World of X

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Avengers

von Ilanga

Kapitel 1

Amesville, Ohio, 1988

"Gebt mir meine Mütze zurück! Ihr seid ja so gemein!" Die siebenjährige Faith Reilly stampfte wütend mit dem rechten Fuß auf. Ihre Haare standen ihr wirr und zerzaust vom Kopf ab. Sie fror erbärmlich. Ihre Unterlippe zitterte und sie war den Tränen nahe.

"Na komm schon, du Heulsuse, hol dir deine Mütze", forderte Mariah Bennett Faith spöttisch auf. "Du bist doch nur ein großes, hässliches Trampeltier – und du hast noch nicht mal einen Vater!", kam ein Ruf von der anderen Seite des Pausenhofes. Als hätten all diese Hänseleien nicht gereicht, klatschte in diesem Moment ein großer Schneeball an Faiths Hinterkopf. Der kalte, pulvrige Schnee rieselte langsam an ihrem Rücken herab. Das war zuviel für Faith. Sie schluchzte laut auf und ließ ihren Tränen, die sie so lange zurückgehalten hatte, freien Lauf. Weinend rannte sie vom Pausenhof, zu den einzigen Menschen auf der Welt, die sie liebten: ihre Mutter Inez und ihre kleine Schwester Eileen.

Das höhnische Gelächter ihrer Mitschüler war noch lange, nachdem Faith schon außer Sichtweite war, zu hören.


Amesville, Ohio, 1995

Wie an jeder High-School auf der ganzen Welt wurde auch an der Lincoln High in Amesville in den Pausen geflüstert und getuschelt, was das Zeug hielt. Die Mädchen schoben sich kleine Zettelchen unter den Bänken hinweg zu und kicherten nervös auf, wenn die Nachrichten von den Jungs abgefangen wurden.

Nur eine einzige Person saß, scheinbar unberührt von dem ganzen Trubel, in der Mitte des Klassenzimmers und schaute aus dem Fenster. Doch der Anblick täuschte. Faith Reilly wünschte sich mehr als alles andere auf der Welt, endlich einmal dazuzugehören, einmal Teil einer Gruppe zu sein. Doch alles, was sie in ihrem jungen Leben bisher erfahren hatte, war Ablehnung, gelegentlich sogar Hass, gewesen. Als uneheliches Kind hatte sie in dem von katholischem und altmodischem Denken geprägten Städtchen Amesville einen schweren Stand. Auch ihr undefinierbar exotisches Aussehen und ihre ungewöhnliche Körpergröße stempelten Faith zur Außenseiterin.

Faith hörte, wie ihre Banknachbarinnen miteinander tuschelten. Mariah Bennett und Trisha Brune sprachen anscheinend gerade über die verschiedenen Jungs in der Klasse.

"Ja, Johnny Perkins ist wirklich total süß", meinte Mariah gerade.

"Hinter dem sind doch alle her!"

"Natürlich, aber denkst du, ich hätte deshalb keine Chance bei ihm?", entgegnete die hübsche Mariah auf Trishas Einwand. Sie wusste nur zu gut, wie hübsch sie war und bildete sich viel darauf ein.

In diesem Moment drehte sich Faith zu den beiden um und meinte schüchtern: "Johnny gefällt mir auch, er ist so..."

"Mann, Faith. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du jemals einen Typen abkriegst? Denkst du, nach dir dreht sich jemand um? Du bist viel zu hässlich und zu groß!"

Faiths Augen füllten sich mit Tränen. Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle empor. Tränenblind raffte sie ihre Schulsachen zusammen, die verstreut auf dem Pult lagen, und verließ das Schulzimmer fluchtartig.

Mariah und Trisha schütteten sich fast aus vor Lachen.

Amesville, Ohio, 2000

Faith saß zu Hause auf ihrem Bett. Tränen rannen über ihr Gesicht, doch sie bemerkte sie kaum. Nach all den Jahren hier in Amesville wurde sie immer noch nicht akzeptiert, hatte immer noch keine Freunde. Ihr ganzes Leben erschien ihr als ein einziges Jammertal. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt richtig glücklich gewesen war. Es war an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen.

Ein Lächeln trat auf Faiths Gesicht. Sie hatte ihren Entschluss gefasst.


3 Stunden später

Ein Schlüssel drehte sich im Schloss an der State Street 45 und Inez Reilly trat ein. Die Hände voller Einkaufstüten, schubste sie die Tür mit dem linken Fuß hinter sich zu und ging in die Küche, um ihre Last loszuwerden, dann rief sie laut nach ihrer Tochter.

"Faith Darling, ich hab dir was mitgebracht! Wo steckst du denn?" Inez stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf. Sie wollte sich noch die Hände waschen, bevor sie ihrer Tochter das Geschenk überreichte. Mit dem Fuß stieß sie die Badezimmertüre auf. Dann verwandelte sich die gesunde Bräune auf Inez Reillys Gesicht schlagartig in eine fahle Blässe. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und schnappte nach Luft. "Faith! Oh mein Gott... nein, Faith! Neeeeeeeeeeiiiiiiiiiin!" Ihr wurde schwindelig und sie musste sich am Türrahmen festhalten.

FBI-Hauptgebäude, Washington, Gegenwart

"Mulder, das ist doch nicht Ihr Ernst? Sie verlangen von mir, dass ich mit Ihnen nach Ohio rüber fahre, nur um einen Fall zu klären, der überhaupt keiner Klärung bedarf?"

Mulder lehnte sich genüsslich in seinem Bürostuhl zurück und beobachtete, wie seine Partnerin aufgebracht vor seinem Schreibtisch auf und ab ging. "Dann ist das Ihrer Meinung nach also keine X-Akte?"

"Das wissen Sie doch so gut wie ich, Mulder. Wir haben es hier mit einer Reihe von Selbstmorden zu tun. Nichts daran ist mysteriös oder unaufklärbar. Höchstens die Anzahl der Toten ist ungewöhnlich."

"Scully, Sie täuschen sich." Fox Mulder erhob sich von seinem Bürostuhl und griff nach der Fernbedienung des Diaprojektors. "Schauen Sie sich diese Bilder genau an."

Dana Scully seufzte. Anscheinend hatte sich ihr Partner mal wieder in einen Fall verbissen. Doch dieses Mal war sie entschlossen, ihn davon abzuhalten, in die tiefste Provinz zu fahren, nur eines Falles wegen, der sich beim besten Willen nicht als X-Akte klassifizieren ließ. Sie fragte sich, mit welchen Gründen Mulder wohl versuchen würde, sie dennoch zu überzeugen.

"Schön, dann zeigen Sie mir die Fotos", forderte sie Mulder auf und lehnte sich erwartungsvoll gegen die Schreibtischkante.

Das erste Bild erschien auf der Leinwand. Es zeigte eine junge Frau mit ungewöhnlich großen, smaragdgrünen Augen, die jedoch starr in die Kamera blickten. Sie lag voll bekleidet in einer mit Blut gefüllten Badewanne. Der rechte Arm der Frau hing über den Badewannenrand, von ihrem Handgelenk aus zog sich eine Blutspur bis auf den Fußboden. Direkt unterhalb ihrer Hand lag ein rotes Messer. Wahrscheinlich ein Küchenmesser. "Das ist Faith Reilly", kommentierte Mulder das Bild. „Zum Zeitpunkt ihres Todes war sie neunzehneinhalb Jahre alt."

Das Bild auf der Leinwand wechselte, bot jedoch einen ähnlichen Anblick. Wieder hing ein Arm der Leiche über den Rand der Badewanne, wieder war der Körper voll bekleidet, abermals befand sich ein rotes Messer in nächster Nähe des Opfers. Genauso war es beim nächsten Foto und bei allen darauf folgenden.

Scully schluckte leer. "Mulder... das ist einfach schrecklich. Alle diese jungen Menschen – was treibt solche Leute in den Selbstmord?" Mulder zuckte mit den Schultern. Dies war keine Frage, die er beantworten konnte.

Plötzlich wurde Scully stutzig. Ein Detail hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt. „Schauen Sie sich das an. Keine der Leichen weist Probeschnitte an den Handgelenken auf. Das ist sehr ungewöhnlich." Mulder nickte. Auch ihm war dies nicht entgangen und es bestärkte ihn in seiner Vermutung, dass dies hier keine gewöhnlichen Selbstmordfälle waren.

"Aber, Mulder, das allein beweist gar nichts. Die Wahrscheinlichkeit, dass alle Opfer die tödlichen Schnitte gleich beim ersten Versuch richtig anbringen konnten, ist zwar sehr niedrig, aber..."

"Scully, wussten Sie, dass Amesville der Ort mit der niedrigsten Selbstmordrate der ganzen Vereinigten Staaten ist? Der letzte Selbstmord ereignete sich dort vor siebzig Jahren", fiel Mulder seiner Partnerin ins Wort. "Seit Faith Reillys Tod gab es deren acht Stück. Acht Selbstmordopfer in einem Städtchen, in dem anscheinend jeder glücklich und zufrieden war."

Langsam wurde Scully neugierig. Sie wollte mehr über die Toten von Amesville erfahren.

Sie forderte Mulder auf, ihr mehr darüber zu erzählen. Dieser schaltete den Diaprojektor aus und nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf, legte die Füße auf den Schreibtisch und übersah dabei geflissentlich Scullys missbilligendes Stirnrunzeln.

"Alle acht Toten waren junge, gesunde Leute im Alter von 18 bis 22 Jahren. Sie wurden ausnahmslos in einer Badewanne bei sich zu Hause gefunden, alle in der gleichen Stellung."

"Sie meinen die Sache mit dem Arm?"

"Ja. Dazu kommt, dass in jedem Fall unmittelbar neben der Leiche ein Küchenmesser gefunden wurde. Der erste Selbstmord geschah einen Monat nach Faith Reillys Tod, die andern folgten im Abstand von zwei bis drei Wochen."

"Mulder, wollen Sie damit etwas andeuten?"

"Ich bin mir ganz sicher, dass Faith Reilly für den Tod der anderen verantwortlich ist."

"Mulder, sie ist tot!"



"Ich habe schon mit Direktor Skinner gesprochen", wechselte Mulder das Thema. Wir fahren noch heute nach Amesville raus."

Scully seufzte. Wie hätte es auch anders sein können?

Amesville, Ohio, vier Stunden später

Der große, dunkelgraue Ford fuhr nahezu geräuschlos an den Straßenrand. Momente später glitt das Fenster auf der Beifahrerseite nach unten und eine rothaarige Frau streckte den Kopf hinaus. "Sir, entschuldigen Sie, können Sie uns helfen?", rief Agent Dana Scully einem älteren Mann zu, der gerade seinen Pudel spazieren führte. Nun wandte er seine Aufmerksamkeit Scully zu. "Können Sie uns sagen, wie wir zur State Street 45 kommen?"

Die Augen des Mannes öffneten sich ungläubig und erschrocken.

"Was denn, Sie wollen zu den Reillys? Ja, wissen Sie denn nicht, dass es dort spukt?"

Scully schaute den Mann lange an. "Wer sagt das? Wessen Geist soll denn überhaupt dort spuken?"

"Na, die arme kleine Faith Reilly natürlich! Ihr Geist findet einfach keine Ruhe."

Der Mann beugte sich verschwörerisch zu Scully hinunter.

"Wissen Sie, die arme Faith war ein sehr unglückliches Mädchen. Sie wurde ihr ganzes Leben lang nur ausgelacht und hatte niemals Freunde. Das ganze Dorf wusste darüber Bescheid."

"Sir, wir sind vom FBI geschickt worden, um die ganze Selbstmordserie genauer zu durchleuchten. Wir glauben nicht an Geister." Scully konnte förmlich sehen, wie Mulder hinter ihr grinste, doch davon ließ sie sich nicht beirren. "Könnten Sie uns einfach nur den Weg beschreiben, Sir?", bat Scully den Mann.



Dank der präzisen Wegbeschreibung fuhren die beiden Agenten schon Minuten darauf bei der richtigen Adresse vor. Das Haus der Reillys war alt und hätte dringend einer Renovierung bedurft. An der Fassade bröckelte schon der Verputz ab. Einige Fensterläden hingen schief, das Ziegeldach war stellenweise lückenhaft und zwei Fenster im Erdgeschoss waren mit Pappkarton abgedeckt. Auch der Garten war in einem unansehnlichen Zustand. Der Teil des Rasens, der noch nicht mit Moos überwachsen war, hätte schon vor Wochen gemäht werden müssen. Eine Brombeerhecke überwucherte den hinteren Teil des Gartens, während der Vordere von zwei mächtigen, Efeu bewachsenen Bäumen eingenommen wurde.



"Wow. Hier fühlt sich bestimmt jedes Gespenst wohl. Was meinen Sie, Scully?", brach Mulder die Stille.

"Mulder, Sie glauben diesen Quatsch doch nicht etwa?", fragte Scully aufgebracht.

"Scully, das ist eine äußerst plausible Theorie", verteidigte sich der Angesprochene. "Das arme Mädchen will sich an ihren Peinigern rächen und treibt sie so der Reihe nach in den Selbstmord."

Scully holte tief Luft. "Mulder, das ist unmöglich. Es gibt keine Geister, weder hier noch sonst irgendwo!"

"Um das aufzuklären sind wir ja hier", entgegnete er und stieg aus dem Auto. Scully folgte ihm und gemeinsam gingen sie auf das verfallene Haus zu.

Das Gartentürchen quietschte erbärmlich, als Mulder es öffnete. Ein wenig abbröckelnde Farbe blieb an seinen Händen kleben, die er dann an seinem Mantel abwischte.

Der Weg, der zum Haus führte, war in einem ähnlich schlechten Zustand wie der Garten. Ein Loch reihte sich an das andere. Die Kieselsteine, die den Weg einst bedeckten, waren schon vor Jahren vom Regen weggeschwemmt worden.

Scully wollte an der Tür klingeln, suchte aber vergeblich nach einer Klingel. Sie klopfte an die Tür und als nichts zu hören war, klopfte sie wieder, diesmal heftiger. Nun waren schlurfende Schritte im Innern des Hauses zu hören, die sich langsam der Tür näherten. Schließlich wurde den Agenten durch eine verwahrloste Frau geöffnet. Ihr dunkelbraunes, langes Haar war ungekämmt und glanzlos, auf ihrem Gesicht war keine Spur von Make-up zu sehen, ihr zerlöcherter Bademantel wies noch Spuren der letzten Mahlzeit auf. Ein starker Alkoholgeruch hüllte die Frau ein.

"Was wollen Sie?", fragte sie unwirsch.

Mulder räusperte sich. "Ich bin Special Agent Mulder vom FBI, das hier ist Agent Scully." Beide zückten ihre Ausweise.

"Sind Sie Inez Reilly?", fragte Scully.

"Ja", bestätigte diese mürrisch.

"Wir würden Ihnen gerne ein paar Fragen über Ihre Tochter Faith stellen", fügte Mulder hinzu. Die Frau starrte sie abweisend an, bat sie schließlich aber doch ins Haus.

Mulder und Scully traten über die Schwelle und fanden sich in einem dämmrigen Halbdunkel wieder. Beide sahen sich neugierig um, konnten aber wenig erkennen, bis Mrs. Reilly einen Lichtschalter betätigte, woraufhin es ein wenig heller wurde. Mulders Blick schweifte durch den Raum, blieb an einer halbvollen Weinflasche auf dem Tisch hängen und wanderte dann weiter zu einigen leeren Wodkaflaschen, die in einer Ecke standen. Auch Scully bemerkte dies und zog ebenfalls die richtige Schlussfolgerung. Sie verkraftet den Tod ihrer Tochter nicht und wird so zur Alkoholikerin, dachte die Agentin mitleidig und betroffen. Sie empfand plötzlich viel Mitgefühl für diese Frau, denn sie wusste nur zu gut, wie hart es war, eine Tochter zu verlieren.

Mulders Stimme riss Scully aus ihren Gedanken.

"Mrs. Reilly, können Sie uns einige Dinge aus Faiths Leben erzählen? Hatte Sie Freunde, oder Feinde?"

Inez Reilly lache bitter. "Oh ja. Vom ersten Tag an wurde Faith nur gehänselt, ausgelacht und verspottet. Sie hatte keine Freunde, nicht in all den Jahren. Von allen wurde sie nur gehasst."

"Gab es dafür einen speziellen Grund?", forschte Mulder nach.

Mrs. Reilly zuckte mit den Schultern und seufzte. "Wissen Sie, hier in Amesville denken die Leute noch sehr traditionell. Faith ist ein uneheliches Kind. Das alleine schon machte es ihr schwer, akzeptiert zu werden. Außerdem war sie schon immer sehr schüchtern und sensibel. Von sich aus traute sie sich kaum, auf Leute zuzugehen. Dazu kam, dass sie ungewöhnlich ausgesehen hatte. Darunter litt sie fürchterlich und wurde auch ständig deswegen aufgezogen."

"Inwiefern außergewöhnlich?", hakte Scully nach.

Mrs. Reilly wies mit dem Kinn zu einer kleinen Kommode, auf der zahllose gerahmte Foto­grafien standen. Die größte zeigte eine junge Frau, dessen glatte, schwarze Haare auf Kinnlänge geschnitten waren. Ihre großen, smaragdgrünen Augen wurden von ungewöhnlich langen, schwarzen Wimpern umkränzt und die Augenbrauen waren ebenfalls schwarz und fein geschwungen. Das Mädchen hatte hohe Wangenknochen und einen roten, üppigen Mund.

Faith Reilly hatte tatsächlich etwas undefinierbar Exotisches an sich. Trotzdem konnte man sie nicht als schön bezeichnen. Dazu standen ihre Augen zu nahe beieinander, ihre Nase war etwas zu platt und der Mund zu breit.

"Das Foto wurde wenige Wochen vor ihrem Tod aufgenommen."

Mulder betrachtete die anderen Fotos näher. Ihm fiel auf, dass Faith Reilly auf keinem der Bilder lächelte oder gar lachte. Unvorstellbar, so ein Leben führen zu müssen, dachte er. Ohne Freunde, ohne ein einziges nettes Wort außerhalb der Familie. Ihm war zwar klar, dass auch er selbst durch seine Tätigkeit bei den X-Akten und seine Lebenseinstellung überhaupt eine Außenseiterrolle einnahm, doch die hatte er sich selbst ausgewählt. Und um ehrlich zu sein – er wollte gar nicht, dass sich daran etwas veränderte. Obgleich da doch etwas wäre... Sein Blick glitt kurz hinüber zu seiner Partnerin. Dann schüttelte er verhalten den Kopf. Für solche Gedanken war später auch noch Zeit. Jetzt galt es, sich auf die Arbeit zu konzentrieren.



"Können Sie uns Namen von Faiths Widersachern nennen?", fragte Mulder aus einer Ahnung heraus.

Inez Reilly wirkte etwas überrascht angesichts einer solchen Bitte, zählte jedoch bereitwillig einige Namen auf, die Mulder sich alle im Geiste notierte.

"Mrs. Reilly, was ist mit Ihrer anderen Tochter? Ist sie auch so unbeliebt?", wollte Scully wissen.

Inez Reilly schüttelte den Kopf. "Nein, Eileen ist ganz anders. Sie ist immer fröhlich und überall beliebt. Die Leute haben so gut wie keine Vorurteile gegen sie, obwohl sie auch unehelich ist." Dann erhob sie sich. "Ich wäre froh, wenn Sie nun wieder gehen würden. Gleich kommt Eileen nach Hause und ich will nicht, dass sie Sie antrifft. Das Ganze ist schon schmerzlich genug für sie."

Mulder und Scully wandten sich zum Gehen, doch in diesem Moment wurde die Eingangstüre aufgerissen und ein junges Mädchen stürmte ins Wohnzimmer, in der Hand eine Schultasche. "Hallo Mom! Weißt du, was... oh, wer sind Sie denn?", begrüßte sie die beiden FBI-Agenten.

"Eileen, das sind die Agenten Scully und Mulder vom FBI. Sie wollten gerade gehen", meinte Inez Reilly etwas unhöflich.

"Mom, du sollst mich doch nicht Eileen nennen. Doris gefällt mir viel besser!"

Dann wandte Eileen sich in einem feindseligen Tonfall an die Agenten und fragte: "Was tun Sie denn hier? Wieso belästigen Sie uns?" Hätten Blicke töten können, beide wären auf der Stelle tot umgefallen.

Sie strich sich ihre langen Locken zurück. Scully entging nicht, dass ihre Hände dabei zitterten.

Mulder hingegen war vielmehr fasziniert von Eileens Frisur. Das Mädchen hatte die Spitzen ihrer Haare in einem flammenden Rot eingefärbt, den Rest aber in der Naturfarbe Schwarz belassen. Wirklich sehr ungewöhnlich.

"Kommen Sie, Mulder, wir gehen", forderte Scully ihren Partner auf. Weder Inez noch Eileen Reilly machten sich die Mühe, die Agenten zur Türe zurück zu begleiten. Als die beiden wieder hinaus ins Tageslicht traten, blendete sie die Helligkeit für einen Moment.



"Wissen Sie was, Scully? Ist es nicht seltsam, dass die Liste der Toten nahezu identisch ist mit Faiths Widersachern?"

Scully seufzte entnervt. "Mulder, Sie wollen doch nicht wieder mit ihrer Geister-Theorie anfangen?"

"Scully. Wie oft habe ich schon mit meinen Vermutungen daneben gelegen?"

Scully musste zugeben, dass dies nicht sehr häufig der Fall gewesen war. "Trotzdem, Mulder. Mal angenommen, es gibt Geister, und Faith Reillys Geist spukt hier noch herum, meinen Sie nicht, dass Mädchen wolle endlich seine Ruhe haben und die Leute, die sie ihr Leben lang gequält haben, nicht mehr sehen?"

"Na gut. Wie erklären Sie sich dann das Ganze?"

"Höchstwahrscheinlich ist alles nur ein Zufall!"

"Ach, kommen Sie schon, das glauben Sie doch wohl selbst nicht!"

"Es ist auf jeden Fall sehr viel wahrscheinlicher als Ihre Theorie, Mulder!"

Mulder grinste. Er genoss Dialoge dieser Art mit seiner Partnerin.

"Hören Sie, Mulder, die ganze Sache wird sich in Nichts auflösen. Sie werden schon sehen. Sprechen wir erst mal mit den Angehörigen der anderen Opfer." Sie riss die Wagentüre auf und setzte sich ans Steuer. "Wie heißt die nächste Familie?"

Mulder studierte die Liste mit den Selbstmordopfern. "Bennett. Die Tochter, Mariah, ging offensichtlich mit Faith zur Schule."

"Das ist ja nur ein paar Häuser weiter", stellte Scully mit einem Blick auf die Liste fest.



Während der Fahrt dachte sie noch ein Mal über Faiths Schwester Eileen nach. "Mulder, irgendetwas stimmt mit diesem Mädchen nicht. Mrs. Reilly hat ihre jüngere Tochter als sehr fröhlich und aufgeweckt beschrieben. Wir aber haben einen mürrischen, feindseligen Menschen zu sehen gekriegt. "

Mulder nickte bestätigend.

"Außerdem, haben Sie gehört, wie Eileen ihre Mutter gebeten hat, sie Doris zu nennen? Können Sie sich das erklären?"

"Wahrscheinlich ihr zweiter Name. Es ist ja verständlich, wenn sie den Namen 'Eileen' nicht mag." Er zuckte die Achseln.

Scully runzelte die Stirn. Ihrer Meinung nach steckte mehr dahinter, doch sie kam einfach nicht darauf, was es sein könnte.



Kurze Zeit später parkierte sie den Wagen in der Auffahrt eines großen Hauses, das sich grundlegend von dem der Reillys unterschied. Es war in einem gebrochenen Weiß gestrichen, mit einem hübschen, offensichtlich neuen, Ziegeldach und auf Hochglanz geputzten Fenstern. Auch der Garten war ordentlich und gepflegt.

Die Kieselsteine auf dem Weg knirschten, als die beiden Agenten auf die Haustür zugingen.

Hier war eine Klingel vorhanden, und nur Momente nach dem ersten Klingeln öffnete sich die Tür.

Eine elegante, blonde Frau blickte die Besucher fragend an.

"Mrs. Bennett? Ich bin Agent Scully vom FBI, und das", sie deutete auf Mulder, "ist Agent Mulder. Wir sind hier wegen..."

"Ja, ich weiß", unterbrach die Frau sie. "Sie wollen die angeblichen Selbstmorde aufklären. Kommen Sie doch bitte herein."

Scully zog die Augenbrauen hoch. Angebliche Selbstmorde? Sie war gespannt, welche Meinungen die Dorfbewohner sonst noch vertraten. Waren etwa alle davon überzeugt, dass Faith Reillys Geist umging?

Mrs. Bennett bat die Agenten sogleich, Platz zu nehmen und bot ihnen Tee und Gebäck an, was die beiden jedoch ablehnten.

Mulder kam sofort zur Sache. "Mrs. Bennett, können Sie uns sagen, was Ihrer Meinung nach Ihre Tochter Mariah in den Selbstmord getrieben hat? War es Liebeskummer oder etwa schulische Probleme?"

Sie schüttelte energisch den Kopf. "Meine Mariah hatte überhaupt keinen Grund, sich das Leben zu nehmen. Sie war immer gut gelaunt und hatte viele gute Freunde. In der Schule hatte sie keinerlei Probleme, weder mit den Lehrern noch mit den Noten." Ihre Augen glänzten feucht. "Ich kann mir absolut nicht erklären, weshalb sie das getan hat."

"In welchem Verhältnis stand Ihre Tochter zu Faith Reilly?", wollte Scully wissen. Die ganze Sache erschien ihr immer seltsamer. Nichts schien hier zusammenzupassen.

"Ich denke, in keinem schlechteren als alle anderen Leute auch." Sie seufzte. "Wissen sie, die Leute hier sind nicht sehr aufgeschlossen. Faith wurden sehr viele Vorurteile entgegengebracht, weil sie ein uneheliches Kind war. Sie war die typische Außenseiterin und wurde von ihren Mitschülern ständig aufgezogen, ja, sogar verspottet. Solche Kinder gibt es in jeder Klasse, das ist ganz normal."

"Mrs. Reilly schien zu denken, dass Mariah Faiths ganz spezielle Widersacherin war", warf Mulder ein.

"Mariah hat dies bestimmt nicht absichtlich getan. Sie stand gerne im Mittelpunkt, da kommt es vor, dass sich andere verletzt und ungeliebt fühlen. Doch in den letzten Jahren hatten sie und Faith nicht mehr viel mit einander zu tun."

"Was ist mit Faiths Schwester Eileen? Gab es eine Freundschaft zwischen ihr und Ihrer Tochter?", wollte Scully wissen.

"Die beiden kennen sich kaum. Eileen ist einige Jahre jünger, als Mariah es war. Sie hatten deshalb einen völlig unterschiedlichen Freundeskreis."

"Mrs. Bennett, Sie scheinen nicht ganz zu glauben, dass alles Selbstmorde waren." Mulder räusperte sich und fuhr dann fort. "Glauben Sie auch an die Geschichte, nach der Faith Reillys Geist umgeht und die Leute zum Selbstmord zwingt?"

Mrs. Bennett winkte ab. "Nein, natürlich nicht. Das ist doch völliger Quatsch. Ich glaube viel mehr, dass Mariah und all die anderen von jemandem umgebracht wurden, der Faith rächen wollte."

"Es besteht natürlich auch die Möglichkeit, dass Mariah unter Drogeneinfluss stand. Vielleicht hatte sie auch mit einer Sekte zu tun", warf Scully ein.

"Drogen? Sekten? Hier in Amesville? So etwas gibt es hier einfach nicht, Agent Scully. Hier können Sie höchstens Bier und Wodka im Supermarkt kaufen."

Mulder hatte interessiert zugehört. "Wer könnte denn Ihrer Meinung nach dafür verantwortlich sein?", fragte er.

"Inez Reilly. Seit dem Tod ihrer Tochter ist sie ein total anderer Mensch. Sie geht kaum noch aus dem Haus und wenn, dann nur um Alkohol zu kaufen. Sie säuft wie ein Loch. Viele Alkoholiker tun im Vollrausch Dinge, an die sie sich später überhaupt nicht mehr erinnern können. Ich bin überzeugt, dass Inez Reilly schuldig ist." Sie seufzte. "Wissen Sie, sie hat immer sehr mit ihrer Tochter mit gelitten. Es hat sie sehr mitgenommen, dass sie ihr nie helfen konnte."



Scully erschien diese Möglichkeit einigermaßen plausibel, doch sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass die zurückgezogene, menschenscheue Inez Reilly sich zu solchen Gräueltaten hinreißen ließ.

Mulder dachte ähnlich. Er traute es Mrs. Reilly nicht zu, eine solche Mordserie zu planen, so vorzugehen, dass später keinerlei Spuren mehr zu erkennen waren. Denn immerhin hatte alles auf Selbstmord hingedeutet, bei allen Opfern.



Er erhob sich. Seiner Meinung nach hatten sie genug gehört. "Kommen Sie, Scully. Gehen wir", forderte er seine Partnerin auf.

Als die beiden über den akkurat geharkten Gartenweg zum Wagen zurückgingen, meinte Scully: "Ich finde es gar nicht so abwegig, dass jemand, der Faith nahe stand, die Morde verübt haben soll."

"Und wer könnte denn das sein, Scully? Sie haben doch gehört, dass das Mädchen anscheinend gar keine Freunde hatte. Trauen Sie Mrs. Reilly oder gar Eileen diese Taten zu?"

"Nein", musste Scully zu geben. "Aber Mulder, es erscheint mir absurd, dass sie wirklich glauben sollen, dass ein Geist all diese Morde verübt haben soll!"

3 Stunden später

Mariah Bennett. Trisha Brune. Johnny Perkins. Joshua Scott. Dayle Montgomery. Ashley Fielding. Phoebe Harrison. Thomas Finlayson.

Alles junge, fröhliche Menschen, die laut Aussage ihrer Eltern keinen Grund zum Selbstmord gehabt hatten. Alle hatten einen großen Freundeskreis gehabt, keinerlei Suchtprobleme, keine schulischen Probleme. Nichts. Rein gar nichts. Was also hatte diese Personen in den Selbstmord getrieben? Diese Frage beschäftigte Mulder und Scully momentan mehr als alles andere.

Sogar die sachliche Scully begann zu glauben, dass diese Menschen - außer Faith Reilly - nicht durch Selbstmord ums Leben gekommen waren. Trotzdem zog sie keinen Moment in Betracht, dass an Mulders Gespenster-Theorie etwas Wahres dran sein könnte. Sie musste viel mehr an Mrs. Bennetts Worte zurückdenken. Jemand, der Faith sehr geliebt hatte, hätte all die anderen umgebracht, um sich an ihrer Stelle zu rächen. Doch wer? Wer könnte das gewesen sein? Scully zermarterte sich das Hirn. Außer Inez und Eileen Reilly kam niemand in Frage, und es erschien ihr doch sehr unwahrscheinlich, dass eine dieser beiden Frauen die Morde verübt haben sollte.

Mulder wälzte ähnliche Gedanken. Es erschien ihm zwar nach wie vor plausibel, dass Faith Reillys Geist noch auf dieser Welt war, um sich zu rächen, doch er wollte auch andere Möglichkeiten in Betracht ziehen. Was, wenn Mrs. Bennett recht haben sollte? Wenn wirklich jemand - jemand Lebendiges - Faith rächen wollte? Dafür kamen eigentlich nur Inez und Eileen Reilly in Frage. Er schüttelte den Kopf und verwarf diese Möglichkeit gleich wieder.
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