei Stunden noch die Schatulle war, eine kleine, schwarze Nike –Reisetasche und eine Rechaud-Box kamen zum Vorschein, als Doggett den Kofferraum des Mercedes Benz vor Doggetts Haus in Falls Church öffnete. Hagbard nahm den Rucksack und hielt ihn Scully hin.

„Könnten Sie den nehmen?“, fragte er höflich.

Scully grinste kurz, da sie an Weichei Simons Stelle den Packesel mimen durfte, doch es verwunderte sie, dass Hagbard ihr die Schatulle anvertraute; Scully ertastete sie unauffällig im Rucksack.

„Haben Sie keine Angst, dass ich mit der Schatulle verschwinden könnte, Mr. Celine?“, verbalisierte sie ihre Gedanken.

„So schätze ich Sie nicht ein, Agent Scully“, antwortete er. „Ich glaube, dass Sie schärfer auf die Antworten, denn auf die Schatulle sind.“

Mit diesen Worten nahm er sich die kleine Nike Tasche, Doggett nahm die Rechaud -Box und Simon schloss den Kofferraum. Nachdem Doggett seine Haustür geöffnet hatte, führte er seine Gäste durch den Flur ins Wohnzimmer, wo sie ihr Gepäck abluden.

„Ich möchte gleich am Anfang eine angespannte Atmosphäre vermeiden“, begann Hagbard, als sie noch alle im Wohnzimmer standen. „Also, Agents, filzen Sie uns“, forderte Hagbard auf.

Doggett und Scully wechselten einen kurzen Blick, dann ging Scully zuerst auf Simon zu und tastete ihn ab. Aus seinen Taschen kam nichts Eindruck schindendes oder Gefährliches ans Tageslicht. Doggett untersuchte Hagbard danach mit demselben Ergebnis.

Während Scully ins Bad ging und sich frisch machte, deckte Doggett mit Hagbards Hilfe den Tisch. Simon zappte durch die TV- Programme. Eine Viertelstunde später saßen sie zusammen, Scully und Doggett auf einer Couch Hagbard und Simon gegenüber und aßen das chinesische Essen, das Hagbard und Doggett eingekauft hatten.

„Erzählen Sie doch mal etwas über sich, Mr. Celine“, forderte Scully ihn während des Essens auf.

Doggett stimmte ihr zu: „Sie scheinen ja schon über Agent Scully und mich bescheid zu wissen.“ Obwohl Doggett dies nur vermutete, klang es sehr überzeugt und Hagbard biss an.

„Nun, ich bin studierter und gelernter Anwalt sowie auch Ingenieur“, fasste Hagbard zwischen Kauen und Schlucken zusammen. „Als ich Anwalt für einen Stamm Mohikaner war, erkannte ich das Snafu-Prinzip...“

„Das Snafu-Prinzip?“, unterbrach Doggett.

Hagbard grinste: „Ich versuche es Ihnen so kurz wie möglich zu erklären: Jeder Bürger in jeder autoritären Gesellschaft verfügt über eine schwache Stimme, die jedes Mal, wenn ein Verlangen sich formuliert *Ist das auch sicher? Wird mein Frau, mein Mann, mein Chef, meine Kirche oder meine Gemeinde das gutheißen? Werden sich die Leute über mich lustig machen? Werden sie mich lächerlich machen? Wird die Polizei kommen und mich verhaften? * Anhänger von Freud nennen diese Stimme das *Superego *. Mit einer etwas funktionaleren Methode beschreiben Perls, Hefferline und Goodman in ihrer Gestalt Therapie diesen Prozess als *eine Reihe von konditionierten verbalen Einheiten *. Ich nenne es das Logogramm, jene Einheit, die von den Machthabern der autoritären Gesellschaft geschaffen wurde. Der Gegensatz zum Logogramm ist das Biogramm, das grundlegende DNS- Schema des menschlichen Organismus und seines Potentials. Das Biogramm blieb über mehrere hunderttausend Jahre hinweg unverändert; das Logogramm differiert von Gesellschaft zu Gesellschaft. Wenn das Logogramm das Biogramm verstärkt, haben wir eine indeterministische Gesellschaft, wie sie auch heute noch bei verschiedenen amerikanischen Indianerstämmen anzutreffen ist: Die Ethik der Indianer basiert darauf von Herzen zu sprechen und von Herzen zu handeln – das heißt, vom Biogramm. Keine autoritäre Gesellschaft kann das tolerieren. Autorität stützt sich an ihrer Gesamtheit darauf Männer und Frauen so zu konditionieren, dass sie vom Logogramm her handeln, denn, wie gesagt, das Logogramm ist jene Einheit, die von den Machthabenden geschaffen wurde. Jedes autoritäre Logogramm teilt die Gesellschaft, wie es auch das Individuum teilt, in zwei einander fremde Hälften.

Diejenigen am unteren Ende leiden unter dem, was ich die Last der Unwissenheit bezeichne, die nur nach dem Logogramm handeln und deren Biogramm mit der Zeit immer weniger „real“ wird. Die Funktion des Biogramms existiert dann, wenn überhaupt, nur noch in jenem Phantasieland, das Freud das Unbewusste nennt.

Der andere Teil der Gesellschaft sind diejenigen, die an der Spitze der autoritären Pyramide unter der Last der Allwissenheit leiden. Sie müssen versuchen für die ganze Gesellschaft zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken, zu fühlen und Entscheidungen zu treffen. Sie müssen für die ganze Gesellschaft nach dem Biogramm handeln.

Doch diese beiden Teile der Gesellschaft sind einander fremd. Komprimiert gesagt, mit dem Zitat *Kommunikation ist nur unter Gleichen möglich *, ist das Resultat eine zunehmende Desorientierung bei den Herrschenden. Und so steht am Ende das Debakel.

Diese Schizophrenie eines autoritären Regierungssystems existiert sowohl im Individuum als auch in der Gesamtheit der Gesellschaft. Das nenne ich das Snafu Prinzip“, schloss Hagbard. (S.244ff)

Mit diesem kleinen Vortrag hatte Doggett den Beweis für das, was er längst vermutet hatte: Der alte Mann, der Scully gegenüber saß, war gerissen und schlauer, als sie vermuteten. Deutlich sprach aus seinen funkelnden Augen Weisheit, Intelligenz und geistige Fitness.

„Wie ging es dann weiter, Mr. Celine, als Sie das Snafu Prinzip erkannten?“, fragte Scully nach einer kurzen Pause. Sie hatte den Faden nicht verloren.

Hagbard legte sein Besteck auf seinen leeren Teller und schob den Teller etwas weiter zur Tischmitte, um zu zeigen, dass er satt war. Trotz seines kleinen Redeschwalls hatte er es geschafft noch vor Scully seinen Teller zu leeren und noch etwas nach zu nehmen.

„Ich erkannte das Snafu Prinzip, was den Indianern herzlich wenig nützte. Sie verloren ihr Land an die Regierung und ich half ihnen bei ihrem Umzug. Das nächste, was ich tat, war meine Einbürgerungspapiere zu verbrennen und die Asche in einem Umschlag an den Präsidenten unseres geliebten Landes zu schicken.“ Doggett und Scully hörten den triefenden Sarkasmus, der mit den beiden letzten Wörtern mitklang, „zu schicken“ mit einer kleinen Notiz: * Alles was relevant ist, wird als irrelevant regiert. Alles Materielle wird als immateriell regiert. Ein Ex- Bürger. * So erging es meinen Entlassungspapieren aus der Armee, dessen Asche ich mit der Notiz: *Non serviam. Ein Ex- Sklave. * an den Verteidigungsminister schickte. Das Einkommensteuer- Formular für das Jahr schickte ich, nachdem ich es für Hygienezwecke auf der Toilette benutzt hatte, an den Finanzminister mit der Notiz: *Versucht ein armes Schwein zu berauben. Der Einzige. * Auf mein Exemplar von Das Kapital schrieb ich *Ohne Privateigentum gibt es kein Privatleben * und schickte es an Josef Stalin im Kreml. Dann rief ich meine Sekretärin an und gab ihr an Stelle einer Kündigung drei Monatsgehälter im voraus und verließ mein Anwaltsbüro auf immer. Kurz gesagt: Ich erklärte allen Regierungen dieser Welt den Krieg!“ (S. 242)

„Dann haben Sie auch uns den Krieg erklärt, wir sind die Handlanger der Regierung“, provozierte Doggett.

Doch Hagbard grinste nur kurz und seine Augen funkelten auf.

„Nein, Sie sind nicht meine Feinde, Sie sind eine Herausforderung.“

„Herausforderung?“, fragte Scully nach.

„Ja, ich würde Sie beide zu gerne in das Celinische System einführen, damit Sie ihre Marionettenfigur und die universale Marionettenfigur verstehen – aber leider geht der Deal vor.“



„Was ist das?“, fragte Scully stirnrunzelnd, als Hagbard einen goldenen, großen Apfel mit einem kleinen, goldenen Stängel aus seiner kleinen Nike-Tasche kramte und auf den Wohnzimmertisch stellte, der inzwischen abgeräumt war und nur noch mit Gläsern geschmückt war. Während Doggett, den Tisch mit Hagbard abgeräumt hatte, hatte Scully ihre Mutter angerufen, ob sie nicht die Nacht über in der Wohnung bei Will bleiben könnte, weil sie nicht wusste, wie lange dieses „Meeting“ noch dauern würde.

Der Apfel war groß und, Hagbards Bewegungen zufolge, aus schwerem Material. Auf einer Seite des Apfels war ein Loch in Form eines großen „K“s. Doggett erinnerte sich flüchtig an die asiatische Frau auf der Ausstellung, die einen solchen Apfel auf ihrem Stirnband getragen hatte.

Weiter kam ein Deckel zum Vorschein, als Hagbard den Stängel anhob.

„Ich erzählte Agent Doggett bereits, dass ich ein großer Liebhaber von Atmosphäre bin. Dieser Apfel funktioniert so ähnlich wie eine Duftkerze und verleiht mir ein Gefühl von etwas Heimischen. Ich meine, Sie sind im Haus Ihres Partners und fühlen sich wohl und sicher – ich habe lediglich einen angeschossenen Moon als Rückrad und darum haben Agent Doggett und ich den Apfel der Eris geholt, um auch mir ein Gefühl der Sicherheit und des Heimischen zu geben. – Ich erlaube mir ihn anzuzünden?!“, erklärte Hagbard und zauberte eine Schachtel Streichhölzer aus der Nike Tasche. Geschickt entzündete er das Innere des Apfels. Zuerst stieg etwas Qualm aus der „K“- Öffnung auf, der sich dann aber verflüchtigte und einen stärkeren Geruch hinterließ, der am Anfang nach langgetragenen Socken roch, dann aber immer schwächer wurde. Sei es, weil der Geruch bei der Entzündung entstanden und danach wieder verschwunden war oder man sich sehr schnell daran gewöhnte.

Doggett runzelte die Stirn. War es wirklich nur ein Duft, der da aus dem Apfel strömte oder sollte es vielleicht eine Droge sein? Aber was sollte sie bewirken, denn Hagbard und Simon hatten keinerlei Schutz vor dem Einatmen? Er verwarf sein Misstrauen und seine Frage, als Scully wieder Hagbard ansprach:

„Den Apfel der Eris?“

Hagbard grinste. „Eine weiterer Grund, warum ich den Apfel der Eris mitgebracht habe: er ist eine perfekte Überleitung.“

Doggett, der bereits keine Krawatte und kein Jackett mehr trug und sein Hemd etwas weiter aufgeknöpft hatte, setzte sich noch ein wenig bequemer auf die Couch, denn er hatte ein Gefühl, dass Hagbard ihnen jetzt wieder eine Geschichte erzählen würde.

„Der Ursprung des Symbols des Goldenen Apfels führt bis in den Olymp. Es ist die Insider -Geschichte der Lieben Diskordischen Frau, Eris, der Tochter des Chaos, der Mutter von Fortuna. Denn Eris war nicht zu einem zeremoniellen Ball eingeladen. Daraufhin fertigte sie einen Apfel an, der war aber aus Acapulco-Gold, nicht aus metallischem Gold. Sie schrieb „Korhhisti“ drauf, für die Allerschönste, und ließ ihn in den Bankettsaal rollen. Alle Anwesenden – nicht nur die Göttinnen, wie uns ein chauvinistischer Mythos glauben machen möchte – stritten sich nun darüber, wer das Recht hätte ihn zu ... besitzen. Und sie stritten sich heftig und bekamen durch die erhitzte Atmosphäre Visionen von vielen Greultaten, die bis heute geschehen sind. Dann sahen sie sich einander in Ungewissheit und mit Entsetzen an. Als sie aber ihre Blicke wieder dem Goldenen Apfel zuwandten und das Wort lasen, das Eris darauf geschrieben hatte, das multiordinalste aller Wörter: Kohhisti, wussten sie, dass jeder Gott und jede Göttin, und jeder Mann und jede Frau in tiefstem Herzen die Allerschönste war, der Lieblichste, der Unschuldigste, der Beste. Und sie bereuten es, die Liebe Diskordische Frau Eris nicht zu ihrem Fest eingeladen zu haben: * Warum hast du uns niemals zuvor gesagt, dass alle Kategorien falsch sind und alles Gute und Böse eine Sinnestäuschung begrenzter Perspektiven ist? * Und Eris sprach: * Da alle Männer und Frauen Schauspieler auf einer Bühne nach unserem Vermächtnis sind, so sind auch wir Schauspieler auf einer Bühne, geschaffen von den Fünf Schicksalsmächten. Ihr konntet nicht anders, als an Gut und Böse zu glauben und euer Urteil über eure Kreaturen zu fällen, über die Männer und die Frauen dort unten. Das war ein Fluch, mit dem die Schicksalsmächte euch belegt haben! Aber jetzt ist euch der Große Zweifel gekommen und ihr seid frei. * Daraufhin verloren die Olympianer ihr Interesse am Gottspielen und wurden schon bald von den Menschen vergessen.“ (S. 234f)

„Und alle lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Ende!“, fügte Scully in Gedanken hinzu.

„Aber das war nur die Geschichte des Goldenen Apfels“, erzählte Hagbard weiter. „Des Symbols, das wir uns angeeignet haben. Nun, nicht nur Simon und ich stecken hinter diesem Symbol und nicht nur Simon und ich haben allen Regierungen den Krieg erklärt; hinter uns steht eine Gruppe. Wir nennen uns * Die Legion des Dynamischen Diskords * und unser Vorbild ist Eris, die als Zeichen für Neophilie und Chaos steht. Wir sind nicht auffällig, Sie beide würden uns nicht auf offener Straße dieser Gruppe zuordnen, weil sie die Gruppe nicht kennen. Denn unser Krieg gegen alle Regierungen geht über alle Regierungen hinaus zu den wirklichen Machthabern und Fadenzieher, deren Ursprung und Plan Tausende von Jahren zurück reicht und immer mehr Form und Schrecken annimmt. Sie nennen sich die *Illuminaten *. Im Gegensatz zu uns sind sie die Neophoben und Ordnungs-Wahnsinnigen.“ Hagbard hielt inne.

Doggett hatte ein seltsames Gefühl, sein Körper begann sich ein wenig taub anzufühlen, gleichzeitig war er aber total entspannt und es schien ihm, als verstünde er jedes Wort, das aus Hagbards Mund zu seinem Ohr drang. Er drehte seinen Kopf von Hagbard weg und zu Scully, die einen kurzen Augenblick später auch ihren Kopf zu ihm drehte. Eigentlich wollte er versuchen aus ihrem Gesichtsausdruck zu lesen, ob sie Hagbards Glaubwürdigkeit nun abgeschrieben hatte oder ob sie immer noch offen war. Jedoch alles, was er wahrnahm und was in seinen Gedanken widerhallte, war die plötzliche Intensität ihrer Schönheit! Er hatte schon vorher gewusst, dass sie bildhübsch war und dass er unter anderen Umständen sofort versucht hätte sie für sich zu gewinnen. Seinerseits wusste er, dass da mehr sein könnte, als ihre berufliche Partnerschaft. Doch jetzt war ihr Anblick noch ... berauschender. Ja, er fühlte sich berauscht. Doggett fuhr sich mit der Hand über die Augen, er war im Dienst, er war ein Profi, da sollte er sich auf den Fall und die beiden ihm gegenüber sitzenden Freaks konzentrieren und nicht auf seine Partnerin; nicht in diesem Sinne, denn es überkam ihn ein seltsames Kribbeln, das unwiderruflich auf sexuelle Erregung hindeute. Er kräuselte die Stirn, das war ihm noch nie passiert. Hagbard hatte die ganze Zeit geredet und Scully war das einzige Weibliche, das einzig Stimulierende im Raum. Sein Blick glitt von ihrem Gesicht zu dem Goldenen Apfel auf dem Tisch.

„Sie wissen, Mr. Celine, dass ich Regierungsangestellter bin und keine Drogen dulde, vor allem nicht in meinem Haus!“, sagte Doggett bestimmt. Es kam ihm vor, als ob er langsamer redete als normal.

„Sehen Sie mich einen Joint rauchen, Mr. Doggett?“, fragte Hagbard unschuldig.

„Sie rauchen nicht, aber der Apfel“, schaltete sich Scully ein, die sich wie Doggett fühlte: total konzentriert, irgendwie verlangsamt, taub, aber entspannt und erregt. Sie versuchte dieses Kribbeln mit ihrer Konzentration auf die Situation zu verdrängen: Waren diese Diskodier vielleicht ein Drogenkult? Vielleicht brauchten sie keine Pistolen oder ähnliches und waren gar nicht so wehrlos, wie sie es den beiden Agenten weiß machen wollten?

„Wenn Ihnen unbehaglich zumute ist, werde ich den Apfel löschen“, gab Hagbard scheinbar nach.

Er erhob sich vom Sofa, hielt aber inne und griff zurück zur Couch, wo sein Jackett lag. Aus seiner Tasche zauberte er ein kleines Heft.

„Ach ja, hier ist eine kleine Gute-Nacht Lektüre“, grinste Hagbard und reichte es in die Mitte der Agenten, so dass Doggett und Scully zusammen rutschten, um beide das Heft, das Doggett entgegen genommen hatte, zu betrachten. *Pfeif Nicht, Wenn Du Pisst * war der Titel, der Autor * Hagbard Celine, H.M, S.H. *

„Sie haben das verfasst?“, fragte Doggett.

Hagbard, der stand und gerade den Deckel vom Goldenen Apfel gelöst hatte, beugte sich mit dem Apfel über den Tisch zu den beiden Agenten, als ob er sich versichern musste, was für ein Heft Doggett in den Händen hielt.

„Yeah.“, antwortete er ernst und blies in den Apfel, so dass ein ganzer Schwall Qualm aus der K- Öffnung Scullys und Doggetts Gesicht umhüllte. Aus schreckhaftem Reflex atmeten Doggett und Scully tief ein.
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