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Lost Investigations - Der Pavillon

von meiko

The X-Files: Lost Investigantions 5.5 - Der Pavillon

The X-Files: Lost Investigantions 5.5 - Der Pavillon

by meiko




Devil's Forest, Wisconsin
6:02 p.m.

Erdrückende Stille hing wie eine schwere Gewitterwolke über den Wäldern, als Harold Fender seinen Jeep am Waldrand parkte und pfeifend ausstieg.
Es dunkelte bereits, und in weniger als einer Stunde würde die Nacht hereinbrechen, würde den violetten Abendhimmel mit einem dunklen Schleier überziehen und einen Herbsttag beenden, der für einen Mitarbeiter der örtlichen Forstbehörde bereits viel zu lange dauerte.
Dennoch stiefelte Harold gut gelaunt durch das raschelnde Laub. In einer halben Stunde würde er seine Arbeit getan haben, und dann würde ihn nichts mehr davon abhalten, nach Hause zu fahren und sich gemütlich mit einem Glas Bourbon...
Harold stutzte. Der Schein der Abendsonne fiel in goldenen Bahnen auf die Lichtung und ließ die Messingkuppel eines kleinen Pavillons aufblitzen. Er kannte das zierliche Bauwerk, denn es stand hier schon, seit er als kleiner Junge mit seinem Vater durch die Wälder gestreift war, dennoch... Heute lag ein merkwürdiger Zauber über der Gegend, so als würde ein unsichtbares Tuch jedes Geräusch dämpfen.
Abgesehen von jenem Klopfen.
Unruhig blickte sich Harold um, und plötzlich - ohne erkennbare Ursache - überfiel ihn kalte Furcht, jagte ihm durch Mark und Bein und ließ ihn zitternd zusammenbrechen.
Ein Schatten fiel auf ihn, und als er den Kopf hob, sah er die undeutlichen Umrisse eines Fremden. Harold kniff die Augen zusammen, denn das Licht der untergehenden Sonne brannte höllisch auf seiner Netzhaut.
Dann spürte er, wie ihn das Bewusstsein verließ.
"Du wirst keinen Schmerz spüren", sprach der Fremde.



[Opening Credits]
Spoiler: Episode 4.15 “Memento Mori”




FBI Headquarters,
Washington DC
8:23 a.m.

Leises Surren erklang, als Fox Mulder den Projektor anschaltete und die blassen Fotos an der Wand betrachtete.
Luftaufnahmen eines großen Waldgebietes zuerst, dann näher herangerückte Fotografien einzelner markanter Punkte der Landschaft, deren herbstliche Farbgebung das Auge beruhigte.
"Hier", rief Mulder. "Das ist es. Scully?"
Agent Dana Scully kämpfte mit der Müdigkeit. Seit dem Tag, da sie ihre Krebsdiagnose erhalten hatte, war so vieles in ihrem Leben anders geworden.
"Alles in Ordnung mit Ihnen?", fragte Mulder besorgt.
Dana nickte und straffte die Schultern. "Ja, ich war nur nicht ganz bei der Sache."
"Sind Sie sicher, dass Sie hiermit weitermachen wollen?"
"Danke, es geht schon." Sie brachte ein Lächeln hervor. "Worauf wollen Sie hinaus?"
Ihr Partner zögerte, dann gab er das Lächeln zurück und deutete wieder auf die Projektionswand.
"Dies ist der Devil's Forest bei Park Falls. Ein weit ausgedehntes Waldgebiet und einer der großen Naturschätze des Staates Wisconsin."
"Und was hat dieser Wald mit uns zu tun?", fragte Scully.
Die Sorge in Mulders Augen erlosch und machte einer gehörigen Portion Jagdeifer Platz. "Also kommen Ihnen die Worte Devils Forest und Terry Craddock nicht bekannt vor?"
Scully überlegte. "Nein. Aber wie ich Sie kenne, verbirgt sich hinter diesen Namen mal wieder eine Geschichte."
"Exakt. Die Legenden kursieren schon, seit sich die ersten Siedler dort niederließen. Wie viel davon aus alten Sagen der Algonkin-Indianer übernommen wurde, kann ich Ihnen nicht sagen. Fest steht nur, dass in dieser Gegend immer wieder Geschichten von Terry Craddock auftauchten - besser bekannt als Das Phantom. Terry verschwand eines schönen Tages im März 1973 spurlos.“ Das unscharfe Bild eines jungen Mannes mit Brille und Vollbart erschien auf der Leinwand. „In den darauf folgenden Jahren wurden seither immer wieder Fälle von plötzlichem Verschwinden im Umkreis dieses Waldgebietes dokumentiert. Beunruhigend genug - keiner dieser Fälle ist bis zum heutigen Tage aufgeklärt worden."
'Im Westen nichts Neues', dachte Dana bitter. "Irgendwelche handfesten Beweise, dass das Phantom dahinter steckt?"
"Bis Freitag Abend nicht. Da aber griff ein Streifenwagen eine verwirrte oder verdächtige Person auf - einen Harold Fender von der örtlichen Forstbehörde."
Danas Augen weiteten sich. "Lassen Sie mich raten: Er gibt an, von diesem Phantom angegriffen worden zu sein!"
Mulder zog einen Stuhl zu sich heran und stützte sich auf die Rückenlehne. "Scully, wenn das wahr ist, haben wir hier die einmalige Chance, das Verschwinden von mehr als zehn Personen auf einen Schlag aufzuklären."
'Vielleicht ist es keine schlechte Idee, jetzt auf andere Gedanken zu kommen', überlegte Scully, und mit einem Mal überkam sie die unbändige Lust, einfach ihre Sachen zu packen und die Stadt zu verlassen.
Ein hoffnungsvoller Blick tauchte in ihren Augen auf. "Dann lassen Sie uns keine Zeit verlieren, Special Agent."



Devil's Forest, Wisconsin
3:34 p.m.

"Ich hätte die Geschichte zwar am liebsten vergessen, aber diese Polizisten waren ja der Meinung, unbedingt das FBI hinzuziehen zu müssen. Na, wenn Sie schon mal hier sind, kann ich Sie auch 'rumführen." Harold Fenders einnehmendes Lächeln begleitete den kräftigen Händedruck, mit dem er Scully und Mulder begrüßte.
"Das sind also die Teufelswälder? Huuu..." Mulder ignorierte den strafenden Blick seiner Partnerin und warf die Autotür hinter sich zu.
Scully beobachtete interessiert, dass der Knall des zuschnappenden Schlosses merkwürdig gedämpft zu ihr herüber klang.
"Eigenartig", flüsterte sie Mulder zu, als sie durch das knöchelhohe Laub wateten. "Spüren Sie das auch, Mulder? Es ist, als würde eine große Hand über dem Wald schweben und jedes laute Geräusch schlucken."
"Das Gefühl kenne ich", gab er zurück. "Wenn Sie wieder in New York sind, sollten Sie unbedingt mal das Erotic-Non-Stop besuchen. Allein die dicken Plüschsessel, hmm..." Er schloss genussvoll die Augen und schaffte es irgendwie, ihrem Rippenstoß auszuweichen.
Sie folgten Fender durch die Bäume. Hundert Meter weiter wichen die eng stehenden Gehölze plötzlich zurück und gaben den Blick auf eine wunderschöne Lichtung frei. Zart gesponnenes Licht fiel in feinen Bahnen durch die Äste der umstehenden Bäume und wob ein feines Netz über den Waldboden.
'Verwunschen', war das Erste, das Scully in den Sinn kam, als sie die Lichtung betrat. Und tatsächlich schien ein Zauber über den Baumstämmen und dem kleinen Pavillon zu liegen.
Das schwindende Chlorophyll ließ die Blätter in allen möglichen Farbtönen leuchten - vom hellen Gelb bis hin zum tiefroten Karmesin.
"Steht der Pavillon schon lange hier?", wollte Mulder wissen.
Harold Fender ließ den Kopf nachdenklich hin und her pendeln. "Länger, als ich zurückdenken kann. Ich habe nie irgendwelche Unterlagen über seine Herkunft finden können, aber ich denke... Seit 200 Jahren steht er bestimmt schon hier."
"Es sieht fast so aus wie in einem alten englischen Garten", sagte Mulder und Scully registrierte erleichtert die vage Unruhe in seiner Stimme. Dann konnte er es also auch spüren!
"Wo sind Sie angegriffen worden?", wollte sie wissen.
Fender zeigte ihnen die Stelle, unmittelbar vor dem kleinen weißen Gebäude.
Mulder sah sich um. "Ich schätze, wir sind wenigstens 24 Stunden zu spät gekommen. Falls es Spuren im Laub gegeben hat, dann hat die Feuchtigkeit im Wald dafür gesorgt, dass alle Eindrücke inzwischen wieder verschwunden sind. Das ist ein ähnliches Phänomen wie die Fußabdrücke in frischem Gras, deren Haltbarkeit von Witterungsbedingungen wie Wind oder Regen abhängig ist."
Er wandte sich wieder dem Forstarbeiter zu. "Harold, haben Sie schon einmal von Terry Craddock gehört?"
"Das Phantom? Soll das ein Witz sein? Ich bin praktisch mit diesen Geschichten aufgewachsen."
"Aber es sind doch nur Geschichten, nicht wahr?"
Fender ließ den Blick zwischen Mulder und Scully hin und her wandern. "Kommen Sie mit", sagte er dann. "Ich möchte Ihnen etwas zeigen."

Mulder ließ die Hand über die verwitterte Farbe der alten Holzplanken gleiten, aus denen man das kleine runde Gebäude errichtet hatte. Und obwohl es einen weißen Anstrich zu haben schien, stellte sich dieser bei näherer Betrachtung als bröckelnder, schmutziggrauer Überrest heraus.
„Wann hier wohl das letzte Mal renoviert worden ist?“, fragte Scully.
Fender zuckte mit den Schultern. „Als Kind bin ich gelegentlich mit meinem Vater hier gewesen. Einmal hatten wir einen Eimer Farbe mit dabei. Wissen Sie, Agent Scully, die öffentliche Hand hat genug mit dem Erhalt der Gebäude in den Städten zu tun. Und solch abgelegene Dinge wie diesen Pavillon pflegt die Verwaltung meist gar nicht wahrzunehmen. Das ist schade, aber die Mittel sind nun mal knapp.“
Er drückte die Tür der Veranda auf und ließ die Agenten eintreten.
„Ich komme mir vor wie in einer anderen Welt“, sagte Mulder und hatte unwillkürlich die Stimme gesenkt. „Ob die Zeit hier stehen geblieben ist?“
Die Inneneinrichtung war höchst einfach: Ein gusseiserner Gartentisch, eiserne Stühle mit antiquierten Verzierungen – und über allem lag eine dicke Schmutzschicht. In der Luft schwebten unzählige, durch ihr Eintreten aufgewirbelte Staubpartikel.
„Was wollten Sie uns zeigen?“, fragte Scully.
Harold bückte sich, schob einen Teppich zur Seite und hob mühsam ein schweres Holzbrett an. „Wenn Sie mit anfassen würden, ginge es wesentlich schneller“, keuchte er.
Mulder und Scully eilten ihm zu Hilfe und stützten die Bodenluke mit einem Brett ab.
Mulder ließ die Taschenlampe aufblitzen. „“Ein Keller?“
„Sehr ungewöhnlich“, murmelte Scully.
„Aber das ist noch nicht alles“, sagte Harold und stieg die Stufen des Gewölbes hinab. „Folgen Sie mir!“

Harold sah sich um und deutete mit der Hand auf eine Nische in der Wand. „Den Keller habe ich entdeckt, als ich in meiner Jugend ein Versteck vor der grausamen Welt gesucht habe. Sie wissen ja, wie das ist, in der Pubertät. Allerdings wollte ich auch niemandem davon erzählen – schon gar nicht der Polizei. Wissen Sie, wenn man mit gewissen bewusstseinserweiternden Substanzen experimentiert… Wie dem auch sei, seit damals bin ich nie wieder hier unten gewesen.“
„Mulder“, flüsterte Scully und ihr Partner schwenkte den Lichtstrahl über die Nische. Ein Bett, ein Schreibtisch, und an den Wänden…
Staubbedeckte Fotos, uralt und verblichen.
Fox Mulder trat ganz nah an die Wand heran. „Ich glaube, wir haben eine Spur der Vermissten gefunden“, sagte er mit brüchiger Stimme.

Ein dumpfes Poltern ertönte. Mulder bemerkte aus den Augenwinkeln eine Bewegung und wirbelte herum, doch es war Harold Fender, der – von der Lampe geblendet – die Augen zusammenkniff und sich die Hände an der Hose abwischte.
Das von oben hereinfallende Licht war verschwunden, und abgesehen von Mulders Taschenlampe war es nun stockdunkel.
„Was ist mit der Luke?“, rief Scully. „Was haben Sie getan?“
Doch Harold schien gar nicht hinzuhören. „Das wäre getan“, sagte er zufrieden. „Und nun heißt es abwarten.“



Washington D.C.
FBI Headquarters
3:27 p.m.

Das Telefon klingelte und ließ Assistant Director Walter Skinner aufschrecken. Ungewöhnlich genug, aber er war mit seinen Gedanken weit fort gewesen und hatte sich gefragt, ob es klug gewesen war, Scully diese Dienstreise zu genehmigen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie sich erst einmal eine Auszeit genommen hätte, aber andererseits… Viele Menschen lehnen es nach einer solchen Diagnose ab, die Hände in den Schoß zu legen.
Das Telefon gab keine Ruhe.
Stirnrunzelnd schob Skinner die Gedanken beiseite und nahm das Gespräch entgegen.
„Charley?“ Sein Gesicht hellte sich auf. „Weißt du, wie lange das jetzt schon her ist?“
„Ich weiß, ich weiß“, beschwichtigte die Stimme am anderen Ende. „Ich hätte schon längst mal angerufen, aber du weißt ja wie das ist...“
„Was gibt es Neues bei euch?“
Skinner konnte im Geiste sehen, wie Charley Stevenson vom Park Falls Police Department sich am Kopf kratzte. „Ich fürchte, ich habe keine guten Nachrichten. Deine Agenten befinden sich wahrscheinlich in Gefahr. Du wirst nicht glauben, wen ich hier am Schreibtisch zu sitzen habe.“



Park Falls Police Department, Wisconsin
3:35 p.m.

Stevenson legte behutsam den Hörer auf und starrte nachdenklich auf sein Vernehmungsprotokoll. Es mochte Tage geben, da es nützlich war, einen guten alten Bekannten zu haben, der es bis in die Chefetage des FBI geschafft hatte – an anderen Tagen jedoch verfluchte er die Umstände.
Als seien die Dinge nicht ohnehin schon kompliziert genug.
Seufzend drückte er einen Knopf an der Sprechanlage der Telefonanlage.
„Miss Chelsea, wo ist der Unglücksmensch, der diesen angeblichen Forstarbeiter während seiner Streife aufgelesen hat?“, brummte er. „Wenn er seine Personalien vernünftig überprüft hätte, dann wäre uns ein großer Haufen Ärger erspart geblieben.“
Der Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches stützte stöhnend den bandagierten Kopf in die Hände. „Wie lange dauert das denn noch?“, fragte er. „Kann ich jetzt gehen?“
Stevenson hob beschwichtigend die Hände. „Verzeihung, dass wir Sie so lange warten lassen mussten, Mr. Fender. Mir ist klar, dass wir Sie in Ihrem Zustand weitestgehend schonen müssen, allerdings hat es einige Probleme gegeben.“ Er wechselte unbehaglich seine Sitzposition. „Ist es möglich, dass Sie noch einmal versuchen, sich an die Ereignisse zu erinnern? Wir haben Sie bewusstlos an der südwestlichen Zufahrtsstraße zum Devil’s Forest gefunden. Von Ihrem Dienstwagen fehlt jede Spur.“
„Sie wollen wissen, was geschehen ist, nachdem man mich niedergeschlagen hat?“ Harold Fender öffnete den Mund, sein Blick glitt ins Leere. Für einen Moment sah es so aus, als würde das Erinnern zurückkehren, doch schließlich ließ er müde die Schultern sinken. „Tut mir leid, aber es ist alles weg. Vielleicht später... Dr. Richards war der Ansicht, dass die Erinnerung mit etwas Ruhe und Erholung sicher wieder zurückkehren würde.“
Charley nickte resigniert. Man konnte es nicht erzwingen, nicht bei zeitlich begrenzter Amnesie. „Danke, Sie waren uns trotzdem eine große Hilfe“, sagte er, erhob sich und schüttelte Harold die Hand. „Gehen Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus. Falls Ihnen noch etwas einfällt – Sie wissen ja, wo Sie uns finden.“



Devil's Forest, Wisconsin
4:17 p.m.

Scully hatte ihre Pistole aus dem Halfter gerissen und zielte auf den Kopf des Mannes, der sich ihnen als Harold Fender vorgestellt hatte. Ihr war schwindelig und sie spürte eine eigenartige Schwäche die Nervenbahnen hinauf kriechen – was umso merkwürdiger war, da ihr Körper in diesem Moment genug Adrenalin produzierte, um sie mehrere Stunden unter Hochspannung zu halten.
„Was geschieht hier?“, fragte sie mit scharfer Stimme.
Ihr Gegenüber ließ sich gelangweilt auf den Treppenstufen nieder. „Ich warte“, sagte er einfach. „Irgendwann werden Sie schwach genug sein. Wenn Sie Ihre Pistole nicht mehr halten können, ist meine Zeit gekommen.“
„Nicht mit uns“, stieß Mulder wütend hervor und packte den falschen Forstbeamten am Kragen, doch der lachte nur laut auf, als er sah, wie der FBI Agent ihn nach verborgenen Waffen absuchte.
„Aber Sie können gar nichts dagegen machen“, rief er leichthin.
Mulder wechselte einen Blick mit Scully. „Kommen Sie“, sagte er knapp und deutete auf die Kellertür.
Mit vereinten Kräften stemmten sie sich dagegen, drückten, schoben – doch die Luke bewegte sich keinen Zentimeter vom Fleck. Außer sich gab Mulder einen Schuss auf die Bohlen ab – vergebens.
Irgendwann reichte es Mulder. Schnaufend sprang er die Stufen herab und leuchtete dem Älteren ins Gesicht.
„Raus mit der Sprache. Wo ist der Mechanismus verborgen, der diese Tür öffnet?“
Keine Antwort, desinteressiertes Schweigen.
„Sie glauben doch nicht, dass Sie mit dieser Taktik ans Ziel kommen?“, rief Mulder.
„Nein? Was wollen Sie denn machen?“, fragte der falsche Fender. „Mich erschießen?“
„Zum Beispiel.“
„Das glaube ich eher nicht. Ehe Sie Ihre Waffe abfeuern, müssen Sie doch bergeweise Anträge ausfüllen. Diese Behörden sind überall gleich – in jeder Zeit.“
Mulder trat einen Schritt zurück und ließ die Pistole sinken. Es hatte keinen Zweck, in sinnlose Wut zu verfallen, denn so würden sie das Problem kaum lösen können. Offenbar hatte ihr Angreifer nicht vor, irgendetwas gegen sie zu unternehmen, noch nicht. Auf jeden Fall blieb ihnen genug Zeit, die Lage neu zu bewerten.

„Mulder, ich...“ Scullys schwache Stimme ließ ihn zusammenzucken. Er gab dem Fremden einen Stoß, so dass dieser in die Ecke taumelte und wandte sich dann seiner Partnerin zu.
„Scully?“
Sie atmete schwer, und auch er selbst konnte eine drastische Verschiebung in seinem Allgemeinzustand feststellen. Er hatte Durst und bekam immer schwerer Luft.
Dana ließ sich an der Wand zu Boden gleiten und betastete ihre spröden, eingetrockneten Lippen. „Was ist das? Geht es Ihnen genauso?“
Mulder wollte antworten, doch die Worte blieben ihm in der ausgedörrten Kehle stecken. So konnte er nur hilflos den Kopf schütteln und ihr beruhigend die Hand auf den Arm legen.
Dann erhob er sich, wobei ihn sofort wieder ein übles Schwindelgefühl packte und ihn nach Halt tasten ließ.
„War das Ihre Methode, in den vergangenen 20 Jahren? Haben Sie Ihre Opfer erst außer Gefecht gesetzt und sie dann einfach verschwinden lassen? Sie sind nicht der, für den Sie sich ausgeben, richtig?“
Scully griff nach Mulders Hand. „Aber... wer ist er dann?“
Der Fremde warf den Kopf in den Nacken und lachte leise. „Ihr Partner hat mich schon durchschaut, Agent Scully. Nein, ich bin nicht Harold Fender, denn der ist mir durch ein dummes Missgeschick leider entwischt. Ich bin Terry Craddock.“



Park Falls Police Department, Wisconsin
7:29 p.m.

Im Büro herrschte fieberhafte Aufregung. Polizisten liefen kreuz und quer, Sekretärinnen balancierten Kaffeebecher zwischen Computermonitoren und Einsatzleitern hindurch und alle paar Sekunden schrillten die Telefone.
Charlie Stevenson hatte sich über einen Kartenausschnitt auf dem Tisch gebeugt und deutete mit dem Kugelschreiber auf zwei Weggabelungen am Waldrand.
„Hier könnte es gewesen sein – oder hier.“
„Genauer können wir es nicht eingrenzen?“, fragte Assistant Director Skinner.
Charlie schüttelte den Kopf. „Dieser Mitarbeiter unserer Forstbehörde hat ganz schön was abgekriegt. Ich bin froh, dass wir überhaupt ein paar zusammenhängende Aussagen aus ihm herausbekommen haben.“
„Gut“, sagte Skinner, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. „Dann konzentrieren wir die Suche am Anfang auf diese beiden Punkte und schwärmen von dort mit unseren Teams aus. Irgendwo müssen sie ja sein.“



Devil's Forest, Wisconsin
8:57 p.m.

Natürlich! Die Aufnahme in ihrem Büro war zwar mehr als zwei Jahrzehnte alt, und auch die Brille und der Bart waren verschwunden. Aber nun wurde Scully endlich klar, warum ihr der Mann von Anfang an so vertraut vorgekommen war.
Nach Craddocks letzten Worten war unheimliche Stille eingekehrt, und er hatte sich geweigert, noch irgendetwas zu sagen. Stattdessen hatte sich das Phantom nur in eine dunkle Ecke zurückgezogen und beobachtete die beiden Agenten aus lauernden Augen.
Das gedämpfte Schweigen auf der Lichtung, das ihnen von Anfang an aufgefallen war, hatte sich zu vollkommener Lautlosigkeit entwickelt. Die Wirklichkeit dort draußen – falls sie tatsächlich noch existierte - war in weite Ferne gerückt.
Scully bemühte sich, flach aber gleichmäßig zu atmen. Ihr Hals schmerzte höllisch und der Durst wurde immer schlimmer. Eine Bewegung wagte sie schon seit Stunden nicht mehr zu machen – aus Furcht, sie würde das Bewusstsein verlieren, so wie ihr Partner.
„Mulder?“, flüsterte sie mit schwacher Stimme.
Völlig unerwartet bewegte er sich und hob den Kopf, nickte ihr kaum merklich zu.
„Was ist mit uns los?“, fragte sie verzweifelt.
Einige Sekunden verstrichen, dann erklang Fox’ zitternde Stimme. „Es geschieht so, wie es allen Opfern in den vergangenen 20 Jahren ergangen ist. Er lockt sie hierher, oder sie finden diesen Ort rein zufällig... ich weiß es nicht. Irgendwie scheint er sich von unserer Lebensenergie zu ernähren.“
Sie versuchte ein spöttisches Lächeln. „Das ist doch Unsinn.“
Mulder schüttelte den Kopf. „Sehen Sie ihn doch nur einmal an, Scully. Und dann vergleichen Sie ihn mit unserem Zustand. Ist er in irgendeiner Weise geschwächt? Sieht er aus, als würde er gleich zusammenbrechen?“
Die Anstrengung der letzten Worte war zu viel für ihn und sein Kopf sank auf die Brust hinab.
Scullys Verstand weigerte sich noch immer, die Worte ihres Partners zu akzeptieren. „Ich bin sicher, dafür gibt es eine... logische Erklärung. Mulder? Mulder?“
Er antwortete nicht; er hatte endgültig das Bewusstsein verloren.

***

Wie eine verlöschende Flamme flackerte das Leben in ihr auf - wurde heller, um gleich darauf in Finsternis zu vergehen. Seit wie vielen Stunden hatten sie kein Wasser mehr getrunken?
Scully konnte die Symptome zweifelsfrei erkennen: Dehydratisierung, extremer Wassermangel und die damit verbundenen Folgeerscheinungen: Exsikkose mit Krampfanfällen und Verwirrungszuständen.
Benommen richtete sie sich auf und ließ den Strahl der Lampe ein weiteres Mal durch den Keller wandern. Dort, wo vermutlich Terry Craddock wie ein Aasgeier in seiner Ecke lauerte, rührte sich nichts. Es bleib dabei: Er stellte keine akute Gefahr dar - nicht, solange sie noch ein Lebenszeichen von sich gaben.
Scully konzentrierte sich. Jetzt kam alles darauf an, Zeit zu gewinnen.
„Diesmal sind Sie zu weit gegangen. Sie haben nicht die geringste Chance“, sagte sie, doch jedes Wort fiel ihr schwer und mühte sich nur zögernd über die Lippen. „Wie konnten Sie nur glauben, dass Sie zwei Bundesagenten einfach verschwinden lassen können? Sie können sicher sein, dass man Ihnen bereits auf der Spur ist.“
Ein unheimliches Lachen aus der Ecke.
„Auf der Spur? Aber nein. Es wird keine Spuren geben. Es hat niemals welche gegeben, wissen Sie das nicht?“
Seine Worte durchbrachen die Stille nicht – sie verstärkten sie nur. Schweigen senkte sich auf Scully und nahm ihr den Atem. Verzweifelt kämpfte sie gegen die drohende Ohnmacht an und wusste doch im gleichen Augenblick, dass sie das Unvermeidliche nicht mehr länger hinausschieben konnte.

Ein Klopfen erklang. Leise zuerst, dann immer lauter, stetig anschwellend. Wie in Zeitlupe bewegten sich Craddocks Hände.

Dann drangen ferne Schläge an ihr Ohr, entfernt - wie aus einer anderen Welt stammend. Das Klopfen und auch die dumpfen Schläge wurden lauter. Schließlich splitterte irgendwo Holz und ein Lichtkegel fiel in ihr dunkles Verlies. Starke Scheinwerfer schwenkten und her und wirres Stimmengewirr erhob sich.
Das muss das Ende sein, dachte Scully. Das sind also die ersten Wahnvorstellungen. Ihr letzter Eindruck war die hoch aufgerichtete Gestalt von Terry Craddock, der wild schreiend auf sie zugestürzt kam. Ein Schuss peitschte durch die Stille und das Phantom brach wenige Zentimeter vor ihr zusammen. Dann verschwand dieses Bild und eine tiefe Ohnmacht umfing sie mit weichen Armen.



239a State Route, Wisconsin
11:02 p.m.

Als Scully erwachte, spürte sie die Kanüle einer Infusion an ihrem Handrücken. Erleichtert atmete sie auf. Ihr Mund fühlte sich noch sehr trocken an, doch die Flüssigkeit und Elektrolyte, mit denen man sie in den letzten Minuten versorgt hatte, begannen bereits, ihre Lebensgeister zu mobilisieren.
Draußen, vor den Scheiben des Ambulanzfahrzeugs glitt die Nacht vorüber - nur gelegentlich vom Leuchten vereinzelter Reklametafeln unterbrochen.
Ihr Blick fiel auf Mulder, der unter Beobachtung eines Sanitäters gesichert auf seiner Liege lag. Assistant Director Skinner saß müde auf einer Seitenbank. Nun blickte er auf und als ihre Blicke sich trafen, huschte ein erster Hoffnungsschimmer über sein Gesicht.
Es konnten noch einige Stunden vergehen, ehe Mulder das Bewusstsein wieder erlangte. Aus irgendeinem Grund hatte sein Körper wesentlich heftiger auf die bisher unbekannten zerstörerischen Einflüsse reagiert.
Scully dachte an Mulders Worte zurück und fragte sich, wie viel von seiner Ahnung den Tatsachen entsprechen mochte. Zweifellos – sie hatten das Schicksal der zahllosen Verschwundenen aufgedeckt, doch alles in ihr sträubte sich dagegen, Mulders Theorien zu übernehmen. Zumindest so lange, wie sie noch eine wissenschaftliche Erklärung für die Vorgänge finden konnte. Ihr Zustand hieß Exsikkose, hervorgerufen durch die Dehydratisierung ihrer Körper. Doch so unangenehm es war - sie hatte nicht die geringste Ahnung, was diesen Zustand ausgelöst hatte. Mineralien oder geologische Besonderheiten in der Umgebung des Pavillons vielleicht? Ein im Erdreich begrabener Meteorit? Vollkommen unklar blieb außerdem, wie Craddock an die vielen Details aus Harold Fenders Leben gelangt war.
Scully ließ sich wieder auf die Liege sinken. Ihre Gedanken wanderten zu den Röntgenaufnahmen ihres Krebsgeschwürs zurück und wieder tauchte die Frage in ihr auf, ob es die Sache wirklich wert sei.

Mulders bleiches Gesicht, Skinners besorgter Blick…

Eines Tages würde sie die Antwort geben können, doch nicht heute. Zuerst musste diese Nacht vorübergehen.
Erschöpft schloss sie die Augen und schlief ein.

Ende.




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