World of X

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Geblendet von weißem Licht

von DashaK

Kapitel 1

Ein anderes Lied

Ich will nicht länger wiederholenunausgesprochene Worte.Aber in Erinnerung an dieses Nicht-Treffenwerde ich eine wilde Rose pflanzen.Da das Wunder unseres Treffensleuchtete und summte,wollte ich nicht zurückgehennach irgendwo von hier.Glück vor die Pflicht zu stellenwar meine bittere Freude.Ich sprach mit jemandem, mit dem ich nicht sollteich sprach lange Zeit.Laß Begierden, die eine Antwort forderndie ersticken, die verliebt sind,aber wir, mein Darling, sind nur Seelenam Rande der Welt.

Anna Akhmatova

Eines Nachts, kurz nachdem ihre Tochter Julia geboren wurde, konnte sie nicht schlafen. In der Dunkelheit hörte sie John sich umdrehen und sie wußte, daß er auch noch wach war.

"Honey?" fragte sie seinen stillen Rücken.

"Ja?" murmelte er mit belegter Stimme.

Sie wußte nicht, warum sie es gefragt hatte. Es war etwas, worüber nicht gesprochen wurde. Man erwähnte es einfach nicht.

Sie drehte sich auf den Rücken und blinzelte in die Dunkelheit.

"Woran erinnerst du dich?" flüsterte sie. "Woran erinnerst du dich aus dem Vorher?"

John atmete in einem langen Zug aus, aber er sagte nichts. Sie berührte seine Schulter und er zuckte zusammen.

"Woran erinnerst du dich?" wiederholte sie.

"Ich erinnere mich an gar nichts."

In dem Moment hörte sie Julias Weinen aus dem Babymonitor und setzte sich auf. "Ich gehe," sagte sie und verließ das Zimmer.

Sie erwähnte das Thema nie wieder.

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Sie lief über den verlassenen Heldenplatz, ihre Absätze klapperten über die makellosen Vierecke aus Beton. Es war noch früh und der Platz war noch nicht von Menschen bevölkert, die unterwegs zur Arbeit waren.

An ihrer heißen Tasse Tee nippend überdachte sie die Frage, die sie John vor zwei Jahren gestellt hatte.

Woran erinnerst du dich?

Woran erinnere ich mich?

Sie erinnerte sich an die Gerüche der Straße, an die Abgase der vorbeifahrenden Autos, an einen Stand, an dem fettige Hot Dogs verkauft wurden, an den Gestank überlaufender Müllbehälter.

Sie erinnerte sich an den Lärm, an das Geplapper auf den Straßen in vielen verschiedenen Sprachen, an Fetzen von Rockmusik aus den offenen Fenstern eines Wohnhauses, an die Sirenen von Polizeiautos.

Sie erinnerte sich an sich selbst, sehr jung, ein Kostüm tragend, sich selbst im Spiegel anstarrend und sich fragend, ob sie ein professionelles Bild abgab.

Stücke und Teile, Ausschnitte und Fetzen der Erinnerung. Nichts paßte.

Es war für jeden anderen das gleiche, das wußte sie. Aber das machte es nicht leichter.

Sie seufzte und trat durch die Glastüren des East Side Health Buildings, strebte entschlossen ihrem Ziel entgegen.

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Dr. Hanley goß eine Tasse Kaffee ein und bot ihr eine an. Sie setzte sich in den Ledersessel am Fenster und schüttelte auf ihre Teetasse deutend den Kopf.

Die Ärztin saß hinter ihrem Schreibtisch und schob sich ein paar umherflatternde Strähnen ihres blonden Haares aus dem Gesicht. "Wie war die Woche, Dana?"

Sie seufzte. "Sie war okay. Die Arbeit war stressig gewesen. Wir sind im Labor auf ein paar Probleme mit unseren Proteinproben gestoßen, aber es scheint sich von selbst zu ordnen."

"Und das Leben zu Hause?" Dr. Hanley tippte etwas in ihr Notebook.

"Gut," sagte Dana. "Ich habe John nicht sehr oft gesehen durch die späten Stunden im Labor, aber es geht uns gut. Julia hatte wieder eine Menge kleiner Wutanfälle und es ist wahrscheinlich deswegen, weil ich nicht genug Zeit mit ihr verbracht habe."

"Haben Sie vor, das zu ändern?"

"Heute abend gehe ich mit ihr nach der Arbeit in den Park. John wird etwas zum Abendessen besorgen und dann werden wir wie eine normale Familie zusammen essen. Ich habe Harold gesagt, daß ich in dieser Woche ein paar Nachmittage freinehmen werde, damit sie nicht den ganzen Tag in der Primary Care bleiben muß. Obwohl ich weiß, daß es eine großartige Einrichtung ist, mag ich es nicht, wenn sie die ganze Zeit dort ist. Sie ist noch nicht einmal drei."

Ihre Therapeutin lächelte. "Es ist schwierig, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Es klingt so, als würden Sie ein paar richtige Schritte tun, um es hinzubekommen."

Dana nickte. "Ich versuche es, aber es ist schwer. Manchmal habe ich das Gefühl, daß John mehr Zeit mit Julia verbringt, wegen seines Berufs und auf Grund der Tatsache, daß er einen Teil seiner Arbeit zu Hause erledigen kann. Und manchmal wünsche ich mir, meine Mutter wäre da, um mir einen Rat zu geben."

"Ich glaube, wir alle wünschen uns, daß unsere Mütter da wären." Dana wußte, daß Dr. Hanley selbst zwei kleine Söhne hatte. Ihr Bild stand auf ihrem Schreibtisch, zwei engelhafte Jungen, die grinsten und ihre Fußbälle festhielten.

Sich in das Leder des Sessels zurücklehnend schloß Dana die Augen. "Ich hatte letzte Nacht einen von diesen Träumen."

Die Stimme der Ärztin war sanft. "Erzählen Sie mir davon, Dana."

"Ich bin mehr und mehr davon überzeugt, daß es nicht nur ein Traumbild ist, sondern etwas aus dem Vorher durchsickert. Es war eine Woche lang jede Nacht beinahe derselbe Traum."

"Was passiert?"

"Ich stehe auf einem Flur. Es ist eine Art Krankenhaus oder Klinik, glaube ich. Ich meine, es sieht anders aus als die Krankenhäuser, die ich kenne, aber es hat diese Atmosphäre, wissen Sie? Ich kann das Antiseptische riechen. In meinem Traum habe ich einen Bademantel an und mir ist so kalt und ich zittere vor Angst und Trauer."

"Worüber sind Sie traurig?"

Sie schüttelte den Kopf. "Genau das ist es - ich habe keine Ahnung. Ich bin erschrocken und mein Mund ist trocken, aber dann kommt er und er hält mich fest, streichelt mir über das Haar und irgendwie fühle ich mich besser. Ich sage etwas zu ihm, aber ich kann mich nie daran erinnern, was und dann erwidert er irgend etwas. Und dann küßt er mich auf die Stirn, sehr sanft, und an diesem Punkt wache ich immer auf."

"Wer ist der Mann, Dana?"

"Ich habe keine Ahnung." Sie biß sich frustriert auf die Lippen. "Ich kann sein Gesicht nicht wirklich sehen. Er ist groß und hat dunkles Haar, aber das könnte jeder sein. Alles was ich weiß ist, daß ich ihm vertraue und seine Gegenwart mich tröstet."

Letzte Nacht, nachdem sie den Traum hatte, war sie aus dem Bett geklettert und ins Wohnzimmer gegangen. Sie wanderte wieder und wieder durch den kleinen Raum, versuchte nachzudenken, ihr Gehirn dazu zu zwingen, sich an sein Gesicht zu erinnern. Es klappte nicht und schließlich schlief sie auf der Couch ein, eine von Julias Babydecken über ihrem Körper.

Niemand sprach darüber und sie hatte keine Ahnung, ob andere dieselben Träume aus der Vergangenheit hatten, denselben Kampf um ihre Erinnerungen führten.

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Offiziell war es so - die Behandlung der Seuche hatte den Nebeneffekt, daß die meisten der Erinnerungen aus der Vergangenheit verloren gingen. Die Überlebenden konnten nicht um die Vergangenheit trauern. Ehefrauen, Ehemänner, Kinder, für immer gegangen.

Während sie nach der Arbeit in die U-Bahn einstieg, dachte sie zum achttausendsten Mal in dieser Woche darüber nach. Beinahe zehn Prozent der Welt hatten überlebt, aber sie taten es nur mit Fragmenten ihrer Erinnerung.

Sie hatte eine Mutter, einen Vater, womöglich Schwestern und Brüder.

Vielleicht einen Ehemann. Kein Kind, ihre gynäkologischen Untersuchungen bevor sie schwanger geworden war, hatten ergeben, daß sie nie zuvor ein Kind geboren hatte.

Sie war Ärztin gewesen, das wußte sie, Pathologin. Ihre Ausbildung und ihre Fähigkeiten funktionierten noch, als sie nach ihrer Behandlung in der Klinik erwachte.

Sie wußte, daß sie vierzig Jahre alt war und daß ihr Geburtstag der 23. Februar 1964 war.

Früher lebte sie an der Ostküste, einer Stadt, die Washington D.C. hieß. Es war die Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Amerika. Sie konnte sich noch an die stattlichen Gebäude und Denkmäler erinnern, die sie durch die Fenster eines Autos gesehen hatte.

Und ihr Name war Dana Katherine Scully.

Diese Fetzen der Erinnerung hatten unbeschädigt überlebt. Natürlich gab es nur sehr wenige offizielle Akten, die übriggeblieben waren. Sie waren in Flammen aufgegangen.

Das war es, dachte sie mit einem Seufzer, als sie sich auf einen der blauen Plastiksitze des U-Bahn-Wagens setzte und dieser sich mit einem Windzug in Bewegung setzte. Das war die Summe von fünfunddreißig Jahren.

Es hatte einen Krieg gegeben zwischen der Erde und den Feinden. Eine schnelle Sache, die das meiste der Erde in ein paar Tagen Feuer zerstörte. Krankheit breitete sich aus wie ein Waldbrand und tötete noch mehr der Überlebenden des Kampfes. Und dann kamen die Anderen und retteten sie alle.

Sie konnte sich an nichts davon erinnern. Ihr Leben begann an dem Morgen, als sie in der Klinik erwachte, im künstlichen Sonnenlicht blinzelnd.

In Wahrheit war sie erst fünf Jahre alt.

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Sie stieg an der Station Morningside aus der U-Bahn und schob sich durch die Menge, die sich auf ihrem Weg nach Hause befand. Außerhalb der Station war die Straße hell wie am Tage, aber als sie nach oben sah, konnte sie den sternenklaren Himmel außerhalb der Kuppel über der Stadt ausmachen.

Es war Februar, also Winter. Manchmal konnte sie sich daran erinnern, als Kind im Schnee gespielt zu haben, eine Handvoll dieses weißen, weichen Zeugs zu etwas zusammengedrückt zu haben, das man Schneeball nannte, und es dann auf andere Kinder geworfen zu haben. Natürlich war die Stadt klimakontrolliert. In einer Kuppel gab es keinen Winter.

Dana konnte sich nicht daran erinnern, wie sich Kälte anfühlte.

Die Straße war voll mit Fußgängern, die noch Anzüge oder einheitliche Arbeitsuniformen trugen, sich unterhielten und lachten und das Abendessen planten. Vor dem Geschäft für Fertiggerichte gab es eine Schlange, was bedeutete, daß heute abend nur wenige Leute Lust zum Kochen hatten. Sie wußte, sie hatte keine. Dana war müde und ihre Füße schmerzten, weil sie die meiste Zeit des Tages an den Versuchsröhren gestanden hatte.

An der Primary Care Nr. 32 stand eine Menge von Müttern und Vätern mit ihrer Nachkommenschaft an der Hand, plaudernd und kleine Hände tätschelnd. Sie hielt für einen kurzen Schwatz mit Joanne Ling über Schuhe an und ging dann hinein, um Julia abzuholen.

Ihre Tochter spielte mit einem gelben Müllauto, schob es auf dem leuchtend roten Teppich hin und her und machte dabei wrumm-wrumm. Leilah, die Lehrerin der Zweijährigen, kam nach vorn und lächelte. "Sie hatte einen guten Tag, Dana. Wir habe ein bißchen getanzt und sie hat vorgegeben, ein Frosch zu sein."

Dana lächelte die junge Frau mit dem langen dunklen Haar an. "Sie hat letztes Wochenende im Park einen Frosch gesehen und konnte gar nicht mehr aufhören, davon zu erzählen."

Julia sah auf und lächelte, winzige weiße Zähne zeigten sich in ihrem rosigen Mund. "Mami!" rief sie, kam angelaufen und schlang ihre Arme um Danas graue Hosen.

Sie streichelte das hellbraune Haar ihrer Tochter und dachte, wenigstens wird sie aufwachsen mit der Erinnerung an ihre Mutter.

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Der Park war klein, eingebettet zwischen zwei hohen Apartmentkomplexen. Es gab andere, größere Parks in der Stadt, aber sie mochte das persönliche Gefühl dieses kleinen Parks und die Tatsache, daß er nur zwei Blocks von ihrer eigenen Wohnung entfernt war, machten Julia und sie zu häufigen Besuchern.

Dana verbrachte eine Weile damit, Julia auf der Schaukel anzustoßen und dann ließ sie ihre Tochter mit einem kleinen Jungen in ihrem Alter in den Sandkasten laufen und sich gründlich schmutzig machen. Das bedeutete, daß John oder sie heute abend den Sand aus der Wanne kratzen würden, aber Julia liebte es, im Sand zu buddeln.

Sie ließ sich auf einer leuchtend orangefarbenen Bank nieder und genoß das Gefühl, einfach nur dazusitzen und nachzudenken. In der letzten Zeit war es so hektisch gewesen, mit den Forderungen ihres heranwachsenden Kindes und dem immer hektischen Betrieb im Labor. Es war so friedlich, das Grün der Parkbäume zu riechen und zuzusehen, wie Julia mit ihrem neuen Freund lachte.

Im Park waren nur ein paar Menschen. Oftmals begegnete sie hier ihren Nachbarn und sie verbrachte eine gesellige Zeit damit, über Kindererziehung zu diskutieren. Heute abend waren nur eine einsame Frau auf der anderen Seite des Parks, die in einem Magazin las, und zwei Männer, die ihre Babys im Kinderwagen schoben, da. Sie konnte das Krachen eines Baseballs gegen einen Schläger und das jungenhafte Lachen vom Feld hinter ihr hören.

Sie sah überrascht auf, als sie den Klang einer männlichen Stimme vernahm. "Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich hierher setze?"

Er war ein großer Mann, schlank und mit einem schlichten grauen Anzug bekleidet. "Natürlich nicht," sagte sie.

"Es ist der beste Platz, ein Auge auf Adam zu haben. Er ist der im Sandkasten."

Sie lachte. "Also werde ich nicht die einzige sein, die heute abend Sand unter den Fingernägeln hervorkratzt. Er spielt mit meiner Tochter Julia."

Der Mann lächelte, ein warmes schiefes Lächeln, das seine ansehnlichen Gesichtszüge erleuchtete. Dana vermutete, daß er etwa in ihrem Alter war, vielleicht einige Jahre älter. Er hatte Lachfältchen um seine grau-grünen Augen und ein paar graue Strähnen in seinem dunklen Haar. Sie hatte selbst ein paar graue Haare, aber ihre Friseurin deckte sie einmal im Monat mit warmem Kastanienbraun ab.

"Ich bin froh zu sehen, daß Adam eine neue Freundin gefunden hat. Wir sind erst vor einem Monat hierher gezogen und er hatte eine schwere Zeit, sich in seiner neuen Primary Care anzupassen. Er liebte seine alte Lehrerin und der Wechsel hat ihn wirklich umgeworfen."

"Von wo sind Sie hergezogen?" Aus irgendeinem Grunde machte sie der Mann neugierig. Sie war niemand, der einem Fremden eine Menge persönlicher Fragen stellte, aber die Frage kam aus ihrem Mund, bevor sie darüber nachgedacht hatte.

"Boston," sagte er und rückte an seiner metallgefaßten Brille. "Meine Frau ist der neue Dekan an der Schule für Bildung an der Universität. Wir haßten es, umzuziehen, aber schließlich, die Städte sind doch alle ziemlich gleich, nicht wahr?"

"Ja, ich vermute es," sagte Dana. Sie hatte die Stadt nur wenige Male verlassen, einmal für ihre Hochzeitsreise nach Miracle Beach und zweimal zu Konferenzen in Chicago. Aber er hatte recht - eine Stadt unter der Kuppel war wie die andere. Leise, sauber, friedlich. "Was arbeiten Sie?"

"Ich bin Entwicklungspsychologe. Ich arbeite mit Kindern im Schulalter und ich konnte in das Schulsystem hier wechseln, als Sarah ihren neuen Job bekam. Und Sie?"

Sie drehte sich zu ihm um und studierte verstohlen sein Gesicht. Etwas darin erinnerte sie an ihren Mann, vielleicht die Intensität seiner Augen oder die Linie seiner Unterlippe. Interessant, dachte Dana. "Ich arbeite in der medizinischen Forschung. In einem Labor, das angeborene genetische Schäden untersucht, ein Erbe der Seuche."

"Das muß faszinierend sein," sagte er und nickte dabei.

"Das ist es." Und dann erklang ein Heulen aus dem Sandkasten, als Julia dem kleinen Jungen mit dem lockigen Haar ihre Plastikschaufel auf den Kopf klatschte.

"Julia!" rief sie.

"Ich nehme an, das ist unser Zeichen," sagte der Mann und stand auf, um seinen Sohn zu beruhigen.

Sie seufzte und ging zu ihrer anscheinend gemeingefährlichen Tochter. Die Schrecklichen Zwei, dachte sie reumütig.

Als sie den Park mit Julia im Schlepptau verließ, kam ihr in den Sinn, daß sie den Namen des Mannes gar nicht kannte.

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Nachdem Julia gebadet hatte und im Bett lag, rollte sich Dana auf der Couch zusammen und begann, sich durch das Fotoalbum auf dem Telebildschirm zu klicken. Heute abend schien die Wohnung aus irgendeinem Grund besonders gemütlich zu sein. Die Vorhänge waren geschlossen, die funkelnden Nachtlichter der Stadt blieben draußen und das Wohnzimmer wurde durch das Licht der Lampe erhellt. Durch die offene Badezimmertür konnte sie John hören, der die Badewanne sauber machte. Er hatte den kurzen Strohhalm gezogen.

Die Fotos begannen, gleich nachdem sie John getroffen hatte. Es gab Fotos von ihren Verabredungen, sie beide auf Parties, auf Konzerten, einander anlächelnd im öffentlichen Schwimmbad.

Die Zeit ihrer Umwerbung war kurz gewesen. In diesen frühen Tagen, als jedermann in der Stadt so verzweifelt versuchte, sich zu binden, eine Familie zu haben, gab es eine dreimonatige Warteliste für die Hochzeitszeremonie im Saal des Friedensrichters. Sie hatte John im August auf einer Party kennengelernt und im Dezember waren sie verheiratet. Auf den Fotos sah sie strahlend und ein wenig verlegen aus ihrem langen weißen Kleid, sich vor dem Hochzeitszimmer an Johns Hand klammernd. Sie sahen beide trunken und erhitzt aus auf ihrer Hochzeitsparty, umgeben von ihren Freunden von der Arbeit.

Ihr Gesicht war ernst auf dem Foto, auf dem sie ihre Heiratsurkunde unterschrieben. Obwohl John und sie nur einen Monat, nachdem sie sich kennengelernt hatten, beschlossen zu heiraten, nahm sie die Bindung ernst. Als sie vor Friedensrichter McLean geschworen hatte, John Rosen zu lieben, zu ehren und zu beschützen, hatte sie es so gemeint.

Letztendlich war er alles, was sie hatte.

Dana klickte weiter zu den Fotos von ihr selbst im Park sitzend und hochschwanger. Während dieser Monate sehnte sie sich nach der Mutter, an die sie sich nicht erinnern konnte. Es war unheimlich, für ihr ungeborenes Kind verantwortlich zu sein, zu wissen, daß sie bald die schreckliche Verantwortung hatte, Mutter zu sein. Wie konnte sie ihrem Baby eine Mutter sein, wenn sie sich nicht einmal daran erinnern konnte, wie es war, eine Mutter zu haben?

Und dann gab es buchstäblich hunderte von Fotos von Julia. Sie zeigten sie, wie sie von einem blutverschmierten schreienden kleinen Geschöpf in der Entbindungsklinik zu einem kleinen Mädchen mit glatten braunen kinnlangen Haaren heranwuchs, das seine Zunge in die Kamera streckte.

John tappte ins Zimmer und setzte sich neben Dana. "Gott, sie ist schön, nicht wahr?" sagte er in einem Ton voller Ehrfurcht.

Sie drehte sich zu John um und zeichnete mit ihrem Zeigefinger die Linie seines Wangenknochens nach. "Was glaubst du, nach wem sie kommt? Nach dir oder nach mir?"

Er grinste. "Sie hat dein Lächeln, aber meine Nase."

"Gott sei dank," lachte sie. Sie haßte ihre Nase und hatte überlegt, sie in einer der chirurgischen Boutiquen, die wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, richten zu lassen. Es schien eitel zu sein, also war es nur eine Phantasterei.

"Ich liebe deine Nase, Dana." John küßte sie auf den Nasenrücken und sie seufzte vor Vergnügen. Es war Wochen her, seit sie sich geliebt hatten. Ihre Terminkalender waren so voll gewesen, daß sie zu müde für etwas anderes als halbherziges Streicheln in der Nacht waren.

Sie schaltete den Telebildschirm aus und wandte sich ihrem Mann zu, über die Art lächelnd, wie seine Augen gleichzeitig müde und erregt blickten.

"Laß uns ins Bett gehen," sagte sie.

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In dieser Nacht hatte sie einen neuen Traum.

Sie schlief mit jemandem, aber es war nicht John. Es war ein anderer Mann. Der gesichtslose Mann mit den dunklen Haaren und den sanften Händen.

Es war am Morgen und sie lagen in einem Bett, das Dana nicht vertraut war, aber es roch für sie nach Zuhause, nach ihrem eigenen Körper, ihrem Parfüm und dem Geruch seiner Haut. Er roch nach Schlaf. Gott, er fühlte sich so gut an, wie er sie langsam in der frühen Morgensonne berührte und sie mit üppigen Lippen küßte. Sie liebte ihn. Oh, wie sie ihn liebte. Nur ihn.

Der Mann hielt sie fest und küßte sie, nachdem sie zusammen gekommen waren und sagte, "Ich werde das niemals vergessen, Scully."

Seltsam, er nannte sie bei ihrem Nachnamen.

Dann erwachte sie, kerzengerade sitzend und mit klopfendem Herzen. Nach ein paar Minuten der Verwirrung kletterte sie aus dem Bett. John, der immer schlafen konnte, bewegte sich nicht, nicht einmal nachdem sie über ihre Laufschuhe auf dem Boden gestolpert war.

Im Badezimmer putzte sie sich die Zähne, trank ein Glas Wasser und starrte ihr Spiegelbild an.

Ich frage mich, wieviele Liebhaber ich gehabt habe, dachte sie.

In jeder Hinsicht war John ihr erster gewesen und sie seine erste. Aber es hatte sich augenblicklich vertraut angefühlt, als John in ihrer ersten gemeinsamen Nacht in sie eingedrungen war. Der Rhythmus fühlte sich an, wie etwas, das sie von früher kannte. Und als sie sich seinem Körper entgegenbäumte und bei ihrem Orgasmus aufschrie, hatte sie das Gefühl eines deja vu, das sie häufig heimgesucht hatte in den Monaten, seit sie in der Klinik aufgewacht war.

Dana schüttelte den Kopf und gelobte damit aufzuhören, von der Vergangenheit besessen zu sein. Es war nicht gesund, es war nicht fair gegenüber John und Julia und dem neuen Leben, daß sie sich in den letzten fünf Jahren aufgebaut hatte. Andere Menschen lebten ihr Leben und schufen sich einfach ihre neuen Erinnerungen. Sie mußte dasselbe tun.

Ich möchte mich nicht an dich erinnern, sagte sie schweigend zu dem Mann aus ihren Träumen.

Sie kletterte wieder ins Bett und drückte sich an Johns warmen, nackten Rücken. Sie klammerte sich an ihn, wie an eine Sicherheitsdecke.

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Am Sonntagmorgen erwachte Dana bei strahlendem, künstlichem Sonnenschein, der durch die Fenster fiel. Johns Arm lag um sie und er summte leise ein Lied, das sie vertraut fand, aber nicht benennen konnte.

"Was singst du?" murmelte sie und barg ihr Gesicht in seinem sandfarbenen Haar, das nach Kamillenschampoo roch.

John schüttelte den Kopf. "Ich weiß nicht," sagte er einfach.

Es war lustig, wie Dinge wie dieses einfach kamen. Eines Nachts, ein paar Monate, nachdem sie die Klinik verlassen hatte, war sie auf einer Party in der Fellowship Hall gewesen. Dort gab es ein Klavier und die elfenbeinfarbenen und ebenholzfarbenen Tasten faszinierten sie. Sie setzte sich nieder und ließ ihre Finger über die kühlen Klaviertasten gleiten. Plötzlich begannen sich ihre Finger zu bewegen und ein Lied zu formen. Sie konnte Klavier spielen. Irgendwo in ihrer Vergangenheit hatte sie Klavierunterricht gehabt.

Dana streckte sich und gähnte und genoß das Gefühl, nicht aufstehen zu müssen, um zur Arbeit zu gehen. Sie waren mit Julia bei einem Barbecue gewesen, das Deborah, die Leiterin von Johns Büro veranstaltet hatte und sie war nicht vor Mitternacht ins Bett gekommen. Normalerweise wäre ihre Tochter schon wach und würde schreien, um auf sich aufmerksam zu machen. Aber sie konnte Julias gleichmäßigen Atem durch den Monitor hören.

John kuschelte sein stachliges Gesicht an ihren Hals und sie brummte und spürte, wie ihre Nerven zum Leben erwachten.

Seine Stimme war so leise, daß sie ihn beinahe nicht hörte. "Bist du glücklich, Dana?"

Ihre Augen wurden größer. "Was meinst du?"

John rückte von ihr ab, setzte sich hin und starrte aus dem Fenster. "Bist du glücklich? Mit mir, mit uns?"

Sie setzte sich auch auf. "Wovon sprichst du? Du weißt, daß ich glücklich bin mit dir."

"Es ist nur..." Er verstummte und drehte sich mit zusammengezogenen Augenbrauen zu ihr um. "Du hast so viele schlechte Träume gehabt, du schienst so in Gedanken in den letzten paar Monaten. Ich habe Angst, daß du nicht länger glücklich bist."

Sie war keine so gute Schauspielerin, wie sie glauben wollte.

Dana hüllte sich in die Decke und berührte leicht seinen nackten Arm. "Ich bin sehr glücklich mit dir, John. Daran hat sich nichts geändert. Aber ich habe diese Träume und ich denke, sie sind über das Vorher."

Er nickte. "Ich wünschte, du könntest sie loslassen."

"Die Vergangenheit?"

"Ja. Dana, es tut dir nicht gut, darüber nachzudenken, zu versuchen, dich zu erinnern."

Ihre Augen schließend, wünschte sie, sie könnte es einfach beenden. Aber sie konnte nicht. Es war außerhalb ihrer Kontrolle.

Sie brauchte eine Weile, um die Worte zu finden. "John, möchtest du dich niemals erinnern?"

Ihr Ehemann zögerte nicht einmal mit der Antwort. "Ich möchte nicht um etwas trauern, das ich niemals wieder haben kann."

Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob John eine Frau gehabt hatte, eine Familie. Sie wollte wissen, wie er als Junge gewesen war, wer das erste Mädchen war, das er geküßt hatte.

John beugte sich zu ihr und küßte sie auf die Wange. "Du mußt sie loslassen, Dana. Du hast jetzt ein neues Leben. Die Vergangenheit sollte in der Vergangenheit bleiben."

Sie nickte und lächelte ihn an. Seine Gesichtszüge waren ihr vertraut geworden und sie liebte sie.

Dennoch, als sie sich zurücklegten und unter der Decke aneinander kuschelten, gingen ihr dieselben Fragen weiter durch den Kopf.

Wen habe ich geliebt - vorher?

Wer bist du?

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