World of X

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Widerstand ist unsere Bestimmung

von KajaM

Kapitel 1

Mai 1941

Klassenzimmer der 2. Klasse eines Jungeninternats
Strausberg, Brandenburg



Mit langsamen Schritten durchquerte John Doggett das Klassenzimmer... von der Eingangstür zum gegenüberliegenden Fenster und wieder zurück. Diesen Vorgang wiederholte er seit Minuten immer und immer wieder. Er lauschte den Leseübungen seiner Schüler, wobei seine Gedanken jedoch nicht so ganz bei der Sache waren. Seine Augen waren hinaus aus dem Fenster in den Hof des Jungeninternats gerichtet, das in Hufeisenform erbaut worden war, so dass man gleichzeitig ebenfalls einen Blick in die anderen Klassenzimmer hineinwerfen konnte. In den anderen Räumen war jedoch auch nur das gleiche Schauspiel zu beobachten, das sich im Moment in diesem abspielte. Die Jungs saßen mit kerzengeraden Rücken auf ihren Stühlen und richteten ihren Blick aufmerksam und konzentriert nach vorne zu den Lehrern. Disziplin und Ordnung soweit das Auge blicken konnte.

Doggett seufzte müde, sein Körper immer noch von den Jungs abgewandt, Richtung Fenster, während ihm die Worte einer seiner Schüler wieder ans Ohr drangen.

„Und so lebten sie dann glücklich in schönen und großen Städten“, hörte Doggett die Stimme des achtjährigen Josef laut und klar aus einem Unterrichtsbuch vorlesen, welches wie ein Kindermärchen geschrieben war und das Lesen der Jungen fördern sollte. „Und diese Städte waren frei von Juden.“

Ein Stich durchfuhr Doggetts Körper und ließ ihn innerlich zusammenzucken.

„Die Juden wurden an andere O.. O,“

„Orte“, half er dem Jungen weiter und schluckte verbittert den Kloß in seinem Hals hinunter.

„Orte gebracht, wo auch sie ein eigenes glückliches Leben führten.“

Unbeabsichtigt schüttelte Doggett seinen Kopf, während seine Augen nun einen bestimmten Punkt im Hof fixierten. In der Mitte des Hofes stand ein hoher Fahnenmast und sein Blick blieb an der oben im Wind geschmeidig tanzenden Nazifahne hängen. Die Farben der Fahne strahlten aus vollstem Rot und Weiß; das Schwarz des Hakenkreuzes wirkte mächtig, stolz und unangreifbar.

„Und so führten die Arier ein zufriedenes“, las der Junge noch etwas stockend und holprig, aber mit unüberhörbarem Eifer die Geschichte zu Ende, „langes Leben, ganz frei von den Juden.“ Doggett spürte, wie er unkontrollierbar zu zittern begann. Er flüsterte eine leises „Danke“, als die Klingel laut ertönte, bevor seine Schüler etwas von seiner Nervosität mitbekommen konnten.

„So, Jungs“, sagte er mit erzwungenem Lächeln auf den Lippen „Ihr habt schön gelesen. Ich sehe schon, dass ihr gute Fortschritte macht! Jetzt könnt ihr aber hinaus in die Pause gehen. Das habt ihr euch verdient!“

Sie erhoben sich ordentlich und gesittet von ihren Plätzen und marschierten leise aus dem Klassenzimmer.

Verdammt, dachte John Doggett bitter. Sogar beim Verlassen der Klasse wirkten sie bereits wie kleine Soldaten... sie drängelten nicht, unterhielten sich nicht laut lachend, schrien nicht. Das waren keine normalen, ganz gewöhnlichen Kinder mehr! Als seien sie dazu geboren worden, diszipliniert, gehorsam und emsig Befehle zu befolgen, keine Widerworte zu geben und mit Vaterlandsliebe und Stolz durch ihr Leben zu schreiten.

John wendete sich ab von dem Fenster und ging hinüber zu seinem Pult. Er nahm Platz und stützte sein Kinn auf seiner Hand auf, während er mit der anderen gedankenverloren auf der Tischplatte herumtrommelte. Er fühlte sich wie ein elender Feigling, weil er es nicht wagte diesen Verbrechern, zu denen unter anderem auch der Direktor dieses Jungeninternats zählte, entgegenzutreten. Statt dessen verleugnete und verriet er seine Überzeugungen aus Angst vor der unvermeidbaren Bestrafung, dem wahrscheinlichen Tod durch Hinrichtung. Schlimmer noch aber war das Gefühl zu wissen, dass er seiner kleinen Tochter, die seine Frau Doreen nun schon seit fast acht Monaten in sich trug, nur dieses zukunftslose Dasein würde bieten können in ihrem Leben.

Ein Klopfen an der Tür ließ ihn hochschrecken. Sein Kollege, der Mathematiklehrer Weiden, öffnete die Tür einen Spalt breit und lugte vorsichtig hinein, bis er Doggett an seinem Pult entdeckte.

„John, der Direktor wünscht dich zu sprechen.“







Krankenhaus von Strausberg



Nachdem sie noch einen kurzen Kontrollgang durch die Krankenstationen gemacht hatte, begab sich Dr. Dana Katherine Scully in ihre Mittagspause. In ihrem kleinen, aber in dieser heißen Jahreszeit angenehm kühlen Büroraum nahm sie an dem rustikalen Schreibtisch Platz und packte ein Brot, einen Apfel und eine kleine Flasche gefüllt mit frischem Wasser aus ihrer Tasche und breitete ihr Essen auf der Tischplatte aus. Sie ließ sich erschöpft in ihren Stuhl zurücksinken und räkelte sich einen Augenblick genüsslich, bevor sie zu essen begann.

Die letzte Zeit war sehr anstrengend für sie und ihre Kollegen gewesen. Seit Deutschland im September 1939, vor nun fast zwei Jahren, durch den Einfall in Polen einen internationalen Krieg ausgelöst hatte, waren die Stationen des Krankenhauses nahezu immer überbelegt und drohten an manchen Tagen aus den Nähten zu platzen. Man hatte sich neues Personal besorgen müssen, was zu dieser Zeit eine schwierige Sache war, denn jede verfügbare medizinische Hilfskraft wurde besonders an den Orten des Kriegsgeschehens benötigt. Letzten Endes wurden sogar Bürger der Kleinstadt mit etwas medizinischer Erfahrung für die Pflege der Verwundeten angeheuert. Jede Woche mussten neue Soldaten versorgt werden. Zumeist waren es leicht verletzte Fälle aus weiterziehenden Truppen, die bei Einsätzen Platzwunden oder Streifschüsse abbekommen hatten. Öfters brachte man sogar Leichen hierher, über deren Tod der Dr. Scully ein medizinisches Gutachten schreiben musste, bevor man sie zur letzten Ruhe betten konnte.

Dana hatte in diesen zwei Jahren Bilder gesehen, die sie nie wieder aus ihrem Gedächtnis würde löschen können. Bilder von unbeschreiblicher Brutalität und Unmenschlichkeit. Soldaten mit verstümmelten Körpern, denen oft Körperteile wie Arme oder Beine fehlten oder die entstellte Gesichter hatten. Leichen, auf brutalste Weise ausgeweidet und geschändet. Doch noch viel schlimmer war die Tatsache, das viele der jungen Soldaten gerade mal im Kindesalter waren. Es trieb ihr jedes Mal aufs Neue einen eiskalten Schauer über den Rücken, wenn sie in die angst- und schmerzerfüllten Augen eines 15-jährigen Jungen blicken musste, während sie seine Wunden behandelte.

Scully seufzte schwer, während diese Bilder langsam aus ihren Gedanken wichen. Sie wiegte den Kopf in einem entspannenden Rhythmus von einer Seite zur anderen und schloss einen Moment die Augen, während sie in ihren Fingern den Stiel des Apfels hin- und herdrehte, als plötzlich die Tür zu dem Büro aufflog. Hinein stürmte ihr junger Assistent Viktor Freissler, als würde er von wilden Hunde gejagt werden.

„Sie... Sie müssen unbedingt runter in die Notstation“, japste er um Atem ringend. „Wir haben einen Fall, der dringend behandelt werden muss!“








Sprechzimmer des Direktors im Jungeninternats
Strausberg, Brandenburg



Unruhig rutschte Doggett in dem Ledersessel herum. Er fühlte sich regelrecht durchbohrt von den prüfenden Blicken seines Gegenübers, des Schuldirektors Jeffrey Spender, der sich mit vor der Brust gekreuzten Armen seelenruhig in seinen eigenen Sessel zurücklehnte und den Lehrern einige Minuten einfach nur anblickte.

Diese miese kleine Ratte, dachte Doggett für sich und versuchte Spenders Blick standzuhalten. Der vermeintliche „Kopf des Internats“ war wohl kaum älter als Anfang dreißig, vermutlich sogar eher Ende zwanzig, und überhaupt nur deshalb Direktor an dieser Schule, weil sein Vater ein einflussreicher Mann in der Stadtverwaltung Strausbergs war und seine Beziehungen hatte spielen lassen, um seinem Sohnemann einen „verantwortungsvollen“ Posten zu überlassen. Spender war allgemein bekannt als ein hinterhältiger Mistkerl, der alles tat, was Papi ihm befahl. Weil Papi aber auch überzeugter Nazi mit Leib und Seele war und nicht unwesentliches Sagen innerhalb der örtlichen SS hatte, wagte es niemand, Klein-Spender entgegenzutreten. Der Respekt seiner Angestellten war ihm dadurch sicher.

„Nun, Herr Doggett“, begann Spender in einem von oben herab sprechenden Tonfall, ohne den Blick von dem Lehrer abzuwenden, „mir sind leider einige unangenehme Gerüchte über Sie zu Ohren gekommen. Ich würde gerne Ihre Meinung dazu hören.“

Noch tiefer bohrte sich sein Blick, während Doggett sein Herz nun bis in seine Ohren hinein pochen hören konnte.

„Es wäre doch jammerschade, wenn ich einen so ausgezeichneten Lehrer wie Sie aufgrund eines Missverständnisses verlieren würde.“ Spenders Finger glitten über die Schreibtischplatte und griffen nach dem Brieföffner, um dann Ende und Anfang des Öffners zwischen seinen Fingern rotieren zu lassen. Doggett fühlte sich durch diese kleine Spielerei auf unangenehme Weise bedroht, versuchte aber dennoch Ruhe zu bewahren.

„Nun, Herr Direktor“, begann er schluckend, „ ich bin mir keines Vergehens bewusst.“ Er schenkte Spender ein zuversichtliches Lächeln. „Worum soll es sich handeln?“

„John..., wie soll ich sagen?“, begann Spender, während er eine scheinbar grüblerische Mine auflegte. „Man munkelt unschöne Sachen über Sie. Angeblich sollen Sie der Untergrundbewegung Strausbergs angehören, die durch Sabotage Widerstand gegen unser nationalsozialistisches Regime leistet. John, sagen Sie mir bitte, dass das nicht wahr ist.“ Spenders Mine wandelte sich in einen gespielt ängstlich-vorausahnenden Ausdruck, ähnlich dem eines kleinen Unschuldsjungen.

Diese falsche Schlange...

„Direktor Spender“, erwiderte Doggett ruhig, während es in seinem Inneren nur so kochte vor Angst und Aufregung, „Sie sind nun seit knapp zwei Jahren das Oberhaupt dieses Internats und müssten mich mittlerweile recht gut kennen. Sehe ich tatsächlich aus wie jemand, der Verrat am Vaterland begehen könnte? Ich bitte Sie..., *das* trauen Sie mir allen Ernstes zu?“

„Natürlich nicht.“ Es war Spender anzusehen, dass er zähneknirschend den Kürzeren ziehen musste, da Doggett sich nicht hatte beirren lassen. Aufgrund des unterschwelligen gegenseitigen Hasses hätte Spender es sich nur liebend gerne gewünscht den Lehrer an einem Galgen baumelnd zu sehen. Der Wunsch sollte ihm verwehrt bleiben... noch, so hoffte er.

„Aber ich warne Sie, Doggett.“ Verschwunden war jede Art von Freundlichkeit und blanker Hass schwang in der Stimme des Direktors mit. „Ich habe Sie im Visier und werde Sie von jetzt an nicht mehr aus den Augen lassen. Sie dürften wissen, dass meine Kontakte zur SS sehr gut sind und ich Sie nötigenfalls schneller drankriege, als Sie „Amen“ sagen können!!“

Doggett nickte unbeirrt. „War das alles?“

„Ja, gehen Sie.“

Der Lehrer erhob sich aus seinem Sessel und zeigte Spender ein triumphierendes Lächeln. „Immer wieder nett mit Ihnen zu plaudern!“

Nach Verlassen des Sprechzimmers hetzte Doggett zurück in sein Klassenzimmer, wo er sich ängstlich schnaufend gegen die Tür fallen ließ und jegliche aufgesetzte Ruhe sofort von ihm abfiel.

Oh mein Gott..., schoss es ihm durch den Kopf.






Krankenhaus von Strausberg



Mit zitternder Hand tastete Scully am Körper des Verletzten entlang. Der Mann hatte das Bewusstsein verloren, was die Sache für sie ein wenig leichter machte. Denn in manchen Fällen standen die Verwundeten bei Bewusstsein unter schwerem Schock oder traten und schlugen wild um sich. Was sich im Laufe der letzten zwei Jahre zum Alltag der Ärztin entwickelt hatte, war für sie nichtsdestotrotz jedes Mal aufs Neue eine unheimliche Sache und das Zittern ihrer Hände mittlerweile ebenfalls ein Stück Alltag.

„Viktor, das sind keine Kriegsverletzung. Was hat man ihm zugefügt?“, fragte die Ärztin ihren Assistenten kopfschüttelnd, während die beiden sich einen Überblick über die Wunden des Mannes verschafften.

„Die Leute, die ihn hergebracht haben“, erzählte Freissler hastig, während er ihr zur Hand ging, „haben beobachtet, wie er von SS-Männern auf brutalste Weise zusammengeschlagen und auf ihn eingetreten wurde. Sie trauten sich nicht dazwischen zu gehen, haben ihn aber unmittelbar nach dem Verschwinden der SS-Leute hierher gebracht. Er war zu dem Zeitpunkt allerdings bereits bewusstlos.“

„In Ordnung.“ Verwirrt fasste Scully sich an den Kopf und überlegte kurz. „Ich befürchte, dass er innere Blutungen haben könnte. Reich mir bitte die Instrumente.“

Während sie sich an die Arbeit begab, versuchte sie noch einige Informationen über den Mann zu erhalten. „Was wissen Sie noch über ihn, Viktor?“

Freissler schüttelte den Kopf. „Nicht allzu viel. Ich nehme an, dass die SS-Männer ihn zusammengeschlagen haben, weil er Jude ist. So zumindest steht es in den Papieren, die er bei sich trug. Er ist geboren in Berlin und heißt Fox William Mulder.“
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