World of X

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Alunakanula

von DashaK

Kapitel 1

Der Mond ist hinter den Wolken verschwunden.

Der Himmel über ihrem Kopf ist tiefblauer Samt. Nicht ein einziger Stern ist am Himmel. Scully hatte in ihrem ganzen Leben keine dunklere Nacht gesehen.

Sie legt sich auf der Liege im Garten ihrer Mutter zurück und starrt in den Nachthimmel.

Wo bist du jetzt?

Was sie am meisten ängstigt, ihr den Atem im Hals stocken läßt ist, daß sie vielleicht niemals die Antwort auf diese Frage kennen wird. Wird sie den Rest ihres Lebens damit verbringen, den Himmel abzusuchen?

Nein. Sie schüttelt den Kopf. Sie wird nicht so wenig Glauben haben.

Sie untersucht den Himmel nach etwas, irgendetwas.

Scully war in die Sicherheit des Hauses ihrer Mutter geflohen. Sie muß nachdenken, berechnen und einen Handlungsplan entwickeln. Wirklich, sie sollte bereits da draußen sein und Marita und Krycek jagen und die Antworten aus ihnen herausschütteln, wenn sie sie findet. Aber sie muß einen Moment anhalten, um ihren Atem zu beruhigen und ihre Kräfte zu arrangieren. Sie muß das richtig machen.

Ich werde, denkt sie und beißt die Zähne zusammen. Ich muß.

Sie war überrascht, daß ihre Mutter nicht zu Hause war, bis ihr einfiel, daß sie an diesem Abend ihr Treffen mit der St. John's Gilde hatte. Scully schloß sich selbst auf mit dem Schlüssel, den ihre Mutter unschuldig unter dem Blumentopf links neben der Eingangstür aufbewahrte und lief schnurstracks zum Kühlschrank. So lange sich Scully erinnern konnte, hatte ihre Mutter immer einen Krug mit Limonade im Kühlschrank und eine Topf voller Kekse. Sie goß sich ein großes Glas Limonade ein und griff nach einem Keks wie ein kleines Mädchen, das eine Überraschung brauchte. Diesmal waren es dünne Schokoladenkekse, die an den knusprigen Ecken leicht gebräunt waren.

Egal wie verrückt ihr Leben auch ist, Scully kann immer auf Limonade und Kekse zählen. Es ist keine große Sache, aber tröstend.

Sie versucht, das alles zu begreifen, den Doppelwhammy der Ereignisse anzunehmen und ihn in etwas zu formen, das sie verstehen kann, aber es ist zu viel. Es ist riesig.

Ihre Arme fühlen sich leer und schwerelos an. Wenn sie sie nur um die vertraute Figur legen könnte und ihm die überraschenden Neuigkeiten ins Ohr flüstern könnte. Scully stellt sich vor, wie er die Augenbrauen hochzieht und sein Mund offensteht, der Gläubige unfähig zu glauben. "Das ist unmöglich," würde er sagen und sie würde zustimmend nicken.

Unmöglich ist eine Untertreibung.

Das erste Mal, als sie sich liebten, langte Mulder in die Schublade seines Nachttisches nach einem Kondom. "Wir brauchen keines," flüsterte sie ihm ins Ohr. Sie kannte ihre Blutproben und sie waren sauber. Eine Schwangerschaft war nicht einmal im Bereich des Möglichen.

Seit sie mit achtzehn angefangen hatte, Sex zu haben, hatte Scully gewissenhaft eine Schwangerschaft vermieden. Jahrelang nahm sie jeden Morgen zusammen mit dem Orangensaft die Antibabypille. Später, als Sex mit einem größeren Risiko behaftet war, schleppte sie Kondome und Schaum in ihrer Handtasche mit sich herum. Und dann hatte sie lange Zeit nichts, weil da niemand war. Die Kondome in ihrem Wäscheschrank waren überlagert und sie warf sie fort. Sie begriff, daß sie jederzeit neue kaufen konnte, wenn es so aussehen sollte, daß sie demnächst Sex haben würde.

Dann kam der Nachmittag, an dem sie erstarrt in dem Sessel im Zimmer des Doktors saß und zuhörte, wie ihr Dr. Bailey sanft erklärte, daß sie niemals eigene Kinder haben würde. Sie erinnert sich daran, daß sie wie benommen nach Hause gefahren war, zu schockiert, um darüber zu weinen, daß ihr auch das genommen worden war.

Sie begann, die Tatsache ihrer Unfruchtbarkeit zu akzeptieren, wenn auch nicht zu mögen. Ja, sie war wütend. Ja, sie empfand den schneidenden Verlust, daß ihr die Möglichkeit einer Mutterschaft genommen worden war ohne ihre Zustimmung, aber es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Sich in dem Schmerz und Verlust zu wälzen, würde gar nichts bringen. Sie mußte weitermachen.

Dennoch hielt sie manchmal ein Baby in den Armen und roch seine süße, zarte Haut und fühlte dabei, wie ihr der Schmerz wie mit einem Eispickel direkt ins Herz stach. Scully schaukelte Theresas Baby in ihrem Schoß und spürte dabei Mulders Blick auf sich. Sie stellte sich vor, daß sie seine Gedanken lesen könnte - wenn doch nur, Scully. Wenn doch nur.

Wenn sie nur gewußt hätten, was sie jetzt weiß.

Ihre Hände gleitenn zu ihrem Bauch, der immer noch völlig flach ist. Und sie stellt sich einen Moment lang vor, daß sie spüren kann, wie sich ihr Kind darin bewegt. Sie schließt ihre Augen und sieht das Bild ihres Kindes, das in seinem See aus Fruchtwasser schwimmt.

Sie hätte es nicht geglaubt, wenn sie nicht die Ergebnisse der Urin- und Bluttests gesehen und keine gründliche Untersuchung eines anerkannten Gynäkologen gehabt hätte. Obwohl ihr schwindlig und ein wenig übel gewesen war, war es ihr nie in den Sinn gekommen, daß sie schwanger war. Seit ihrer Entführung war ihre Periode nicht mehr regelmäßig gekommen, also hatte es überhaupt nichts für sie bedeutet, daß sie zwei Monate ausgeblieben war. Man kann es Leugnen nennen, aber sie nennt es einfach Logik. Es war unmöglich für sie, schwanger zu werden, deshalb bedeuteten diese Symptome nicht Schwangerschaft.

Es ist eine warme, angenehme Mainacht, aber Scully zittert dennoch, wenn sie daran denkt, daß sie das alles womöglich allein durchstehen muß. Und sie wundert sich immer wieder über das Wie und geht in Gedanken endlos die Möglichkeiten durch. Konnten ein paar Eizellen vergessen worden sein, als sie die Laparoskopie an ihren Eierstöcken vorgenommen hatten? Konnten sie irgendetwas mit ihr angestellt haben, während sie in der Antarktis war? Was ist mit der Zeit, die sie mit dem Raucher verbracht hatte?

Die Galle kommt ihr hoch und sie spült sie mit einem großen Schluck Limonade fort. Nein, sie hätte es gewußt, wenn ihr dieser Mann etwas angetan hätte, während sie mit ihm zusammen war. Sie hätte es gespürt.

Im zweiten Monat, hatte ihr der Gynäkologe mit einem breiten Lächeln im Krankenhaus erzählt. Mehr oder weniger ist Scully im zweiten Monat schwanger. Anfang Dezember soll sie entbinden.

Sie versucht, sich die kalte Dezemberluft vorzustellen, wahrscheinlich wird es eine dünne Schneedecke geben, wenn die Wehenschmerzen beginnen und sie allein ins Krankenhaus geht, um das Baby zu bekommen.

Sie kann nicht. Sie kann das Baby nicht ohne Mulder haben.

Ich werde dich finden, flüstert sie in den dunklen Garten.

Scully denkt zwei Monate zurück und versucht, näher zu bestimmen, wann ihr Baby gezeugt wurde. März - mal sehen, was im März passiert ist.

Sie schließt die Augen, atmet tief ein und erinnert sich an ein Wochenende im März, als sie die ganze Zeit in ihrem Apartment verbracht hatten. Es gab keinen Fall, keinen Papierkram und der eisige Regen hatte nie den geringsten Reiz auf sie ausgeübt, tatsächlich irgendwo hinzugehen.

Vor diesem Wochenende waren Mulder und sie nur wenige Male seit ihrem ersten Mal am Neujahrsmorgen zusammengewesen. Es gab keine freie Zeit, um sie miteinander zu verbringen. Es war nicht professionell, während sie an einem Fall arbeiteten und es schien niemals der richtige Zeitpunkt zu sein, wenn sie zu Hause waren.

Zurückblickend kann sie zugeben, daß die Tatsache, daß sie es einfach nicht gewöhnt waren zusammenzusein, daß sie in ihrer neuen Rolle als Liebende scheu waren, eine große Rolle gespielt hat. Es war nicht wie im Film, wenn aus Freunden Verliebte werden und dann ist alles Seligkeit und ein bunter Regenbogen. Die paar Nächte, die sie zusammen verbracht hatten, schienen immer wie ein glücklicher Unfall zu sein. ‚Oh, ich wollte dir diesen Autopsiebericht zeigen.' ‚Scully, hab ich mein Jackett hier liegenlassen?'

Dieses Wochenende, das zweite im März, war es, als sie all ihre Hemmungen verloren.

Sie erinnert sich daran, daß sie sich endlos geliebt hatten und an die Überraschung und das Vergnügen darin. Stunden um Stunden, von einer heißen, wilden Freitagnacht auf der Couch zu einem gemächlichen Sonntagabend in der Badewanne, während das Wasser und der Seifenschaum auf den Fliesenboden und die Badematte schwappten. Plötzlich waren sie unersättlich, kamen immer wieder zueinander wie hormongesteuerte Teenager nach dem Abschlußball. Sie hätte nicht geglaubt, daß Mulder, beinahe vierzig, so lange durchhielt, aber er tat es.

An diesem Wochenende fühlte sie sich lebendig, umhüllt von luxuriösen Stoffen und dem Geruch von Sex, den sie schließlich in seiner vielfarbigen, dreidimensionalen Form erlebten. Endlich war sie frei von Schuld und Hemmung. Sex mit Mulder war frei und natürlich; sie paßten einfach zusammen, trotz ihrer unterschiedlichen Größe.

Es gab eine Menge neuer Entdeckungen. Sie konnte durch seine Hände, seinen Mund, seinen Penis kommen, wieder und wieder, bis sie fürchtete, es könnte ein Blutgefäß in ihrem Hirn platzen, weil sie immerzu die Augen nach innen verdrehte. Sie liebte es, wenn sich Mulder unter ihr wand, während sie ihn mit dem Mund verwöhnte und ihn mit ganz langsamen Bewegungen neckte. Sie konnte sich selbst berühren, während er in ihr war und er war nicht beleidigt und nahm es nicht als irgendeine Anmerkung zu seinen Fähigkeiten. Es erregte ihn nur noch mehr.

Sie schienen nicht aufhören zu können, während der Regen fortfuhr, gegen die Scheiben zu klatschen. Sie bestellten Pizza und thailändisches Essen, tranken Orangensaft und Bier, um wieder Flüssigkeit aufzunehmen, und hin und wieder machten sie ein kurzes Nickerchen. Jedesmal wenn sie versuchten, unschuldig auf der Couch zu sitzen und sich einen Film anzusehen, wurden die Dialoge und die Musik zu Hintergrundgeräuschen ihres sich steigernden Stöhnens.

An irgendeinem Punkt blickte Mulder sie an, sein Gesicht war gerötet und verschwitzt, seine Haare standen nach allen Seiten ab, und er keuchte, "Was passiert mit uns?"

Sie lachte und sagte, "Das ist pure Lust, Mulder."

Die Liebe hatten sie seit langer Zeit, nun war es Zeit für die Lust.

Aber nun konnten sie auch frei von Liebe sprechen.

"Ich liebe dich ich liebe dich ich liebe liebe liebe dich," sang Mulder mit gedehnter Stimme, während er von hinten tief in sie hineinstieß, seine Hände auf ihren Schenkeln.

Als ihnen bereits alles wehtat, hörten sie nicht auf, sondern machten einfach langsam weiter, berührten sich nur noch mit zärtlichen, feuchten Fingern, ihre Münder und Zungen verschmolzen miteinander.

Sie küßten sich permanent - während des Vorspanns des Films "Matrix", während sie versuchten, Eier zu braten, unter der Dusche, während sie ihre Voicemailbox im Büro abhörten.

Jetzt kann sich Scully nicht erinnern, ob sie an diesem Wochenende jemals etwas angezogen hatten.

In der Vergangenheit brauchte sie immer die Dunkelheit beim Sex. Sie mochte den Anblick ihres Körpers nicht und wollte nicht, daß irgendjemand anders ihn im unversöhnlichen Licht des Tages sah. Ihre Beine waren kurz und gedrungen. Eine Brust war ein bißchen größer als die andere. Ihr Bauch war von der Schußwunde vernarbt. Manchmal hatte sie einen Pickel am Po.

Aber Mulder betete ihren Körper an diesem Wochenende an, er küßte und leckte jeden Zentimeter und bekannte stöhnend, daß er immer davon geträumt hatte, die sanfte Haut an der Innenseite ihrer Ellbogen zu küssen. Er redete so lange über die Schönheit ihrer Brüste, daß sie ihm eins auf sein nacktes Hinterteil gab, damit er aufhörte. Er verbrachte eine lange Zeit zwischen ihren Beinen, leckte sie mit langsamer Finesse, hielt inne, um ihr zu sagen, wie gut sie schmeckte und wie gern er das tat und daß er nichts lieber wollte, als den ganzen Tag dort zuzubringen.

Sie sah zu, als sie sich vor dem Spiegel ihres Wandschranks liebten. Wie schön wir sind, dachte sie.

Sie erwischte sich dabei, wie sie ohne ein einziges Stück Stoff an ihrem Körper durch ihr Apartment stolzierte und dabei stolz wie eine Königin war. Scully wußte, daß sie weit davon entfernt war, perfekt zu sein, aber in Mulders Augen war sie an diesem Wochenende makellos.

Und sie gab zurück, was sie bekam. Sie stand in der Dusche und sah zu, wie das Wasser über seine breite Brust und seine kräftigen Schenkel rann. Sie liebte sogar die Narbe an seiner Schulter. Wissenschaftlerin, wie sie nun mal war, beobachtete sie, wie sein Penis unter ihrer Berührung groß und hart wurde. Sie küßte das Mal an seiner Wange und die Spitze seiner kräftigen Nase, die Nase, von der sie wußte, daß er sie insgeheim haßte. Niemals hatte sie sich vorgestellt, daß ein Mann so weiche Lippen haben konnte.

Sie teilten ein paar Geheimnisse, während sie vor dem Kamin saßen und Wein tranken, in ihre Decke gehüllt, die nach ihren Körpern duftete. Es war nicht einfach, denn sie waren es nicht gewöhnt, über so persönliche Dinge zu sprechen, aber die Geschichten kamen langsam und zögernd hervor. Alte Lieben, Enttäuschungen in der Vergangenheit, Erniedrigungen im Namen der Liebe. Sie hielten sich bei den Händen und sahen verschwommen zu, wie die Flammen im Kamin tanzten.

Scully erwachte mitten in der Nacht und fand ihre Finger, die immer noch ineinander verschlungen waren und zwischen ihnen auf dem Laken lagen. Seine Hand groß und braun, ihre klein und weiß. Ihre Hände waren sogar im Schlaf vereint.

Sogar da, als sie in den Moment versunken war, wußte sie, daß es nicht immer so glückselig, so hungrig und wild sein würde. Sie verbrachten dieses Wochenende damit, den Handel zu besiegeln und sich gegenseitig ihrer Liebe zu versichern. Es war der Wendepunkt, den sie so dringend brauchten. Danach würde es nicht mehr so unbeholfen sein.

Am Sonntagabend küßte Scully ihn an der Tür und sah zu, wie er irgendwie o-beinig den Gang entlang zur Haustür ging. Sie schloß die Tür hinter sich, lehnte sich dagegen und lächelte.

Nun vermutet sie mit wachsender Sicherheit, daß sie zu der Zeit, als Mulder ihr Apartment verließ, schwanger war. Während sie grinste und sich die mehr ekstatischen Momente des Wochenendgelages zurückrief, vermehrten sich die Zellen rasant und das Leben begann sich zu formen.

Allein im Garten fühlt Scully, wie ihr die Tränen kommen und sie zwingt sich, nicht zu weinen. Sie kann es sich nicht leisten. Jetzt muß sie stark, kontrolliert und voller Energie sein.

Wenn Mulder gewußt hätte, daß sie schwanger ist, ob er dann nach Oregon gegangen wäre? Sie zuckte angesichts ihrer eigenen rhetorischen Frage mit den Schultern. Was-wäre-wenn-Situationen taten niemals jemandem gut.

Sie fragt sich, ob Mulder so empfunden hatte, als sie entführt worden war, diesen dumpfen Schmerz, diese Leere in seiner Brust. Ihre Hand greift instinktiv nach dem goldenen Kreuz an ihrem Hals und sie entdeckt, daß es nicht da ist.

Natürlich nicht. Sie hat es Mulder gegeben.

Ihr Abschied war kurz gewesen, was irgendwie barmherzig war. Mulder und sie waren nie gut in Abschiedsszenen.

Mulder und Skinner mußten sich beeilen, um ihren Flug nach Portland zu bekommen. Unten im Büro raffte Mulder ein paar Sachen zusammen und stopfte sie in seinen Aktenkoffer - Akten, Bücher, einige seltsam aussehende Dinge, die sie nie zuvor gesehen hatte und eine Waschtasche, die er in seinem Schreibtisch aufbewahrte. Scully stand an der Tür und beobachtete ihn in betäubter Faszination.

Er drehte sich zu ihr um und räusperte sich.

Das ist nicht unser Abschied, dachte sie. Er wird in ein paar Tagen zurück sein.

Sie zwang ein Lächeln auf ihr Gesicht. "Bist du sicher, daß ich dich nicht dazu überreden kann, mich mitzunehmen?"

Mulder hob beschwichtigend seine Hände. "Wir können dieses Risiko nicht eingehen."

Sie nickte und küßte ihn zärtlich und spürte dabei, wie etwas in ihr zerbrach. Ein kleines Flüstern in ihrem Kopf sagte ihr, daß Mulder nicht zurückkommen würde. Er fuhr einem Schicksal entgegen, das vor sieben Jahren begonnen hatte in einer kleinen Stadt in den Wäldern von Oregon. Der Kreis hatte sich geschlossen und hier begannen sich ihre Wege zu trennen.

Scully zog es vor, das Flüstern zu ignorieren. Mulder würde es gut gehen.

Schwerfällig lösten ihre Finger den Verschluß der goldenen Kette, an der ihr Kreuz hing, und die Glieder sammelten sich in ihrer Hand. Sie hielt es ihm wie ein Opfer hin.

"Ich möchte, daß du es trägst," flüsterte sie.

"Scully," entgegnete er mit rauher Stimme und wandte sich von ihr ab. Sie fragte sich, ob er Tränen fortblinzelte.

Er beugte seinen Kopf und sie befestigte die Kette um seinen Hals. Sie war ein bißchen eng, aber es würde gehen. Dann schob sie sie unter sein Hemd.

Mulder ergriff ihre Hände, seine Augen waren sanft und leuchteten vor Tränen. "Ich liebe dich, Scully."

"Ich liebe dich auch."

Es schien nichts mehr zu sagen zu geben. Sie drehte sich um und ging zum Schreibtisch. Hinter sich hörte sie seine Schritte auf dem Gang zum Fahrstuhl und dann nichts mehr.

"Dana?"

Die Stimme ihrer Mutter rüttelt sie aus ihren Erinnerungen. Ihre Augen öffnen sich.

"Ja, Mom, ich bin hier draußen."

"Ich dachte mir, daß das dein Wagen ist, da vor dem Haus..."

Scully kann das Gras rascheln hören, als ihre Mutter auf sie zukommt. Ihr Magen schlingert und droht, sich zusammenzuziehen, ihre Nerven sind überarbeitet. Sie hat ihrer Mutter eine Menge zu erzählen.

Eines Nachmittags, als sie noch ein Teenager war, hörte Scully, wie ihre Mutter am Telefon zu einer Freundin sagte, "Weißt du, Dana ist das einzige Kind, wegen dem ich mir niemals Sorgen mache."

Aus irgendeinem Grund war sie sehr stolz darauf gewesen. Sie machte ihrer Mutter niemals Sorgen.

Wie die Zeiten sich doch ändern. Jetzt ist Dana wahrscheinlich das einzige Kind, wegen dem sie sich Sorgen macht.

Sie haßt es, ihrer Mutter noch mehr schlechte Neuigkeiten zu erzählen.

Sie fürchtet es, ihrer Mutter die guten Neuigkeiten zu erzählen.

Ihr Mund wird trocken und Scully nimmt einen tiefen Schluck Limonade. Sie wünscht sich, sie hätte ein nettes, sicheres Leben, in dem sie ihrer Mutter beinahe alles erzählen konnte und ihre Mutter sie verstehen würde.

All die Dinge, die in den letzten sieben Jahren passiert waren - Entführungen, Schüsse, Krebs, Unfruchtbarkeit, der Tod von Melissa - hatten Scully zu einem besseren und stärkeren Menschen gemacht, aber sie hatten sie auch ihrer Mutter entfremdet. Sie will ihrer Mutter nicht mehr Sorgen bereiten als unbedingt nötig, was bedeutet, daß sie sich alles wohl überlegt, wenn sie mit ihr spricht.

Aber jetzt kann sie es nicht tun. Sie kann nur ehrlich sein.

Es tut mir leid, denkt sie an die Adresse ihrer Mutter gerichtet. Ich wollte dir niemals so wehtun, dich um deinen Schlaf und deinen Frieden bringen, indem du dir Sorgen um mich machst. Sie fühlt sich wie ein Teenager, der dabei war zuzugeben, daß ihr Freund sie geschwängert hat und dann verschwunden ist. Verführt und verlassen, das älteste Thema in der Literatur.

Sie ist beschämt, stolz und verängstigt.

Scully schwingt ihre Beine über die Kante der Liege, so daß sich Maggie neben sie setzen kann.

"Bist du in Ordnung?" Ihre Mutter berührt ihr Gesicht.

Ihr Entschluß, nicht zu weinen, fällt in sich zusammen bei dem sanften Ton in der Stimme ihrer Mutter. Die Tränen beginnen bereits warm und klebrig über ihr Gesicht zu laufen.

"Nein," antwortet sie, verschränkt die Arme vor der Brust und blickt in ihren Schoß. "Ich bin nicht in Ordnung."

Als ihre Mutter sie in die Arme nimmt, bricht alles aus Scully heraus in einem Durcheinander von Tränen und Worten.

Maggie sagt gar nichts, schaukelt nur ihre Tochter und summt irgendetwas wortloses und tröstendes. In ihrem Hinterkopf fragt sich Scully, ob es eines Tages mit ihrem eigenen Kind auch so sein wird. Wird sie ihrem Kind Trost und Sicherheit bieten müssen, während ihr das Herz bricht?

Als sie ihrer Mutter alles erzählt hat, wischt Maggie ihre eigenen Tränen fort und sagt, "Dana, warum bleibst du heute Nacht nicht hier? Wir haben immer noch über so vieles zu reden."

Scully nickt.

"Morgen früh können wir zur Messe gehen."

Sie kann Gott danken für ein Wunder und für ein weiteres beten.

Maggie steht auf und nimmt Danas Hand und versucht, sie hochzuziehen. "Laß uns hinein gehen. Es wird kühl."

"Ich komme gleich nach," sagt Scully. "Ich muß nur einen Moment allein sein."

Ihre Mutter geht auf das Haus zu und selbst in der Dunkelheit kann Scully sehen, daß ihre Körperhaltung zusammengefallen ist.

Ein weiteres Mal blickt sie in den Himmel und sieht nichts. Der Mond ist immer noch versteckt.

Scully braucht lange, um einzuschlafen. Sie ist nicht daran gewöhnt, die Nacht in dem fröhlichen Gästezimmer ihrer Mutter mit den rosengeschmückten Tapeten zu verbringen. Die Matratze ist für ihren Geschmack zu weich und das Fehlen der Geräusche von der Straße und die dadurch verursachte Stille machen sie nervös.

Eine Weile blättert sie in einem Magazin, um sich zu entspannen, aber sie erwischt sich dabei, daß sie die Hochglanzbilder anschaut, ohne sie wirklich zu sehen. Sie denkt daran, als ihre Mutter mit ihr schwanger war und ihr Vater auf See war und in Vietnam kämpfte. Maggie hatte keine Ahnung, ob ihr Mann jemals zurückkehren würde, ob er sie mit drei kleinen Kindern allein ließ, die aufwachsen würden, ohne jemals den außergewöhnlichen Mann kennenzulernen, der ihr Vater war.

Am Morgen würde sie ihre Mutter über diese Zeit in ihrem Leben befragen müssen.

Während es bereits sehr spät geworden war, erkennt sie, daß sie Angst hat, das Licht auszuschalten und zu versuchen, zu schlafen.

Als sie schließlich die Lampe ausknipst, hat sie all ihre Ängste erkannt. Sie versucht, die Augen zu schließen und zu beten, aber sie findet die Worte nicht. In dieser Nacht fühlt sie keine Verbindung zu Gott. Stattdessen kommen ihr schreckliche Gedanken - Babys mit grünem Hybridenblut, Babys krank wie Emily, Mulder niemals wiedersehen, ihr Kind allein aufziehen, Mulder auf einem Tisch ausgestreckt und schreckliche Qualen erleidend, Wehenschmerzen, blutige Fehlgeburten, Mulder tot, Babys mit grauenvollen Mißbildungen, Babys, die weinen und weinen und weinen...

Sie weint nicht allein in dem dunklen Schlafzimmer. Es sind keine Tränen mehr da, um sie zu vergießen.

Nach langer Zeit fällt sie in einen unruhigen Schlaf.

Es ist mitten in der Nacht und klagendes Geräusch weckt sie. In einer Bewegung, die für sie nun automatisch ist, steigt sie aus dem Bett, schaltet das Licht ein und geht quer durch den Raum zu der Wiege.

Sie nimmt ihr Baby hoch auf den Arm, wie immer erstaunt darüber, daß es so klein, so leicht ist, daß es ihres ist. Sie atmet den süßen, milchigen Geruch seines Köpfchens tief ein.

Sie legt es auf den Wickeltisch und faßt in die Windel. Er ist trocken. "Hast du Hunger?" fragt sie mit einem Grinsen.

Auf eine gewisse Art ist das ihre Lieblingszeit, wenn es draußen dunkel und still ist, wenn nichts auf der Welt existiert außer ihnen beiden. Aber es ist auch die einsamste Zeit, wenn sie schneidend fühlt, wie allein sie mit diesem Kind ist.

Sie setzt sich in den Schaukelstuhl am Fenster und knöpft ihr Nachthemd auf. Das Baby schnappt nach ihrer Brust und beginnt gierig zu saugen. Während sie auf sein kleines Köpfchen herabblickt, bemerkt sie, wie sein Haar mit jedem Tag dichter und dunkler wird. Seine Augen, bei der Geburt blau, fangen an, sich in grau zu verwandeln und sie fragt sich, ob sie eines Tages dieselbe Farbe haben werden wie die seines Vaters.

Während sie die flaumige Wange ihres Babys streichelt, beißt sie sich auf die Lippe.

Sie schaltet die Lampe aus und zieht eine Decke der Dunkelheit im Schlafzimmer vor. Aber es ist nicht vollkommen dunkel. Ein silbriges Licht überflutet das Zimmer und wirft dunkle Schatten. Sie blickt zum Fenster hinaus und sieht einen mächtigen vollen Mond, der übernatürlich hell am Himmel leuchtet. Aus irgendeinem Grund bringt der Anblick sie zum Lächeln.

Nachdem er ihre Milch getrunken hat, gibt ihr Sohn ihr ein lautes Bäuerchen und schläft wieder ein. Anstatt ihn ins Bett zurückzulegen, hält ihn Scully im Arm, schaukelt ihn sanft und summt ein Lied ohne Worte.

Sie hatte niemals gewußt, daß sie so etwas lieben konnte, ihr Baby mitten in der Nacht halten und ihm etwas vorsingen.

Scully erstarrt, als sie hört, daß die Schlafzimmertür geöffnet wird. Ihr ganzer Körper versteift sich und sie fragt sich, wie sie so schnell wie möglich an die Waffe kommt, die in der Schublade ihres Nachttisches liegt. Aber trotz ihrer Ausbildung findet sie sich außerstande, sich zu bewegen oder zu atmen.

Ein Mann kommt durch die Tür. Im Mondlicht sieht sie eine hohe magere Gestalt, mit zerzaustem Haar und Bart.

Die Zeit steht still...

"Scully," sagt er mit rauher und kratziger Stimme.

Nein. Sie träumt, sie schläft immer noch, sie wird jeden Moment aufwachen und sich allein mit ihrem Baby im Schaukelstuhl wiederfinden.

Aber sie wacht nicht auf.

Ihre Lippen formen ein Wort, aber es kommt kein Ton aus ihrem Mund.

Mulder.

Nein, er ist fort, er kommt nicht wieder, es ist ein Traum, ein Traum.

Nie zuvor hat ihr Herz so wild gehämmert.

Er durchquert den Raum und kniet neben dem Stuhl nieder, seine Augen sind groß in seinem mageren Gesicht.

Diesmal kommt das Wort heraus. "Mulder," keucht sie und streckt die Hand aus, um sein Haar zu berühren.

Er berührt den Kopf des schlafenden Babys. "Ist es?" flüstert er zögernd.

Sie nickt. "Ja," antwortet sie. "Es ist deines."

Mulders Kopf sinkt. "Oh Gott, ich wußte es nicht."

Das Baby bewegt sich in ihrem Arm und ist nun wach. Sie nimmt es mit zitternden Händen von ihrer Schulter und legt es in ihren Schoß.

"Ich wußte es nicht," wiederholt Mulder. "Wenn ich es gewußt hätte, wäre ich nicht..."

Sie unterbricht ihn. "Es ist in Ordnung, Mulder, du bist zurück." Tränen verschleiern ihren Blick und laufen über ihr Gesicht.

Mulder beugt sich nach vorn und legt seine Arme um sie. Sie berührt sein Gesicht, seine Haare und seinen Rücken, um sicherzugehen, daß er es wirklich ist und nicht nur ein Traum.

Er ist zurück. Er ist am Leben und in einem Stück. Er ist wirklich. Es ist Mulder.

Lange Zeit verharren sie erstarrt in ihrer Umarmung, alle drei, während der Mond ins Fenster scheint.

Und Scullys Augen öffnen sich und sie findet sich immer noch im Gästezimmer ihrer Mutter wieder, immer noch allein. Ihre Wangen sind feucht von ihren Tränen.

Sie fragt sich, wie viele Träume wie diesen sie noch haben wird.

Sie steigt aus dem Bett und geht zum Fenster. Es ist immer noch dunkel draußen und an dem dunklen Himmel gibt es keinen Mond und keine Sterne.

Ihren Bauch mit einer Hand berührend, beugt sie sich nach vorn und drückt ihre Stirn gegen das kühle Glas.

Sie blickt hinauf zum Himmel und wünscht sich den Mond.

ENDE


Alunakanula ist ein russisches Palindrom, geschaffen von dem Dichter Andrej Voznesensky, das bedeutet ‚der Mond ist verschwunden'. Ich mochte ein gutes Palindrom schon immer (Mein Bruder hatte dieses ‚abartige' Talent, so etwas zu schaffen, als wir Kinder waren.) und ich habe diesen hier an dem Tag gelesen, als ich ‚Requiem' gesehen habe. Aus irgendeinem Grunde schien es zum Thema der Episode ganz gut zu passen. Große Anerkennung für Plausible Deniability, weil sie die Meisterin meiner Beta-Domain ist. Er ist wirklich der Gott der Grammatik und der Wortnutzung und auch ein guter Freund. Danke auch an Jerry dafür, daß er ein wunderbarer Freund ist und mir in verwirrenden und verrückten Zeiten zur Seite steht. Und sehr viel Liebe für L., der mir das Schöne in allen Dingen zeigt...
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