World of X

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Hundstage

von Miss Bit

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Regentropfen rutschen langsam an der Fensterscheibe herunter. Der Schauer ist vorüber; alles, was von ihm bleibt, ist eine glänzendnasse Welt, über die ein leichter, reinigender Wind weht. Hoch über den Strassen und Hausdächern reißt die Wolkendecke auf. Einzelne Sterne blinken wie verschüchtert an einem tiefschwarzen Himmel. Der sichelförmige Mond schiebt sich langsam über den Horizont.



Ich betrachte mein Spiegelbild in der Fensterscheibe, doch ich sehe nicht wirklich meine Reflexion vor mir. Meine Gedanken weilen für einen Moment in der Vergangenheit. Der Regen erinnert mich an die Tränen, die ich vergossen habe, lange bevor eine reinigende Brise durch mein Leben wehte. Ein melancholisches Lächeln zupft an meinen Mundwinkeln. Früher war ich nie so grüblerisch; mein streng wissenschaftlicher Verstand hielt mich oft davon ab, zu tief in die Ecken und Winkel meines Herzens zu schauen.



Es ist das Gefühl von Seide zwischen meinen Fingern, das mich in die Gegenwart zurückbringt. Die Melancholie verschwindet aus meinem Lächeln, als ich die dunkle Krawatte durch meine Finger gleiten lasse. Ihr Besitzer würde sicher lachen, könnte er mich jetzt hier so sehen. Ich sitze auf der Lehne meiner Couch, in Boxershorts und einem Hemd, das viel zu groß für mich ist, mit der Krawatte des Mannes in meinen Händen, der mein Leben völlig umgekrempelt hat. Es amüsiert ihn, daß ich einige seiner Sachen in meiner Wohnung behalte; gleichzeitig weiß ich, daß er sich dadurch in meinem Leben ein Stück weit willkommen und akzeptiert fühlt. Ja, ich kann sein lachendes Gesicht vor mir sehen, als ich mich näher zur Fensterscheibe beuge, um einen genaueren Blick auf mich selbst zu werfen.



Einige Menschen würden das sicher für eitel halten, aber ich sehe nur aus einem Grund in den Fensterspiegel. Ich möchte den Ausdruck in meinen Augen sehen, den nur er dort zu erwecken vermag. Den Ausdruck, der ihn so sehr fasziniert, daß er mich heute nachmittag minutenlang einfach nur angesehen hat, während seine Finger ganz sanft meine Schläfen massierten. Die Erinnerung erfüllt mich mit einem wohligen Schaudern, und ich seufze leise.



Obwohl er schon vor ein paar Stunden gegangen ist, kann ich noch immer die Berührung seiner großen Hände auf meiner Haut spüren. Seine Hände faszinieren mich. So groß und stark sie auch aussehen, sie besitzen die Sanftheit und Präzision eines Künstlers.



Ein Blitz erhellt die Welt auf der anderen Seite der Scheibe. Ich lächele über mich selbst, als ich in der plötzlichen Helligkeit erkenne, daß meine Haut noch immer leicht gerötet und mein Haar ziemlich durcheinander ist. Ein merkwürdiges Gefühl der Leichtigkeit hat mich erfaßt; ich schüttele den Kopf, nicht ganz sicher, ob ich ihn auf diese Weise freibekommen möchte oder ob ich einfach nicht glauben kann, daß ich mich in meinem Alter wieder wie ein frischverliebter Teenager benehme.



Noch einmal betrachte ich prüfend meine Reflexion im Fenster. Meine blauen Augen blicken mir ruhig entgegen, doch ein verräterisches Funkeln darin macht es mir unmöglich, lange ernst zu bleiben. Ich lächele, und es ist mir egal, daß ich nun wirklich wieder wie ein sechzehnjähriges, verliebtes Mädchen aussehe. Nach einer Weile lasse ich meine Augen zufallen und rutsche langsam von der Lehne herunter, um mich auf der Couch auszustrecken.



Anders als am Nachmittag habe ich nun nur meinen eigenen Herzschlag, dem ich lauschen kann. Er fehlt mir, obwohl er erst vor ein paar Stunden gegangen ist. Ich denke, mein Bedürfnis für emotionale Nähe hängt eng mit Mulders Verschwinden zusammen. Wie immer, wenn ich über diese dunkle Zeit in meinem Leben nachdenke, verspüre ich einen leichten Stich im Herzen. Mulder zu verlieren, ihn begraben und dann wiederauferstanden zu sehen, hat mich in einen anderen Menschen verwandelt. Dasselbe gilt auch für ihn. Unsere Beziehung endete an dem Tag, als er zu mir zurückkehrte.



Eine Träne läuft langsam über meine Wange. Ich schenke ihr keine Beachtung, denke weiter über die Veränderungen in meinem Leben nach. Im Grunde genommen war meine Beziehung mit Mulder schon vorbei, als er mir kurz vor seiner Entführung in Oregon sagte, ich solle die X-Akten verlassen. An diesem Tag starb etwas in mir, doch ich begriff erst viel später, daß wir einen Fehler gemacht hatten. Nicht er, nicht ich - wir beide haben diesen Fehler begangen, zusammen.



Ich liebe ihn. Mulder wird immer in meinem Herzen sein. Er ist mein bester Freund, so wie ich der seine bin. Wir waren beide überzeugt, daß wir unsere Freundschaft in unsere Beziehung würden retten können. Ich bin froh, daß wir unseren Irrtum rechtzeitig eingesehen haben. Ich bin froh, meinen besten Freund zurück zu haben. Ich bin froh, einen neuen Partner gefunden zu haben.



Meine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln; die Tränen sind vergessen. Langsam hebe ich meine Arme vor mein Gesicht und atme tief ein. Sein Geruch hängt noch immer in den Ärmeln seines Hemdes, obwohl ich es schon seit Stunden auf meiner Haut trage. Es ist nur ein schlechter Ersatz für seine Berührung, aber alles, was mir an diesem Tag von ihm bleibt.



Ich strecke mich auf der Couch und bemühe mich zu überhören, wie ein paar meiner Gelenke protestierend knacken. Ein anderes Geräusch läßt mich aufhorchen. Meine Klimaanlage summt plötzlich lauter als gewöhnlich und noch bevor ich aufgesprungen bin, um ihr einen mahnenden Klaps zu versetzen, gerät sie ins Stottern und verfällt kurz darauf in hartnäckiges Schweigen. Hundstage. Ich schneide eine Grimasse. Die heißesten Tage des Jahres und mit zuverlässiger Regelmäßigkeit die Zeit des Jahres, in der meine ansonsten treue Klimaanlage den Dienst versagt.



Ergeben in mein Schicksal gehe ich hinüber zum Fenster und kippe es. Sofort strömt frische Luft ins Zimmer. Ich atme tief ein; der Duft des Regens bringt etwas tief in mir zum Vibrieren. Vielleicht ist es die schwache Erinnerung an die See, vielleicht auch nur meine Einbildung, doch ich glaube, daß die Luft etwas Reinigendes an sich hat.



Erneut werde ich von einem Geräusch abgelenkt. Mit gerunzelter Stirn sehe ich zur Tür. Es ist spät geworden, und ich frage mich, wer um diese Zeit noch bei mir klingelt. Eine Reihe von möglichen Kandidaten zieht an meinem inneren Auge vorbei. Nur die wenigsten von ihnen wären mir im Moment wirklich willkommen.



An der Tür angekommen, stelle ich mich leicht auf die Zehenspitzen und sehe durch den Spion. Mein Herz beginnt zu flattern, und meine Lippen formen - ganz ohne mein Zutun - ein glückliches Lächeln. Zwar bin ich überrascht, daß er noch einmal wiedergekommen ist, aber das hindert mich nicht daran, mich über den unerwarteten Besuch meines Partners zu freuen. Einen Herzschlag lang überlege ich, mich umzuziehen, bevor ich ihm die Tür öffne, doch dann entscheide ich, daß ich nichts vor ihm zu verbergen habe. Während ich überlege, ruht mein Blick auf seiner hochgewachsenen Gestalt, die durch den Spion leicht verzerrt wird. Sein Haar ist naß, sein Mantel hängt schief um seine Schultern, und auf seinem Gesicht liegt - außer dem für ihn typischen leichten Stirnrunzeln - ein jungenhafter Ausdruck.



Ich schiebe die Sicherungskette zur Seite und öffne die Tür.



"Hallo, Partner", begrüße ich ihn leise. Er grinst über mein Wortspiel. Seine blaßblauen Augen funkeln, als er meinen Blick sucht und ihn hält.



"Hey", gibt er ebenso leise zurück. Ein Schaudern läuft über meinen Rücken. Ich liebe seine Stimme; seinen New Yorker Dialekt ebenso wie das unterschwellige Grollen, das durch meinen ganzen Körper zu vibrieren scheint.



"Die Jungs im Labor haben mich wieder nach Hause geschickt", fährt er fort, und ich genieße die Intensität seines Blickes.



"Komm rein, John", antworte ich ihm und trete zur Seite, um ihn in mein Wohnzimmer zu lassen. Nach nur drei langen Schritten dreht er sich um und mustert mich von oben bis unten. Ich spüre, wie mir unter seinem Blick wieder heißer wird. Er grinst; ich wußte doch, daß ihn mein Anblick amüsieren würde.



"Ich mag deinen Stil, Dana", zieht er mich auf.



"Sicher", gebe ich ungerührt zurück, doch dann muß auch ich grinsen, "weil es dein Stil ist."



Mein Grinsen verblaßt, als er mich mit einem Blick ansieht, der mich mit einer solchen Intensität an unser letztes Treffen diesen Nachmittag erinnert, daß mir der Atem stockt. Ich weiß nicht wieso, aber John wirkt plötzlich verlegen. Er macht einen Schritt auf mich zu, so daß uns nur noch eine Armlänge voneinander trennt.



"Vom Labor aus bin ich zu meinem Haus gefahren", beginnt er, und die Ernsthaftigkeit, mit der er mich ansieht, warnt mich, daß mir ein Doggett Moment bevorsteht. So habe ich die Momente getauft, in denen er mich aus heiterem Himmel mit einer Äußerung so sehr überrascht, daß ich den Boden unter den Füßen verliere. Mein Leben ist seit einiger Zeit voll von solchen Momenten. "Ich wollte etwas Schlaf nachholen."



Er lächelt schwach, und ich nicke. So weit, so gut. Gespannt mustere ich ihn und warte darauf, daß er fortfährt.



"Aber?" helfe ich ihm auf die Sprünge, als sich sein Schweigen in die Länge zieht.



"Aber ich konnte nicht einschlafen. Also bin ich nach draußen gegangen."



Meine Brauen wandern in die Höhe.



"Bei dem Wetter?", frage ich ihn besorgt. Erst jetzt bemerke ich, daß nicht nur seine Haare naß sind; auch sein Mantel trieft vor Feuchtigkeit. Ich strecke die Hand nach ihm aus, will ihm den Mantel abnehmen, doch er schüttelt das nasse Kleidungsstück mit einem kräftigen Schulterzucken ab. Ein tropfender Haufen Stoff ruiniert meinen Teppich, aber ich schenke ihm nicht die geringste Beachtung. Mein Blick klebt an Johns Gesicht, flackert nur einmal kurz herunter zu seiner Brust, als ich registriere, daß er schneller als gewöhnlich atmet.



"John?" Ich bin verunsichert und unternehme keinen Versuch, das vor ihm zu verbergen. Er hat mich von Anfang an durchschaut. In unserer Beziehung hat es nie Versteckspiele gegeben.



"Ich bin fast zwei Stunden durch den Regen gelaufen", sagt er und schüttelt den Kopf. Winzig kleine Tropfen fliegen von den Enden seiner kurzen Haare. "Du bist mir nicht aus dem Kopf gegangen, Dana. Unsere Beziehung ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen."



Seine Arme hängen wie leblos zu beiden Seiten seines Körpers. John sieht aus wie der Inbegriff des verlorenen kleinen Jungen. Er hebt die Arme leicht an, streckt die Hände nach mir aus - und plötzlich verstehe ich, warum er hier ist, warum er mich sehen mußte. Ich mache zwei Schritte nach vorne und schließe ihn in meine Arme, lasse mich gleichzeitig von ihm umfangen. Mein Gesicht fest an seine Brust gepreßt, atme ich tief ein, sofort beruhigt von seinem einzigartigen Geruch. Er vergräbt sein Gesicht in meinem Haar, und ich fühle, daß auch er nun ruhiger atmet.



"John", murmele ich gegen seine Brust. Er seufzt. Ich weiß nicht, ob er erleichtert oder noch immer verunsichert ist. Sanft löse ich mich aus seinen Armen und trete einen halben Schritt zurück, um in sein Gesicht sehen zu können. Überrascht stelle ich fest, daß er lächelt. Er hebt eine Hand an mein Gesicht und beginnt meine Schläfe zu liebkosen, so wie er es schon am Nachmittag getan hat. Mit der anderen Hand fährt er sich durch das kurze Haar.



"Ich liebe dich", sagt er ernst, und ich lehne mich leicht gegen seine Hand. Als ich zu einer Erwiderung ansetze, fährt er federleicht mit seinem Daumen über meine Lippen, hindert mich am Antworten. "Du verwirrst mich, Dana. 'Wir' verwirren mich."



Endlich begreife ich. Unsere Beziehung war von Anfang an nicht unkompliziert. Mulders Schatten stand lange zwischen uns, und die Tatsache, daß wir nun zu dritt an den X-Akten arbeiten, macht es für uns alle nicht leichter. Für John ist es mitunter am schwierigsten; ich weiß, daß er hin und wieder noch glaubt, mit Mulder konkurrieren zu müssen. Dabei spielt es keine Rolle, wie oft ich ihm schon gesagt habe, daß das nicht der Fall ist. In unserer Beziehung kommt es immer wieder zu Momenten, in denen mir klar wird, daß John trotz seines selbstsicheren Auftretens noch immer nicht so recht weiß, woran er mit mir ist. Zum Teil ist das meine Schuld. Nach meinen Erfahrungen mit Mulder bin ich vorsichtig geworden. Es fällt mir schwer, mich festzulegen. Andererseits möchte ich nicht noch einmal sechs Jahre damit verbringen, auf den Mann zu warten, den ich liebe.



Ich löse mich von John und sehe zur Couch. Er folgt meinem Blick, dann geht er hinüber und setzt sich. In seinen Augen spiegelt sich der innere Konflikt wider, mit dem er sich gerade auseinandersetzt. Einerseits wünscht er sich endlich Klarheit in unserer Beziehung, andererseits will er mich nicht drängen. Mit ein paar Schritten bin ich bei ihm; ich stelle mich vor ihn und sehe hinunter in seine Augen. Dies ist eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen ich mich nicht strecken muß, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein.



Während ich in Johns Augen schaue, gleiten meine Gedanken kurz zu Mulder. Ich denke daran, wie unsere Beziehung stets einem Versteckspiel glich, bei dem jeder von uns darauf bedacht war, nicht zuviel von sich preiszugeben. Häufig waren wir beide verunsichert, weil wir nicht wußten, was der andere dachte. Wir haben nicht miteinander geredet. Oh, wir haben natürlich miteinander gesprochen, uns über Unverfängliches und Belanglosigkeiten unterhalten, aber wenn es um unsere Gefühle ging, haben wir uns stets auf die unterschwellige Verbindung verlassen, die uns zu so guten FBI Partnern macht. Doch sie machte uns nicht auch automatisch zu einem guten Paar.



"Du denkst an Mulder", sagt John plötzlich in die Stille meines Appartements hinein und reißt mich damit aus meinen Gedanken. Ich lächele. John kann in meinen Augen erkennen, wann immer ich mich in Grübeleien über Mulder verliere. Das ist auch gut so, denn so weiß er, daß ich, wenn wir uns lieben, nur an einen Mann denke: an John Doggett. Mein Lächeln verblaßt, als mir klar wird, warum John zu diesem Schluß gekommen ist. Er glaubt, daß Mulder noch immer zwischen uns steht, daß ich wegen ihm zögere, unsere Beziehung zu vertiefen. Ich seufze lautlos. Warum mußte es auch ausgerechnet Mulder sein, der vorhin hier angerufen hat, um John zurück ins Hoover Building zu beordern?



"Ja und nein", antworte ich ihm, ein wenig erstaunt über den ernsten Klang meiner Stimme. "Eigentlich habe ich nur darüber nachgedacht, warum ich dich verwirre."



Er setzt zu einer Erklärung an, doch ich schüttele den Kopf.



"Ich weiß, warum ich dich verwirre", fahre ich fort. "Und ich habe gerade beschlossen, daß jetzt damit Schluß ist."



Für einen Moment huscht ein fast panischer Ausdruck über sein Gesicht. Glaubt er vielleicht, daß ich unsere Beziehung - falls man unsere leidenschaftlichen, häufig unsicher verabredeten Treffen so nennen will - beenden will? Er sollte mich wirklich besser kennen.



Ich wende mich von John ab und gehe zu meinem Schreibtisch. Aus der untersten Schublade nehme ich den Wohnungsschlüssel, den ich schon vor ein paar Wochen für ihn habe machen lassen, und kehre zur Couch zurück.



"Vielleicht sollte ich besser wieder gehen", sagt John und erhebt sich halb, doch ich drücke ihn sanft wieder nach unten.



"Du würdest bedauern, das hier verpaßt zu haben", erwidere ich. In den letzten Wochen und Monaten habe ich ihn sehr gut kennengelernt, und ich glaube zu wissen, was er denkt. Er muß sich hier, in meiner Wohnung, wie ein Eindringling fühlen, der nur zu bestimmten Zeiten willkommen ist und ansonsten in meinem Leben nichts zu suchen hat. Ich seufze traurig, als mir klar wird, daß ich nichts getan habe, diesen Eindruck zu widerlegen. Dabei freue ich mich, ihn hier zu haben; ja, ich finde es sogar irgendwie charmant, daß er, nachdem er zu Hause keine Ruhe gefunden hat und zwei Stunden ziellos durch den Regen gelaufen ist, hierher, zu mir, gekommen ist. Mein Herz beginnt, in einem schnelleren Rhythmus zu schlagen, als ich John liebevoll mustere - sein nasses, wirr abstehendes Haar, sein offenes, markantes Gesicht, seinen muskulösen Körper, ohne den mein Bett merkwürdig leer wirkt.



Wortlos nehme ich seine Hand und lege den Schlüssel zu meiner Wohnung hinein. John sieht mich fragend an, aber in seinen Augen keimt bereits Verstehen auf. Er sieht auf den Schlüssel in seiner Hand, läßt den Blick kurz durch meine Wohnung schweifen und schaut mir dann wieder in die Augen. Seine Hand mit dem Schlüssel darin sinkt auf seinen Schoß. Nach kurzem Zögern und einem erneuten Blick darauf, verstaut er den Schlüssel in seiner Hosentasche.



"Du mußt das nicht tun", sagt er, und seine Stimme scheint meinen gesamten Körper zu durchdringen. Ich weiß, daß er seine Worte ernst meint. Für den Moment überwältigt, schließe ich kurz meine Augen. Er würde sich mit dem zufriedengeben, was wir jetzt, in diesem Moment, haben. Er stellt keine Forderungen. Er überläßt mir die Kontrolle - über mich, über sich, über uns.



"Ich will es", sage ich in einem festen Tonfall und öffne meine Augen wieder. Ich spiele mit dem Gedanken, mich zu ihm auf die Couch zu setzen, aber ich weiß, wohin das unweigerlich führen würde. 'Wir müssen reden', erinnere ich mich selbst und widerstehe der Versuchung.



"John, du weißt" - ich betone dieses Wort - "daß ich dich liebe. Nicht Mulder oder die Erinnerung an ihn. Dich. Nicht einen warmen Körper in meinem Bett, der mir hilft, die einsamen Nächte zu überstehen. Dich."



Er nickt. Natürlich weiß er, daß ich ihn liebe; nur sage ich ihm das offenbar viel zu selten, denn anders kann ich mir den intensiven Ausdruck von Erleichterung vermischt mit Freude auf seinem Gesicht kaum erklären. Für gewöhnlich ist John ein sehr direkter und offener Mensch; das habe ich schnell gelernt, als ich mir nach meinem ersten Alleingang, der mich fast das Leben gekostet hätte, eine - gerechtfertigte - Standpauke von ihm anhören mußte. Sein Verhalten in unserer Beziehung im Allgemeinen und jetzt im besonderen bestärkt mich in meinem Verdacht, daß ich bisher nicht offen genug mit ihm gewesen bin. Ein Fehler, den ich nun wiedergutmachen werde.



"Ich denke, es ist an der Zeit, unserer Beziehung eine neue Richtung zu geben", schlage ich vor. Bilde ich mir das nur ein, oder rötet sich meine Haut unter Johns intensivem Blick?



"Eine neue Richtung", wiederholt er nachdenklich, als müsse er erst den Geschmack der Worte in seinem Mund testen. "Dir gefällt die alte Richtung nicht?"



Mein Gott, er ist so ernst. Wäre das hier Mulder, ich hätte mir schon längst einige Witzeleien anhören dürfen. Sofort verbanne ich diesen Gedanken; es geht hier nicht um Mulder. Ich hebe meine Brauen.



"Da du bei all unseren Treffen auch anwesend warst, nehme ich mal an, daß dir meine... enthusiastischen Reaktionen nicht entgangen sein dürften."



Er lächelt, und an dem Ausdruck in seinen Augen erkenne ich, daß ich nicht die einzige bin, die sich für einen Augenblick in den Erinnerungen an unsere gemeinsamen Stunden verliert.



"John", fahre ich schnell fort, bevor mich mein Mut verläßt, "ich will, daß du ein fester Bestandteil meines Lebens wirst. Ich will abends neben dir einschlafen, ich will morgens in deinen Armen aufwachen; ich will dich immer sehen können, wann mir danach ist. So... nett unsere bisherigen Treffen auch waren, sie reichen mir nicht. Nicht mehr. Was wir bisher hatten, hat für mich viel zu sehr den schalen Beigeschmack eines angenehmen Arrangements. Ein Anruf, ein Treffen, ein paar gestohlene Stunden zu zweit - wo bleibt da die Liebe? Und ich rede nicht von romantischen Abendessen bei Kerzenschein oder von langen Spaziergängen im Park. Das gehört natürlich auch dazu, aber mir fehlen vor allem die banalen Dinge: gemeinsam einzukaufen, einen Nachmittag mit dem Sortieren von Fotos zu verbringen, den Abwasch zu teilen, nach einem anstrengenden Tag vor dem Fernseher einzuschlafen..."



Hilflos breche ich meine Rede ab. Selbst wenn ich noch wüßte, was ich sagen soll - wie könnte ich die Worte über die Lippen bringen, wo John mich auf diese Weise ansieht? Ich fühle mich, als müßte ich gleich zerschmelzen.



"Komm her", grollt er und streckt eine Hand nach mir aus. Er schlingt seinen Arm um meine Taille, und ehe ich mich's versehe, liege ich auf einmal auf der Couch. Johns Oberkörper schwebt über meinem; sein Gesicht liegt gerade außerhalb meiner Reichweite, dabei würde ich jetzt nichts lieber tun, als ihn zu küssen. Mein Atem geht etwas schneller, genauso wie mein Herz, das plötzlich fast spürbar gegen meine Rippen klopft.



"Nicht fair", murmele ich, doch es ist nicht wirklich ein Protest. Eigentlich fühle ich mich gerade extrem wohl. Ich will nur nicht, daß er glaubt, mich so einfach von den Füßen holen zu können. Auch wenn er es kann.



"Werde's wiedergutmachen", verspricht er, und ich glaube ihm. Er stützt sich mit einer Hand auf der Couch ab, die andere spielt mit einem der Knöpfe seines Hemdes, das ich trage. John hat meine volle Aufmerksamkeit.



"Ich hatte keine Ahnung", sagt er. Ich schwöre, daß ich noch nie einen so weichen Ausdruck in seinen Augen gesehen habe. "Ich dachte, du wärst zufrieden mit dem, was wir hab... hatten."



Er schüttelt ganz leicht den Kopf, bevor er fortfährt.



"Dachte, daß du nach allem, was mit Mulder war, Abstand brauchen würdest."



"Mulder spielt in unserer Beziehung keine Rolle", sage ich mit Nachdruck, aber John runzelt leicht die Stirn.



"Nein?" fragt er. "Nun, vielleicht nicht für dich, aber ich hatte immer das Gefühl, gegen ihn antreten zu müssen, den Vergleich mit ihm aushalten zu müssen."



"John Doggett", bringe ich hervor, obwohl ich befürchte, daß mir die Stimme gleich versagen wird, "niemand vergleicht dich mit Mulder. Ihr beide seid einfach nicht zu vergleichen!"



"Sind wir nicht?"



Sein Tonfall macht mir mehr als deutlich, daß er mich bloß aufziehen will, aber so leicht werde ich John nicht vom Haken lassen. Wir werden das hier und jetzt klären, komme, was da wolle.



"Nein", erwidere ich fest, "seid ihr nicht. Aber ich dachte, es ginge hier um dich und mich - nicht um Mulder und dich."



Er sieht mich lange einfach nur an. Ich würde am liebsten in seinen Augen versinken. Halt, nein, das stimmt nicht. Am liebsten wäre es mir, wenn er mich endlich küssen würde.



"Nur du und ich, Dana", wispert er, als er sich näher zu mir herunterbeugt. "Ich liebe dich."



'Endlich', ist alles, was ich denke, als sich unsere Lippen berühren. Dann lösen sich meine Gedanken in ein angenehmes Nichts auf, und ich erwidere den Kuß des Mannes, der mein Herz im Sturm erobert hat und doch bis eben nichts davon wußte. Während unsere Lippen einen uralten Tanz beginnen, gleitet Johns Hand unter mein Hemd; seine Finger liegen federleicht auf meiner Taille, sein Daumen liebkost die sensible Haut über dem untersten Rippenbogen.



Ich stöhne leise in seinen Mund und hebe meine Arme, lege eine Hand auf seinen starken Rücken und vergrabe die andere in seinem feuchten Haar.



Der Kuß scheint ewig zu dauern und ist doch viel zu schnell wieder vorbei. Als wir beide Luft holen müssen, zieht John sich ein wenig von mir zurück. Mir gehen auf einmal tausend Dinge durch den Kopf, die ich ihm sagen will, aber zu meiner Überraschung muß ich gähnen. John grinst mich an.



"Du bist müde", stellt er fest, doch ich sehe kein Bedauern in seinen Augen.



"Weißt du, was ich jetzt gerne tun würde?", frage ich ihn. Sein Grinsen wächst in die Breite, aber er schweigt. "Ich möchte ins Schlafzimmer gehen. Und ich möchte, daß du mit mir kommst."



Ich mache eine kurze Pause und löse meine Hand aus seinem Haar, um seine Wange zu liebkosen.



"Laß mich heute abend in deinen Armen einschlafen, John", flüstere ich, "und wenn wir morgen früh aufwachen, wirst du keinen Gedanken mehr an Mulder verschwenden, das verspreche ich dir."



John wird wieder ernst. Noch einmal beugt er sich zu mir herunter, doch dieses Mal küßt er mich auf die Stirn.



"Klingt nach einer verdammt guten Idee, Agent Scully", wispert er gegen meine Stirn. "Aber wer ist dieser Mulder, von dem du dauernd sprichst?"



Ich lache leise, als er aufsteht und mich von der Couch hochzieht. Er nimmt meine Hand in seine und gemeinsam gehen wir in mein Schlafzimmer. Mein Herz schlägt noch immer viel zu schnell, aber das liegt allein daran, daß ich es nicht erwarten kann, mein neues Leben mit John Doggett an meiner Seite zu beginnen. Ich schmiege mich enger an ihn, genieße die Wärme, die sein Körper ausstrahlt und bin froh darüber, daß er nicht zu der Sorte Mann gehört, die diese Gelegenheit genutzt hätten, um mich ins Schlafzimmer zu tragen. Nein, John gehört zu der Sorte Mann, die ihre Liebe auf eine stille, aber dafür umso intensivere Weise zeigen.



Und während ich mit dem Rücken zu John in seinen Armen liege, lausche ich noch für eine Weile dem Regen, der wieder leise gegen die Fenster prasselt. Das Gewitter mag vorüber sein, aber meine Hundstage haben gerade erst begonnen.



Ende
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