World of X

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Diary

von Nastally

Kapitel 1

21.August

3:04 a.m.

auf einer Straße in Virginia



Müde blinzelnd versuchte Scully ihr Bestes, um die Konzentration zu wahren.

Das war verdammt noch mal nicht leicht um drei Uhr morgens, und sie verfluchte sich jetzt schon dafür, dass sie sich wieder hatte überreden lassen. Nein, sie verfluchte Mulder! *Wollen Sie es denn nicht herausfinden, Scully? – Ich brauche Sie, Scully. – Es ist für die Wahrheit, Scully! *

Verflucht sollte er sein mit seiner verdammten Wahrheit!



Schon lange fragte sie sich, was er eigentlich beabsichtigte zu finden. Es war eine Sache, wenn sie an der Elfenbeinküste auf seltsame Teile eines Raumschiffwracks stießen, welche die heiligen Schriften aller Religionen enthielten oder wenn sie einer Verschwörung auf die Schliche kamen.

Selbst wenn er sie durchs halbe Land schleppte, um irgendwo die Entführung eines kleinen Mädchens zu untersuchen, war das okay. Sie verstand ihn, wenn es um Samantha und offensichtlich geheime Machenschaften der Regierung ging. Das war etwas, wonach sie selbst 72 Stunden ohne Schlaf in den abgelegensten Plätzen der Welt gesucht hätte. Nach dieser Art von Wahrheit.



Aber das war, wie schon so oft, heute nicht der Grund dafür, dass sie mitten in der Nacht auf einer abgelegenen Landstraße Richtung Nirgendwo fuhr. Das war einer dieser keiner-schert-sich-darum-also-machen-wir-es Fälle. Wieso musste ausgerechnet die Tatsache, dass jeder normale Mensch den Fall für unwichtig abtat, Mulder so reizen? Mein Gott, das hier war ja nicht mal offiziell! Praktisch gesehen verbrachte sie gerade ihre Freizeit damit, einen Fall zu

lösen, der noch nicht mal einer war.



Scully seufzte gequält. Wieso hatte sie das Telefon nicht einfach klingeln lassen? Sie könnte jetzt in ihrem warmen, weichen Bett liegen und schlafen bis zum...



„Scully! Was machen Sie denn?“



Durch seinen plötzlichen Ausruf aus der schönen Phantasie einer ruhigen Nacht gerissen, zuckte sie erschrocken in ihrem Sitz zusammen.



„Was... was ist denn?“, fragte sie, und warf ihm einen entgeisterten Blick zu.



„Da war ein Stoppschild!“



Das klang so vorwurfsvoll, als hätte sie eben eine Horde Schulkinder überfahren. Er sah kurz zurück, um sich zu vergewissern und richtete seinen Blick dann wieder auf sie. Wartete auf eine Rechtfertigung.



Im ersten Moment überlegte Scully, ob sie ihm sagen sollte, dass es da nichts zu rechtfertigen gab. Schließlich war er es ja gewesen, der sie mitten in der Nacht geweckt hatte. Er konnte nicht ernsthaft erwarten, dass sie nach zwei Stunden Schlaf hellwach war! Aber das Letzte, was sie wollte, war, einen Streit mit ihm anzufangen. Also entschied sie sich, es dabei bewenden zu lassen.



„Mulder, die Straße war menschenleer“, entgegnete sie schließlich und verkniff sich eine weitere Bemerkung dazu. *Kein normaler Mensch fährt um 3:00 Uhr nachts auf dieser Straße... *



„Scully...“ Er musterte sie mit einer übertriebenen Fassungslosigkeit. „...haben Sie schon mal was von Verkehrsregeln gehört?“



„Oh, ich bitte Sie!“ Der Vorsatz, keinen Streit zu provozieren, war augenblicklich vergessen. „Erzählen Sie mir nichts von Regeln, Mulder! Als ob Sie sich jemals an irgendwelche halten würden! – Sie müssten mir dankbar sein, dass ich überhaupt mit Ihnen zu dieser Geisterstation fahre, die sich wahrscheinlich sowieso wieder als Gerücht erweist!“



*Verdammt * Sie biss sich auf die Unterlippe und versuchte, geradeaus zu starren, um seine Reaktion nicht zu sehen. Den letzten Satz hätte sie sich sparen können. Schlagartig erinnerte sie sich wieder daran, wieso sie hatte versuchen wollen, einen Streit zu umgehen. Sie konnte nicht streiten, nicht, wenn sie müde war. Die Emotionen gewannen viel zu schnell die Oberhand. Doch nun war es zu spät. Obgleich sie versuchte, ihn nicht anzusehen, konnte sie förmlich fühlen, wie er sie mit seinem Blick durchbohrte. Mit diesem Blick, diesem Gesicht, das eine Maske hätte sein können. In Stein gemeißelt.



Schließlich sagte er es. Den Satz, von dem sie wusste, dass er kommen würde. Sie hätte jedes einzelne Wort in der gleichen Intonation mitsprechen können. Zu gut kannte sie ihn, um es nicht zu wissen.



„Ist es das, Scully?“, fragte er. Der Tonfall seiner Stimme war kühl und reserviert. „Ist das hier eine Art Almosen für mich? Wenn Sie nur aus Mitleid für Ihren ‚verrückten Partner’ mitgekommen sind, dann kann ich auf Ihre Hilfe verzichten, danke.“



Perfekt. Sie hatte ihn gekränkt. Es war wirklich das letzte gewesen, was sie wollte, doch sie war einfach so müde... Und ihr Gehirn weigerte sich, um diese Uhrzeit richtig zu arbeiten. Obgleich sie ihn noch vor Minuten zur Hölle gewünscht hatte, konnte sie ihm nicht länger böse sein. Das war eine aufflackernde Emotion gewesen, eine Wut auf ihn, die schnell verflogen war. Sie konnte ihm niemals lange böse sein. Nicht mal dafür, dass er sie aus dem

Bett holte, ohne ihr überhaupt richtig zu erklären, worum es ging.



Sie hatte ihn nicht kränken wollen, wirklich nicht.



„Nein“, seufzte sie schließlich. „Mulder, das war nicht so gemeint und Sie wissen das! Ich kann nur nicht... ich... Es tut mir leid, okay?“

Immer noch wagte sie es nicht, ihn anzusehen, doch das war nicht nötig. Bei dem Klang seiner Stimme konnte sie sich jede einzelne Bewegung seines Gesichts ausmalen.



Er klang nicht mehr böse, aber traurig. So schrecklich traurig, dass es ihr einen Stich ins Herz versetzte.



„Scully, wenn Sie es nicht gedacht hätten, hätten Sie es nicht gesagt.“



„Nein!“ Sie versuchte, ihm nicht einmal die Chance zu geben, weiter zu sprechen. „Mulder, ich... ich habe überhaupt nichts gedacht! Ich habe nicht darüber nachgedacht, was ich sagte und das tut mir leid. Sie wissen, dass ich nicht aus Mitleid hier bin.“



Endlich riskierte sie einen kurzen Blick. Er schien nicht sehr überzeugt von ihrer Antwort zu sein, doch sie hatte jetzt weder die Lust noch die Kraft, ihn weiter zu überzeugen. Auch wenn das bedeutete, ihn vorerst schmollen zu lassen.



„Vergessen Sie es einfach, okay?“, versuchte sie ihr Glück.



Anscheinend schien er auch noch nicht wach genug zu sein, um sie weiter auszufragen, denn er sagte nichts, sondern brummte nur ein leises ’hm’ und wandte sich dem Seitenfenster zu.



Für die nächsten zwanzig Minuten herrschte ein bedrückendes Schweigen zwischen ihnen.



Mulder hätte sich ohrfeigen können. Mein Gott, sie hatte Recht. Es war so offensichtlich. Er wusste es. Sie wusste es. Jeder hätte es gemerkt. Scully hatte Recht, wie so oft, wie beinahe immer. Eine innere Stimme sagte ihm, dass es klüger wäre, sich bei ihr zu entschuldigen, doch sein Stolz ließ es nicht zu. Und er verfluchte sich dafür, wirklich.

Als Oxford-Psychologe solch ein kindisches Verhalten an den Tag zu legen, war mehr als peinlich. Es war entwürdigend. Aber vielleicht konnte er sich gerade deswegen nicht zu einer Entschuldigung überwinden. Es würde ihm den Rest nehmen, das letzte bisschen Stolz und Würde, das ihm noch blieb.

Natürlich nicht Scullys wegen. Niemals würde sie auf ihrem Recht herumreiten, im Gegenteil. Sie würde gütig sein, seine Entschuldigung schweigend annehmen und kein Wort mehr darüber verlieren. Ihm niemals weh tun. Doch manchmal dachte er, dass es ihm leichter fallen würde, wenn sie ihn anschreien oder schmollen würde. Eine Schwäche zeigen, nur etwas, das ihn sich nicht noch armseliger fühlen ließ. Doch so war sie die Starke. Die Ruhige. Und er der Volltrottel, der wieder einmal alles versaut hatte. Nicht in ihren Augen, gewiss nicht, aber in seinen eigenen. Und deshalb konnte er sich nicht zu einer Entschuldigung durchringen. Wie grotesk egoistisch, dachte Mulder. Wieso zum Teufel war er manchmal so ein Arschloch? Scully musste ihn hassen. Er an ihrer Stelle hätte es getan. Wieso tat sie das für ihn? Dachte sie, es wäre ihre Pflicht? Wollte sie auf ihn aufpassen, eine Art Mutterinstinkt? Oder... Er kniff die Augen zusammen und schüttelte kaum merklich den Kopf. Nein, diese Möglichkeit war ausgeschlossen. Sie empfand zweifellos sehr viel für ihn, das wusste er nun schon seit Langem, aber sie liebte ihn nicht. Nicht auf diese Weise. Nicht auf die krankhaft pseudo-romantische Weise, wie er sie vergötterte.



Mulder war sich nicht wirklich sicher, ob er diese Frau liebte, wie es normale Menschen tun. Was auch immer er tat, es war nie normal. Und genauso schien auch seine Art zu lieben nicht wirklich normal zu sein. Als er jünger war, hatte er Liebe mit Sex definiert. All die Frauen, mit denen er zusammen gewesen war – inzwischen war er sich beinahe sicher, dass er keine von ihnen geliebt hatte. Sicher, er hatte sie begehrt. Und sie hatten ihm etwas bedeutet, aber nicht ein Viertel dessen, was ihm dieser kleine Rotschopf bedeutete.



Es war verkehrt. Er hatte sich noch nie vorher auf solch eine Weise verliebt.

Bei den anderen war es Begehren, der Augenblick, in dem er sie gesehen hatte, die Hormone. Daraus hatten sich all seine bisherigen Beziehungen entwickelt. Aber mit Scully war es genau umgekehrt gewesen. Respekt, zunehmend Freundschaft und ein gegenseitiges Vertrauen, das er noch nie vorher erfahren hatte. Lange war es nur das gewesen, rein freundschaftlich, ungefährlich. Aber dann, wie ein Schalter, der umgelegt wurde, war es aufgetaucht. Das Verlangen, die Sehnsucht nach etwas, das Freundschaft überstieg.

War es das? War das Liebe?

So absurd es auch klang, aber er wusste es wirklich nicht. Doch was er wusste oder glaubte zu wissen war, dass sie es nicht empfand. Welcher Schalter es auch gewesen war, der bei ihm umgelegt worden war, bei ihr war er unberührt geblieben. Aber das war okay. Er konnte sich damit zufrieden geben. Eher noch hätte er ihr nicht gewünscht, dass sie doch jemals auf die gleiche Weise für ihn empfinden sollte wie er für sie. Er wollte sie glücklich sehen, das war das wichtigste. Doch er würde sie nicht glücklich machen können. Er brachte ihr doch

jetzt schon nur Schwierigkeiten. Sollte sich das etwa zum Besseren wenden wenn er mit ihr zusammen wäre? Nein, es wäre besser für sie, jemanden zu finden, der ihrer würdig wäre. Jemand anderen als ihn.



„Oh mein Gott...“



Ihre leise, nahezu erschütterte Stimme riss ihn aus den Gedanken. Er wandte sich zu ihr um und versuchte den Grund für die Aufregung zu erkennen. Lange brauchte er nicht zu warten.

Scully starrte geradeaus und er folgte ihrem Blick.



„Sehen Sie nur, da ist... das ist es, nicht? Wollten Sie das finden?“ Als ob sie befürchtete, dass sie abgehört werden könnten, hatte sie ihre Stimme gesenkt, bis diese nur noch ein Flüstern war.



„Mulder, Gott, ich weiß nicht was ich sagen soll...“ Sie sprach weiter, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, auch etwas zu ihrer Entdeckung zu sagen. „...ich muss zugeben, dass ich nicht sehr überzeugt davon war, dass wir hier draußen tatsächlich etwas finden würden!“



Mulder war mit einem Mal hellwach und konzentriert. Sein Blick wich nicht von den grossen, lagerhallenartigen Gebäuden ab, die vor ihnen aus dem Nebel getaucht waren. Die Konturen der Bauwerke zeichneten sich dunkelgrau und undeutlich vor dem blaugrauen Horizont ab. Sein Verstand arbeitet bereits auf Hochtouren. Also hatten die Gunmen Recht

gehabt! Es gab diese Station, sie war tatsächlich real. Doch was würden Scully und er dort finden? Auf einmal kam ihm der Gedanke, dass das hier nicht ungefährlich war. Hätten sie vielleicht bessere Vorsichtsmaßnahmen treffen sollen?



Als ob sie seine Gedanken erraten hätte, schaltete Scully die Scheinwerfer des Wagens aus und kniff die Augen zusammen, um in der frühen Morgendämmerung etwas erkennen zu können. Auch sie schien mit einem Mal von einer unerklärlichen Aufregung ergriffen. Er konnte die Rädchen in ihrem Kopf beinahe bildlich vor sich sehen. Ein schwaches Gefühl von Genugtuung schlich sich in seine Gedankengänge. Er versuchte es zu ignorieren, das war jetzt zu unwichtig, doch er spürte nichtsdestotrotz, wie sich Stolz in ihm ausbreitete. Noch haben wir nichts gefunden, sagte er sich, und versuchte sich weiter auf die immer näher kommenden Bauwerke zu konzentrieren.



Sie waren unbeleuchtet. Zumindest von aussen.



Scully bremste den Wagen den Rest des Weges ab und hielt schließlich in einiger Entfernung ganz an. Als sie den Motor abstellte, wurde es für einen Moment vollkommen still, und Mulder hätte schwören können, dass sie sein rasendes Herz hören konnte. Doch auch wenn sie das konnte, sie schien ja nicht minder euphorisch.



Die Türen des blauen Taurus öffneten sich, und die beiden Agenten stiegen beinahe geräuschlos aus. Ebenso leise, doch mit schnellen Schritten näherten sie sich dem hohen Zaun, der sie von der eigentliche Einrichtung trennte.

Mulder begutachtete die Abgrenzung aus grobmaschigem, dickem Draht. Mindestens fünf Meter, schätzte er, ohne den Meter Stacheldraht, der die letzte Hürde darstellte. Wie viel von seiner Hose würde er noch haben, wenn er da rüber klettern würde? Probeweise setzte er seinen Fuß in eine der unteren Maschen und prüfte die Stärke des bestimmt etlichen Jahrzehnte alten Drahtes.



„Mulder?“ Ihre Stimme kam aus einiger Entfernung, doch er machte sich nicht die Mühe, zu ihr hinüber zu sehen. Für einen Moment begeisterte ihn die Idee, Tarzan zu spielen, regelrecht. Scully hätte es Testosteronschub genannt.



„Hm?“, antwortete er schließlich und klammerte sich fester an das kalte Metall.



„Was haben Sie vor?“



„Da rüber zu steigen.“ Aus irgendeinem Grund kam er sich unheimlich männlich und stark vor. Himmel, Mulder!, sagte Scullys Stimme in seinem Kopf. So gut es ging, versuchte er sie zu ignorieren.



„Mulder...“, hörte er die echte Scully sagen.



Er seufzte und wandte sich nun doch in die Richtung, aus der ihre Stimme kam. Seine Partnerin stand einige Meter weiter am Zaun und hielt eine schmale Pforte auf.



„Ich glaube, wir gehen besser einfach hier rein, bevor ich Sie in Einzelstücken von da oben runter holen muss.“ Sie legte den Kopf schräg und nickte in Richtung des Eingangs.



Macho-Gen deaktiviert. Mulder ließ mit einer möglichst gleichgültigen Geste den Zaun los und biss sich auf die Unterlippe. Warum einfach, wenn es auch kompliziert ging?



„Sicher...“, murmelte er und folgte ihr durch die Pforte hinein ins Innere.



Wenigstens dauerte der peinliche Moment nicht lange an, denn beide waren mit dem Betreten des Territoriums sofort wieder ernst und aufmerksam geworden. Immer noch war kein Zeichen von anderen Personen zu sehen. Kein Licht, keine Geräusche. Es wirkte verlassen und gespenstisch. Plötzlich kam Mulder der Gedanke, dass es möglicherweise tatsächlich eine Sackgasse war. Was, wenn das hier nichts weiter war, als das, wonach es aussah? Eine abgenutzte Militärbasis, die niemanden kümmerte? Er verdrängte den Gedanken. Noch hatten sie sich nicht umgesehen.



Beide betrachteten die zwei großen, schwarzen Hallen, die sich vor ihnen erhoben und wandten sich wieder einander zu. Ohne Worte machten sie die weiteren Vorgehensschritte aus. Mit inzwischen gezückter Waffe deutete Mulder zu der rechten Halle und Scully nickte gerade so schwach, dass er es erkennen konnte. Dann entfernten sich die beiden Gestalten zügig von einander und bewegten sich mit erhobenen Waffen und geübter Beflissenheit auf die Bauwerke zu.



Vorsichtig betrat Scully die dunkle Halle und zuckte zusammen, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Sie zwang sich, tief durchzuatmen, während sie die Taschenlampe hervor holte und den Lichtstrahl durch den Raum wandern ließ. Schnell prägte sie sich die Raumverhältnisse ein. Nicht viele Orte, wo sich jemand hätte verstecken und auf sie lauern können, bis auf einige gestapelte Kisten am Ende der Halle. Doch die beunruhigten sie nicht wirklich. Wenn hier jemand wäre, jemand, der ‚bedeutend’ war, so hätten sie schon längst eine Alarmanlage oder irgendwelche Schutzmaßnahmen antreffen müssen. Die Anspannung wich aus ihren Muskeln, jedoch verlor sie nicht ihre Konzentration. Endlich, nach ausgiebiger Begutachtung, wagte sie sich weiter in die Halle hinein. Ihr Blick folgte dem Lichtkegel ihrer Taschenlampe und streifte rostige Streben, welche die Decke stützten und verstaubte Teile von Kisten an den Wänden verteilt. Ein Modergeruch erfüllte den Raum, der zweifellos vom Jahrzehnte alten Holz ausging, aus welchem die Kisten gemacht waren. Es hatte nicht den Anschein, als wäre dieser Raum in den letzten 20 Jahren betreten, geschweige

denn irgendwie genutzt worden. Scully seufzte und unterdrückte das Verlangen, rauszulaufen und laut *Mulder! Ich hab es doch gewusst! * zu schreien, während sie die Staubschicht unter ihren Füßen begutachtete. Das Adrenalin, welches eben noch durch ihre Adern geschossen war, war gewichen. Nun spürte sie wieder die Müdigkeit, mit welcher sie vorher am Steuer gekämpft hatte - nur schlimmer. Nachdem sie eine der Kisten geöffnet hatte, nur um ein Spinnennetz darin vorzufinden, beschloss Scully, dieser lächerlichen Suche ein Ende zu machen. In Gedanken malte sie sich aus, wie sie es am besten anstellen könnte, Mulder auszusperren und über den verdammten Stachelnzaun klettern zu lassen. Doch als sie kehrt machen wollte, fiel ihr Blick auf etwas, das sie vorhin übersehen haben musste. Eine schmale Leiter an der Wand, die, wie Scully feststellte, als sie hinauf blickte, zu einer Art von Plattform führte. Ihre müden Augen weiteten sich, als sie eine Tür dort oben entdeckte. Gebannt starrte sie darauf, und versuchte abzuschätzen, ob die eingerostete Leiter sie tragen würde. Sie wirkte immer noch recht stabil. Für einen Moment hatte Scully Zweifel. Könnte da oben wirklich etwas sein? Irgendetwas sagte ihr, dass sie besser gehen, und Mulder holen sollte. Aber Scully war nicht der Mensch, der in solchen Situationen auf ein Gefühl oder eine Intuition hörte. Obgleich sie es sich selbst nicht unbedingt als gute Eigenschaft anrechnete und inzwischen wirklich viel daran legte, auf die Zeichen ihres Körpers und Geistes Acht zu geben, dominierte meist ihr Verstand.

Ihr rationaler Menschenverstand sagte ihr, dass es Chancen gab, dort oben etwas zu finden. Und die logischste Schlussfolgerung war, sich selbst davon zu vergewissern. Zögernd trat sie an die Leiter heran und zog an einer der Streben. Fester. Es schien zu halten. Dann stellte sie sich auf die unterste Stufe und wippte leicht auf und ab. Zwar quietschte das Metall unter ihr, doch es gab kaum nach. Scully blickte abermals nach oben und atmete geräuschvoll aus.





4:56 a.m.



Mulder schüttelte seufzend den Kopf und warf einen letzten Blick in die dunkle Leere der Lagerhalle. Enttäuschung und Wut erfüllten ihn, und schnürten seine Kehle zu. Eine Lagerhalle! Fantastisch! Eine leere Lagerhalle noch dazu. Und wieder einmal ist der paranoide Spooky Mulder am Arsch der Welt, um eine verdammte nutzlose Lagerhalle zu begutachten. Gleich würde Scully ihm in den Hintern treten, weil er so ein Vollidiot war und

sie an ihrem wohlverdienten Wochenende hier raus schleppte, nur um zwei leere Lagerhallen zu finden! Verdammt, er hatte es ja verdient. Auch wenn sie in den Wagen steigen und ihn nach Hause laufen lassen würde, könnte er es ihr nicht Übel nehmen. Außer sie hatte in der anderen Halle tatsächlich... Nein. Zu unwahrscheinlich. Viel zu unwahrscheinlich.





Zur gleichen Zeit klopfte Scully sich in der gegenüberliegenden Halle die Hände an der Hose ab, und warf einen Blick hinunter. Glücklicherweise hatte sie keine Höhenangst, denn es trennten sie bestimmt fünf Meter vom Boden. Wieder zückte sie ihre Waffe und öffnete die Tür vor ihr. Den Strahl der Taschenlampe geradeaus gerichtet, sah sie sich – einer Stahlwand gegenüber.



„Oh Mann..." Kopfschüttelnd steckte sie die Waffe wieder ein.



Als sie einen Schritt zurück machte, registrierte Scully aufkommende Kopfschmerzen, und fasste sich mit einer Hand an die Schläfe. Migräne. Sie kniff die Augen zusammen und stöhnte leise. Verdammt, das auch noch. Natürlich, das hatte sie davon, dass sie sich von ihrem unermüdlichen Partner überreden liess, nachts zu irgendwelchen Lagerhallen zu fahren um nach Gott-weiß-was zu suchen. Die Augen immer noch geschlossen, stützte sie sich mit einer Hand auf das Geländer.



Ein lautes Quietschen, und die Tatsache, dass sie keinen Boden mehr unter ihren Füßen spürte, ließen sie sich reflexartig an die Metallstange klammern. Gleichzeitig ließ sie die Taschenlampe los und hörte, wie diese scheppernd zu Boden fiel. Innerhalb weniger Sekunden registrierte sie ihre missliche Lage, und schrie entsetzt auf. Das Geländer hatte sich gelöst und hing nun von der schmalen Plattform hinab, drohend hin und her schwankend. Noch bevor sie auch mit der zweiten Hand nach dem Metall greifen konnte, löste sich eine weitere Schraube und das Geländer senkte sich ruckartig. Ein weiterer Aufschrei zerriss die Nacht, als Scullys Hand abrutschte.

Wenige Augenblicke später schoss ein stechender Schmerz durch ihren Arm, und sie fühlte, das ihr Kopf entsetzlich weh tat, ehe sich ihr Blick trübte und Dunkelheit wie ein Schleier über ihre Gedanken fiel.





Mulder trat hinaus und steckte seine Waffe zurück ins Halfter. Noch war Scully nicht da. Zögernd ging er einige Schritte in Richtung der anderen Halle. Ein letzter Funken Hoffnung flackerte in ihm auf. Womöglich hatte sie doch etwas gefunden?



Wieder blieb er stehen. Wartete. Die Hoffnung wurde von Besorgnis abgelöst. Wieso war sie noch nicht da?



Er setzte sich wieder in Bewegung - diesmal mit schnellen Schritten - auf die Halle zu, bis er schließlich die Tür erreichte. Einen Moment sammelte er sich, zückte die Waffe wieder und betrat schließlich den dunklen Raum. Kein Geräusch – nichts rührte sich.



Mulder kniff die Augen zusammen und versuchte, Scully in der Dunkelheit auszumachen. Da fiel sein Blick auf einen schmalen Lichtkegel, der aus der hintersten Ecke kam. Ihre Taschenlampe. Sein Herz begann wieder zu rasen und er holte seine eigene Taschenlampe heraus.



„Scully?“ Keine Antwort.



Beinahe rannte er auf die Lichtquelle zu, erreichte schließlich die Taschenlampe, die zwischen einigen gestapelten, leeren Kisten lag. Verschiedene Szenarien, eines grausamen als das andere, spielten sich in Sekundenschnelle vor seinem inneren Auge ab. *Gesichtslose Männer, schwarz gekleidet, schlagen seine Partnerin zusammen, schleppen sie weg. – Ein greller Lichtstrahl dringt durch die verdreckten Fenster der Halle, paralysiert sie. Erhebt ihren kleinen Körper in die Luft und trägt ihn fort. – Ein verwahrloster Penner, der sich von hinten auf sie stürzt, ihre Arme verdreht und ihr keuchend die Kleider vom Leib reißt. * Mulder presste die Lippen zusammen und blickte sich verzweifelt um. Bitte

nicht...



„Scully?!“ Er rief ihren Namen wieder und wieder, beinahe flehend. Nichts.



Das war nicht gut. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht! Wo war sie, verdammt? Wieder holte er Luft um nach ihr zu rufen, doch plötzlich vernahm er ein Quietschen.

Von oben!



Langsam richtete er den Strahl der Taschenlampe und seinen Blick in die Richtung, und erkannte den Grund. Da war eine Art Plattform an der rechten Wand, mit einer Leiter als Aufgang. Das Geländer war beinahe ganz gelöst und hing daran herunter. Die Plattform selbst war diagonal geneigt. Sie würde nicht mehr lange da oben halten.



Er zuckte erschrocken zusammen, als sich das Geländer noch ein Stück senkte und ein durchdringendes Quietschen von sich gab. Eine Schraube löste sich und fiel zu Boden. Mulder verfolgte ihren Fall mit seinem Blick, doch er konnte das, was sich unter der Plattform befand, nicht sehen, da ihm Kisten im Weg standen. Klirrend prallte die Schraube auf den Boden und das Geräusch hallte im leeren Raum wider. Und auf einmal schoss Mulder ein Gedanke durch den Kopf, der ihm die Kehle zusammenschnürte. Fallen. Mein Gott, sie war doch nicht da runter gefallen?!



„Scully!“, rief er ein weiteres Mal und begann, die leeren Kisten aus dem Weg zu räumen, um nichts dahinter zu finden, wie er inständig hoffte.



Und dann sah er sie. Oh Gott, NEIN! Ihre zierliche Gestalt, am Boden liegend, regungslos, das Gesicht von ihm abgewandt. Ihr linker Arm war unnatürlich verdreht.

Sein Herz setzte aus und ein Wimmern entrann seiner staubtrockenen Kehle. NEIN!!

Er stürzte auf sie zu und kniete sich neben sie, barg ihren leblosen Körper in seinen Händen. Ihr Haar war verklebt von einer warmen Flüssigkeit. Mulder brauchte Augenblicke, um zu begreifen, dass es Blut war. Blut, das aus einer Platzwunde auf ihrer Stirn stammte. Es war so viel... zu viel!



„Scully, Gott, Scully...“ Seine Stimme wurde durch die aufkommenden Tränen erstickt.



Ihr Puls. Richtig. Mit viel Mühe zwang er sich dazu, klar zu denken. Puls. Mit zitternden Händen griff er nach ihrem Handgelenk. Tastete mit geschlossenen Augen, konzentriert, soweit es ihm noch möglich war.



„Bitte, bitte... Ja!“



Sie hatte einen schwachen Puls. Sie war am Leben! Scully lebte! Er drückte sie an sich und schluchzte. Was hatte er nur getan? Was zur Hölle hatte er getan?!



„Oh Gott...“. Seine Stimme brach.





7:07 a.m.

Washington Memorial



Wenn er wieder weinen könnte, hätte er es getan. Es wäre eine Erleichterung gewesen, wenigstens ein kleines bisschen. Doch sein Körper verwehrte es ihm. Wahrscheinlich stand er unter Schock. *Ich will nicht mit Ihnen ringen, Scully. – Mulder, Sie müssen warm werden! Sie haben immer noch einen Schock... * Verdammt. Er konnte an nichts denken, das nicht mit ihr zusammenhing. Keine Situation in seinem Leben, in der sie nicht an seiner Seite war, wollte ihm einfallen. Er HATTE kein Leben ohne sie!

Beiläufig fragte er sich, wie lange er nun schon hier saß - und wie lange er es noch würde.



Er hatte sie nicht länger als ein paar Minuten sehen dürfen, denn sie lag auf der Intensivstation. Man hatte ihm gesagt, er solle heimgehen und morgen wiederkommen. Ja, das wäre wohl das Vernünftigste. Also, wieso saß er immer noch auf dem verdammten Gang? Jegliches Zeitgefühl hatte ihn verlassen, in dem Augenblick, als er die Intensivstation betreten hatte. Ihr kleiner Körper, umgeben von all den Geräten, die sie am Leben erhielten. Eine Art von Déjà-vu überkam ihn und wurde noch deutlicher, als ihn der Arzt über ihren Zustand informierte. Zwar hörte er nicht alles von dem, was der ältere Mann sagte, denn alles um ihn herum verschwamm, wurde undeutlich und surreal. Alles außer ihr. Doch die

Wortfetzen, die er gehört hatte, reichten. *...offener Bruch am linken Arm... gefährlich hoher Blutverlust... Gehirnerschütterung... Koma... * Nicht noch mal!

Er konnte sie nicht verlieren, er durfte sie nicht verlieren. Es war ungewiss, wann und ob sie überhaupt aufwachen würde.

Ein stechender Schmerz schoss durch seinen Kopf und zwang ihn, die Augen zuzukneifen. Übermüdung, vielleicht die mentale Anstrengung der letzten Stunden. Was es auch war, es machte ihm schreckliche Kopfschmerzen. Zögernd schüttelte er den Kopf.

Langsam, sehr langsam, begann sein gesunder Menschenverstand zurückzukehren. Dieser versuchte ihm gerade mitzuteilen, dass er jetzt heimgehen musste. Er konnte hier genauso wenig für sie tun wie zu Hause. Endlich stimmte Mulder ihm zu. Er konnte nichts für sie tun. Jetzt nicht mehr. Es war seine Schuld, alles seine Schuld, wie immer. Sie hatte es nicht verdient...





10:37a.m.

Mulders Apartment



Immer noch hatte er kein Auge zugemacht. Überhaupt konnte er an einer Hand abzählen was er getan hatte, seit er wieder zu Hause war. Hauptsächlich bestanden seine Aktivitäten darin, Tee zu trinken und Aspirin zu nehmen – abwechselnd. Zwar waren die grässlichen Kopfschmerzen endlich verschwunden, doch Mulder bereute es geradezu. Sie hatten ihn beschäftigt. Abgelenkt von den Gefühlen und Gedanken, denen er sich stellen musste.

Doch nun überkamen ihn eben diese mit Macht und ließen alles andere verschwinden. Sie schlugen ihn hart zu Boden und füllten seinen Kopf bis zum Überfluss. So sehr, dass es schmerzte. Wieder. Krampfhaft suchte er nach einem Heilmittel, einem Weg, sie loszuwerden, oder wenigstens zu ordnen. Er war dieser Gedanken bereits jetzt so überdrüssig.



Nein, das war nicht wie damals, als Scully nach ihrer Entführung im Koma lag. Damals hatte er nach einem Grund gesucht, weshalb sie in diesem Zustand war, wie und wieso. Doch diesmal war es schmerzlich einfach, den Grund zu erkennen. – er. Seine verfluchte Suche nach der Wahrheit, die sich jedes Mal in einer Katastrophe verlief. Keine Verschwörung, keine Außerirdischen. Nein! Fox Mulder war der einzige Grund dafür, dass seine Partnerin in Lebensgefahr war. Dass sie beinahe gestorben wäre.



Er durfte sie auf der Intensivstation nicht länger als eine Viertelstunde am Tag sehen. Zu einer festgelegten Zeit. Es brachte ihn um. Er zählte die Stunden und Minuten, doch die Zeit schien sich immer mehr in die Länge zu ziehen, je sehnlicher er darauf wartete.



Mulder erhob sich von seiner Couch und ging zu seinem Schreibtisch am Fenster. Völlig fertig ließ er sich auf den Stuhl nieder und stieß eine Art Seufzer aus. Doch es klang mehr nach einem trockenen Schluchzen. Müde, jedoch nicht ohne eine gewisse Entschlossenheit, öffnete er eine Schublade und suchte. Schließlich, nach geduldigem Durchsuchen derselbigen, hielt er inne und heftete seinen Blick auf das Fundstück. Vielleicht würde es ihm tatsächlich helfen? Auf irgendeine Art?



Der verblasste, violettfarbene Einband liess im hellen Morgenlicht, das durch die Lamellen vor dem Fenster schien, Flecken erkennen. Nur den Bruchteil einer Sekunde zögerte er. Dann legte Mulder das Buch vor sich und schlug es auf. Obgleich außen von der Zeit deutlich gezeichnet, waren die leeren Seiten immer noch blendend weiß. Wann hatte er es sich gekauft? Es musste mindestens zehn Jahre her sein, wenn nicht länger. Ein Tagebuch. Was für eine idiotische Idee. Was zum Teufel hatte ihn darauf gebracht, es zu kaufen? Er wusste es nicht mehr.

Doch er hatte es niemals angerührt und doch aufgehoben. Als hätte er gewusst, dass es ihm einmal nützlich sein könnte. Es war ihm nützlich... Für einen Moment überlegte er, ob er gerade wirklich tat, wofür er viele Leute beinahe auslachte.



Die Vorstellung von sich, wie er ‚liebes Tagebuch’ auf die erste Seite schrieb, liess ihn auflachen. Lächerlich. Einfach lächerlich. Aber vielleicht der einzige Weg, seinen nun wieder schmerzenden Kopf ein wenig zu entlasten. Wenn er die Gefühle und Empfindungen auf Papier bannen konnte, würden sie vielleicht aus seinem Verstand und Herzen verschwinden. Nie ganz. Natürlich nicht. Nur genug, um ihn nicht umzubringen. Aber kein Selbstgespräch, nein. Er war eindeutig noch nicht so weit, ein schriftliches Selbstgespräch zu führen. Oder sein Leben und seine Gefühle vor einer imaginären Person auszubreiten, die er allein als

‚Tagebuch’ kennen würde. Nachdenklich runzelte Mulder die Stirn und biss auf das Ende des Füllers, den er inzwischen in der Hand hielt.

Sein Leben... Nur eine Person schien würdig zu sein, jede Einzelheit seiner Gefühle zu erfahren, doch würde er es ihr niemals sagen können. Nun, auf diese Art müsste er es auch nicht. Sein Blick klärte sich. Ja, das war die beste Lösung. So würde er es machen.



Mulder setzte langsam den Füller auf, zögerte einen Moment, und schrieb. Liebe Scully. Ein amüsiertes Kichern entrang sich seiner trockenen Kehle. Nein. Mit einer entschiedenen Bewegung strich er die Worte durch und setzte zu einem weiteren Versuch an. Scully,. Seufzend neigte er den Kopf und betrachtete die neue Anrede kritisch. Schon besser. Zwar kam er sich immer noch reichlich idiotisch vor, beschloss jedoch, sich vorerst damit zufrieden zu geben. Er atmete tief durch, und begann zu schreiben.





2.September

9:51a.m.



Mulder lief zügig den Weg durch die steril weißen Gänge des Washington Memorials. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte er, neben dem allgegenwärtigen Schuldgefühlen und der Verzweiflung, auch so etwas wie Erleichterung. Sie war nicht mehr auf der Intensivstation. Sie war nicht mehr in Lebensgefahr! Zwar war sie noch nicht aufgewacht, doch der Arzt versicherte, dass die Chancen, sie zurück zu bekommen gut standen, denn ihre Werte waren stabil.



Als er die Zimmernummer, welche ihm mitgeteilt worden war, aus einiger Entfernung erblickte, spielte ein kleines Lächeln um seine Lippen. Endlich würde er sie ohne diese ganzen Apparate und Gerätschaften sehen, oder zumindest ohne den Großteil davon. Und er würde sie länger sehen dürfen, als nur die wenigen Minuten am Tag, die ihm davor gestattet waren. Mulder hatte das Gefühl, als wären die letzten 2 Wochen die schlimmsten seines Lebens gewesen. Es war eine Tortur, sie nicht immer sehen zu dürfen, denn jede Minute dieser Wochen verweilten seine Gedanken bei ihr. Er war jeden Moment durchgegangen, den er je mit ihr erlebt hatte. Und sein ‚Tagebuch’ hatte sich tatsächlich als brauchbare Hilfe erwiesen.

Da es eine einzige Sammlung von Briefen und Notizen an sie war, hatte er manchmal beinahe das Gefühl, wirklich mit ihr zu reden. Beiläufig fragte er sich, ob das eine beginnende Form von Schizophrenie oder nur seine Unfähigkeit, ohne sie auszukommen, war.



Doch diese Situation, ihr Koma, hatte ihn schon einiges gekostet. Man hatte ihn suspendiert wegen regelwidrigen Benehmens und Körperverletzung. Skinner hatte sich zwar für ihn eingesetzt und hatte mildernde Umstände erwirken können, indem er auf Mulders psychische Labilität im Augenblick hinwies. Doch es war trotz allem zu ganzen drei Monaten gekommen.



Eigentlich konnte sich Mulder nicht einmal wirklich erinnern, was er getan hatte, um seine Vorgesetzten so zu verärgern. Vielleicht war es jedoch eher, was er nicht getan hatte.

Mit Scullys Unfall war etwas eingetreten, dass er nie von sich erwartet hätte. Es war ihm egal. Alles war ihm egal. Seine Mitmenschen, seine Arbeit, die X-Akten. C.G.B. hätte auftauchen können mit der Ankündigung des bevorstehenden Weltuntergangs. Mulder nahm an, er würde lediglich die Schultern zucken. Aber mit der psychischen Labilität hatte Skinner wirklich Recht. Körperverletzung. Wieder konnte er sich kaum entsinnen, es getan zu haben, doch er hatte einen Verdächtigen krankenhausreif geschlagen. Einen Unschuldigen, wie sich später herausstellte. Nicht einmal mehr den Grund wusste er. Höchstwahrscheinlich hatte es nicht einmal einen triftigen Grund gegeben. Es tat ihm wirklich leid, seinen Frust an diesem Mann ausgelassen zu haben. Es hätte wohl jeden treffen können, der ihn in den letzten Tagen auch nur schräg angeschaut hatte. Er war nur froh, dass es nicht Skinner oder Kersh gewesen waren. Sonst säße er jetzt noch tiefer in der Patsche.



Langsam drückte er die Türklinke runter und betrat den Raum. Sofort war sein Blick auf die schlanke Gestalt im mit weißen Laken bezogenen Bett gerichtet. Der Kopfverband war auf ein großes Pflaster reduziert worden, das ihre Stirn zierte. Der Arm immer noch in Gips. Erst Augenblicke später registrierte er, dass sich außer der Krankenschwester noch jemand im Raum befand. Vorsichtig musterte Mulder die Frau und versuchte, dem plötzlichen Verlangen, wegzulaufen, nicht zu erliegen.



„Hallo Fox.“. Margaret Scully lächelte ihm schwach zu und neigte den Kopf ein wenig, ohne den Blick von ihm abzuwenden.



Mulder sah ein, dass es keine Chance gab, den Augenkontakt zu vermeiden und sah beinahe ängstlich auf. Zu seinem Erstaunen schien sie tatsächlich nicht vorzuhaben, ihn grausam und qualvoll zu töten, weil er ihre Tochter einmal mehr in solch große Gefahr gebracht hatte. Er rechnete es ihr sehr hoch an, denn er an ihrer Stelle hätte es wohl getan.



„Hallo.“



Als sie sich wieder setzte, beschloss er, dass es wohl ungefährlich war, sich auch zu nähern. Ohne sie aus den Augen zu lassen, nahm er sich einen Stuhl und setzte sich an die andere Seite das Krankenbetts. Nun konnte er nicht anders, als seine Aufmerksamkeit wieder Scully zu schenken. Sie war blass und wirkte zierlicher und zerbrechlicher als sonst. Für einen

Moment vergessend, dass er nicht alleine war, hob er die Hand und strich mit zwei Fingern sanft ihre Wange entlang. Als die Schwester mit einem Klicken die Tür öffnete, zuckte er zusammen und wurde sich schlagartig wieder der Anwesenheit von Scullys Mutter bewusst.

Beschämt über den ungeplanten Gefühlsausbruch zog er die Hand weg und räusperte sich nervös.



Mulder wusste nicht, was Margaret über ihn und ihre Tochter dachte, wusste nicht, wie viel Scully ihr erzählte, doch er wollte es vermeiden, den Eindruck von mehr als einer rein freundschaftlichen Beziehung zu erwecken. Nicht nur, weil Bill Jr. mit großer Sicherheit einem Herzinfarkt erlegen wäre, wenn seine kleine Schwester etwas mit dem ‚armseligen Schweinehund’ anfangen würde.



„Nun... ich lasse sie jetzt allein mit ihr, Fox“, meinte Margaret schließlich nach einer Ewigkeit, wie es Mulder vorkam. Wohl deswegen, weil er sehnlichst darauf gewartet hatte, dass sie gehen würde. Nicht, weil er sie nicht hier haben wollte, im Gegenteil. Scullys Mutter war ihm sehr sympathisch, und sie mochte ihn, wohl als einzige aus der Familie. Als Scully damals entführt worden war, hatten sie sich sehr gut kennen gelernt. Sie hatten viel geredet und einander beigestanden. Doch gerade, weil er so eine Sympathie für Margaret empfand, wollte er sie jetzt nicht hier haben. Dafür fühlte er sich viel zu schuldig, denn er hatte sie bestimmt schrecklich enttäuscht. Er konnte ihr kaum noch in die Augen sehen.

Margaret Scully erhob sich, beugte sich über ihre Tochter, und küsste sie sanft auf die Stirn. Dann betrachtete sie Scullys blasses Gesicht für einige Augenblicke mit einem sorgenvollen Lächeln auf den Lippen, das Mulder sich nur noch schlechter fühlen liess.

Als sie sich wieder ein Stück aufrichtete und ihm den Kopf zuwandte, konnte er nicht anders als es auszusprechen.



„Sie müssen mich hassen. – Ich würde es an Ihrer Stelle tun.“ Seine Stimme klang monoton und eigenartig leer.



Es erschreckte ihn selbst, denn er hatte sich, seit er suspendiert war, schon eine ganze Weile nicht mehr sprechen gehört. Jeglichem Kontakt mit Leuten, die ihm ihr Beileid über die Situation aussprachen und ihn mitleidig betrachteten, ging er aus dem Weg. Sie verstanden es nicht. Er hatte kein Mitleid verdient. Er war derjenige, der die Schuld für das alles trug.



Immer noch hatte er nicht die Kraft, Margaret wirklich in die Augen zu sehen. Statt dessen war sein Blick auf Scully gerichtet, als würde er die Frage gleichzeitig an sie richten. Vielleicht tat er das auch in gewisser Weise. Doch was ihre Mutter sagte, brachte ihn dazu, aufzusehen.



„Urteilen Sie nicht so streng über ihr Handeln, Fox. Dana würde es bestimmt auch nicht tun.“



Sie klang ruhig, und geradezu freundlich. Als sie weitersprach, schenkte sie ihm ein warmes, leuchtendes Lächeln, das Scully eindeutig von ihr geerbt hatte, wie ihm auffiel.



„Sie gehört nicht zu den Menschen, die sich gegen ihren Willen überreden oder zwingen lassen. Wenn sie mit Ihnen geht, so ist das immer ihr eigener Wunsch. Auch wenn sie es nicht zugibt.“ Margaret hielt kurz inne und musterte sein überraschtes Gesicht mütterlich liebevoll.



„Was passiert ist, war nicht Ihre Schuld. Ich weiß, dass Sie Dana sehr viel bedeuten und ich könnte Sie niemals hassen, Fox.“ Margret richtete sich endgültig auf und ging zur Tür.



Doch bevor sie den Raum verließ, drehte sie sich noch einmal zu ihm um. „Glauben Sie mir...“. Sie lächelte wieder ein warmes Lächeln und sah zuerst Scully, dann ihn an. „...Danas Vertrauen zu gewinnen ist nicht leicht und wenn sie Ihnen so bedingungslos vertraut, wie es den Anschein hat, dann haben Sie es wirklich verdient. Ich bin mir sicher, das alles gut wird.“ Damit ging sie zur Tür hinaus und ließ Mulder sprachlos zurück.



Für einige Augenblicke sah er ihr nach und spürte beinahe so etwas wie Neid auf Scully, für den wundervollen Menschen, der ihre Mutter war. Doch als er sich wieder umdrehte, holte die Realität ihn ein. Eine Ewigkeit konnte er nichts anderes tun, als ihr Gesicht zu betrachten, im verzweifelten Versuch, sich in jeder Einzelheit auszumalen, wie es aussah, wenn sie lächelte. Wenn Scully dieses wundervolle Lächeln lächelte, welches er eben bei ihrer Mutter gesehen hatte. Sie vertraute ihm? Scully vertraute ihm bedingungslos? Aber er hatte ihr Vertrauen enttäuscht, er hatte sie in Gefahr gebracht. Seine Hände fanden ihre rechte Hand, und hoben sie vorsichtig an sein Gesicht. Ihre Finger zärtlich küssend, schloss er seine Augen. Und zum ersten Mal seit zwei Wochen weinte er wieder.





25.September

Washington Memorial



Scully,

Sie haben mir mal gesagt, dass es für alles, was geschieht, einen Grund gibt, und das wir ihn manchmal nur nicht sofort erkennen können. – Ich möchte Ihnen so gerne glauben.



Ich bin gerade bei Ihnen. Nicht, dass ich es nicht die ganze Zeit über in meinen Gedanken wäre, doch nun sitze ich vor Ihrem Bett und kann nichts anderes tun, als mich immer wieder zu fragen, ob dieser Alptraum irgendwann ein Ende findet. Schon fünf Wochen, Scully, fünf Wochen, in denen ich nichts anderes getan habe, als jeden Tag darauf zu warten, Sie besuchen zu dürfen. Ich wünschte, ich könnte 24 Stunden bei Ihnen sein, doch die Besuchszeit ist begrenzt.



Heute habe ich wieder mit Margaret gesprochen. Sie gibt mir Kraft, Scully. Wissen Sie, sie erinnert mich an Sie. In gewisser Weise ist sie ein Ersatz für Ihr Fehlen. Ein geringer und unzureichender. Aber es reicht, um die Hoffnung nicht zu verlieren.



Ich vermisse Ihr Lächeln.



Ich weiß, das habe ich schon so oft geschrieben, aber ich vermisse es so sehr. Jedes Mal wenn ich meine Augen schließe, sehe ich Sie. Und Sie lächeln, Scully. Sie lächeln mich einfach nur an. Ich will meine Augen niemals öffnen, um Sie für immer so lächeln zu sehen.

Ich kann nicht zählen, wie oft ich von Ihnen geträumt habe, seit Sie im Krankenhaus sind. Letzte Nacht wieder. Es ist jedes Mal derselbe Traum. Beinahe jede Nacht träume ich ihn.



Sie gehen vor mir her, stets einige Meter entfernt, und drehen sich nach mir um, immer wieder. Sie wollen mir etwas sagen, ich kann sehen, wie sich Ihre Lippen bewegen. Doch ich kann Sie einfach nicht hören. Und egal, wie sehr ich mich auch bemühe, ich kann Sie nicht einholen. Dann, wenn Sie sich abermals zu mir umdrehen, taucht hinter Ihnen ein Abgrund auf. Ich will Sie warnen, doch ich kann nicht sprechen und Sie fallen... Ich bin niemals in der Lage, Sie einzuholen und festzuhalten, oder zu verstehen, was Sie mir sagen. Ich verliere Sie, Scully. Jede verdammte Nacht...



Ich würde Sie so gerne um Verzeihung bitten für all das, was Sie wegen mir erleiden mussten. Doch eine Entschuldigung würde nicht reichen. Tausende würden es nicht.



Fünf Wochen, Scully, so lange schon. Und die Zeit vergeht unendlich langsam. Ich war es gewohnt, Ihre Stimme jeden Tag zu hören, Ihre dunkel blitzenden Augen zu sehen, wenn ich Sie verärgert hatte. Es ist alles zur unentbehrlichen Gewohnheit geworden und so unglaublich schmerzhaft, nun darauf verzichten zu müssen. Ich bin sogar schon so weit, dass ich regelmäßig Ihre Stimme auf Ihrem AB abhöre, wenn ich nicht schlafen kann. Das ist verrückt, ich bin verrückt – Spooky Mulder! Aber das wissen Sie ja schon.



Ich fühle mich grauenhaft. Ein Junkie auf Entzug.

Mein Leben fällt auseinander, Scully. Drei Monate unbezahlter ‚Urlaub’ ist hart, aber jeden Tag ohne eine sinnvolle Beschäftigung darauf zu warten, Sie besuchen zu können, ist armselig. Inzwischen scheint es manchmal so, als würden Sie nur schlafen. Es ist kein

tiefes Koma, sagt der Arzt. Eigentlich stehen die Chancen gut, dass Sie aufwachen, doch es könnte auch anders kommen.

Ich will nicht daran denken. Eher gesagt will ich nicht mehr daran denken. Das letzte Mal, als ich mir ausmalte, was passieren würde, wenn Sie tatsächlich völlig aus meinem Leben verschwinden würden, kam ich zu dem Entschluss, dass dies auch mein Tod wäre. Seelisch und geistig. Erinnern Sie sich noch an die Zombies in Hollywood? Ich wäre dann einer von ihnen....



Mulder legte den Füller weg, schlug das Buch zu und legte es auf den Tisch neben ihr Bett.

Einige Augenblicke ruhte sein Blick auf Scully. Die tiefe Trauer und Verzweiflung darin hätte sie wohl in Tränen ausbrechen lassen, wenn sie ihn hätte sehen können.

Dann beugte er sich nach vorne und strich mit der Hand sanft über ihre Wange.



„Scully...“, flüsterte er mit schwacher Stimme, „Bitte... Bitte, wach auf... Wach auf, Scully... Ich – brauche – dich...“



Seine Augen fielen zu und er nestelte sein Gesicht an ihre Halsbeuge. Eine einsame Träne glitt über seine Wange, und landete auf ihrer Schulter.



„Komm zurück...“ Die Worte waren kaum hörbar.



Doch binnen einer Sekunde blinzelte Scully flüchtig, fast unmerklich, und an ihrem Augenwinkel kam ein Glitzern zum Vorschein, welches von Mulder unbemerkt blieb. Auch als er sich wieder ein Stück erhob, um sie auf die Wange zu küssen.
Puh... also, ich weiß, die Geschichte ist vielleicht etwas sentimental. Aber mir war gerade so danach! In Teil zwei wird es dafür richtig zur Sache gehen... Ich hoffe, es hat euch wenigstens ein bisschen gefallen! ;)Bitte, bitte, lasst es mich wissen! Egal ob Kritik oder Lob! Ich bitte um Bewertungen und FB!!! BIIITTEEE!!! *gg*
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