World of X

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Carpe Diem

von Andrea Muche

Kapitel 2

„Hey, Foxy, träumst du?“

„Äh, sorry, was?“

„Also ehrlich!“ Langly sah ihn empört an. „Wochenlang rührst du dich nicht, dann kommst du endlich mal wieder mit auf ein Bier, ich erzähle dir vom neuesten Hacker-Meisterstück – und du hörst mir noch nicht mal zu!“

„Entschuldige. Mich beschäftigen zur Zeit so ein paar Dinge. Glaubst du, ich habe den falschen Beruf?“

„Falsch wofür? – Hat dich eine Frau sitzen lassen?“

„Quatsch. Soweit komme ich doch erst gar nicht.“

„Blödsinn. Du willst es nicht soweit kommen lassen. Sieh dich doch mal an, du siehst aus wie der perfekte Lover. Aber du bist sportbesessen. Du siehst und hörst nichts anderes. Es braucht nur jemand das Wort ,Spiel‘ fallenzulassen, und du läßt eine Frau vom Rendezvous durch den strömenden Regen bis ans andere Ende der Stadt allein zu Fuß nach Hause laufen, während du in der nächsten Kneipe über die Fehlwürfe der vergangenen 15 Jahre philosophierst.“

„Oh Mann, das mußt du grade sagen. Ihr mit eurem Computer-Club...!“

Langly lehnte sich zurück und schüttelte die langen, blonden Locken hinter seine Schultern. „Schon wahr“, sagte er, „ich frage mich aber nie, ob ich den falschen Beruf habe. Ich habe keinen Beruf, ich habe eine Mission! – Wenn du sowieso keine Frau findest, könntest du eigentlich auch gleich bei uns einsteigen!“

„Und mich nur noch über Bits und Bytes unterhalten? Da ist mir das runde Lederbällchen irgendwie doch noch sympathischer.“

„Hast du deswegen kein Mobiltelefon?“

„Was meinst du?“

„Gib es zu, du hättest eines, wenn es nach gegerbtem Tier riechen würde.“

„Mhm. – Und was wolltest du mir nun eigentlich erzählen?“

„Na fein, daß ich endlich mal deine Aufmerksamkeit habe. Zumal dich die Geschichte sogar etwas angeht.“

„Mich? Wieso das denn?“

„Naja, nicht direkt dich. Aber ich hab’ was über deinen Nachbarn rausgefunden.“

„Meinen Nachbarn? Langly, wovon redest du überhaupt?“

„Stell dir vor, ich habe mich ins Pentagon gehackt!“

„Ist das denn schwierig?“

„Mulder! So weltfremd kannst nicht mal du sein! Das Pentagon...! Das ist nicht schwierig, das ist unmöglich!“

„Und?“

„Wußtest du, daß dein Nachbar für die arbeitet? Für irgendein Programm, das so geheim ist, daß man noch nicht einmal herausbekommt, worum es ungefähr geht oder wie die Beteiligten heißen.“

„Und woher weißt du dann, daß mein Nachbar einer davon ist?“

„Ich habe sein Bild gesehen. Es ist eindeutig der wortkarge Qualm-Liebhaber.“

„Der Raucher?“

„Der Raucher.“

„Aber der ist doch nur ein einsamer, alter Mann!“

„Ja, das ist es, was wir denken. Was wir denken sollen. Aber wenn das nur Tarnung ist? Wenn er uns alle vielleicht in Wahrheit ausspioniert, für irgendwelche geheimen Projekte? Mulder, das riecht nach einer Verschwörung...!“

Mulder lachte nur. „Du und deine Verschwörungstheorien! Allerdings tut es mir nun doch wieder direkt leid, nicht Reporter oder FBI-Agent geworden zu sein, einfach nur, um jetzt recherchieren und dir das Gegenteil beweisen zu können.“

„Reporter oder FBI-Agent?“

„Ja, meine Kindheitsträume...“

„Und ich dachte immer, alle Kinder wollen Lokführer oder Computerhacker werden.“

„Nicht nur die Kinder“, sagte Mulder mit tiefschürfendem Blick Richtung Langly.

„Agent? Du wolltest wirklich und wahrhaftig FBI-Agent werden und einen Anzug tragen?!“

„Ja. Nun guck nicht so entsetzt. Es war ja nur eine Phase. Obwohl... Irgendwie cool sind die Typen doch. Okay, ich meine vor allem den Teil mit der Waffe. Und man kann seine Marke zücken, Leuten auf die Nerven fallen und sagen ,ich bin vom FBI‘...“

„...und Mädels damit aufreißen...“

„Idiot.“

„Aber du beim FBI... Niemals, Mulder. Ich kenne einen von diesen Typen. Er schaut manchmal bei uns vorbei. Wenn er mal wieder Hilfe bei einer seiner X-Akten brauchen kann.“

„Was für Akten?“

„X-Akten. So nennen die da die mysteriösen Fälle. Ungelöste Rätsel, merkwürdige Phänomene. Ufos, Geistererscheinungen, solche Sachen.“

„Und dafür haben die beim FBI tatsächlich eine Abteilung, die sich mit so was befaßt...?“

„Naja, nicht direkt. Eigentlich befaßt sich nur dieser Typ damit. Das FBI denkt, er ist ein Spinner. Dabei hat er genau genommen überhaupt keine Ahnung. Also, verglichen mit uns jetzt, meine ich. Er kennt sich in diesen ganzen Verschwörungstheorien nie so wirklich aus. Vielleicht glaubt er auch gar nicht wirklich dran, keine Ahnung. Möglicherweise will er in Wahrheit, daß wir ihm beweisen, daß es Ufos nicht gibt. Obwohl er dann irgendwie doch wieder dran glaubt.“

„Und was hast du gegen den Typen? Der klingt doch genauso durchgeknallt wie du.“

„Ja, schon. Er schätzt immerhin auch unsere Computertechnologie sehr. Im Gegensatz zu dir, mein Junge. Aber, nun ja, weißt du... Er ist ja nun noch nicht einmal der wirklich typische FBI-Mann – und selbst er macht einen mit seiner selbstherrlichen Art manchmal schon rasend. Mister Super-Bulle-Obereingebildet. Der doch immer wieder zu uns kommt, wenn er sich selbst nicht mehr auskennt. Obwohl er glaubt, daß er der eigentliche Held ist und wir die Verlierertypen aus der Hinterhofwerkstatt. Glaub mir: Wir wären nicht befreundet, wenn du einer von diesen Typen wärst...!“

„Trotzdem sind die Kanonen cool.“

Langly nickte und stieß mit seinem Bier mit Mulders an. „Sind sie. Cheers!“



Langly und sein Glaube an die Außerirdischen. Mulder schüttelte den Kopf. Gerade kam ihm sein Kumpel wieder in den Sinn, als er den Jungen beim Baseballspiel zusah und sein Blick auf den schwarzhaarigen Jimmi mit den ebenfalls fast schwarzen Augen fiel, den die anderen „den Außerirdischen“ nannten. Ob Langly wirklich an fliegende Untertassen in der Area 51 glaubte?

Er war durch diese Gedanken gerade kurz abgelenkt, als es passierte. Vielleicht hatte Steven Jimmi doch wieder einen Außerirdischen genannt, oder es war irgend etwas anderes. Jedenfalls hatte Jimmi, bevor irgend jemand sich versah, auch schon mit seinem Schläger ausgeholt und ihn gegen Stevens Knie sausen lassen. Steven ging mit einem Schmerzensschrei zu Boden, die anderen Jungen umringten ihn. Mulder rannte los.



Es dauerte nicht lange, bis der Rettungsdienst auftauchte. Eine Ärztin kam mit ihrem Arztkoffer aufs Spielfeld gelaufen, ihre roten Haare und die Zipfel ihrer Jacke wehten hinter ihr her. „Ich bin Notärztin Dana Scully. Wo ist der verletzte Junge?“

„Hier. Macht Platz, Jungs.“

Sie lächelte Steven an. „Na, dann wollen wir mal sehen.“

Sie arbeitete schnell und unaufgeregt. Ihre Feststellung deckte sich mit der von Mulder: „Gebrochen.“ Sie zog eine Spritze auf. „Okay, jetzt bekommst du erst mal was gegen die Schmerzen. Die sind scheußlich, stimmt’s?“

„Mhm.“ Steven nickte.

„Hast dich tapfer gehalten. – Ein kurzer Piks, so, alles klar.“

„Frau Doktor? Ich muß den Sport doch nicht aufgeben, oder?“

Sie sah ihn beruhigend an, ihre blauen Augen fest auf ihn geheftet. „Nein, ganz bestimmt nicht. Du wirst wieder ganz gesund, das verspreche ich dir. Nur vorübergehend ist Sport leider gestrichen, jetzt gibt’s erst mal ein Gipsbein. Da kommen ja schon die Sanitäter, die nehmen dich mit ins Krankenhaus. Dort sehen wir uns noch mal kurz wieder. Alles klar? Bis gleich.“

Steven wurde auf die Trage verfrachtet. Dr. Scully wandte sich dem Trainer zu. Ein großer, attraktiver Mann, wie sie feststellte. „Und Sie, Sir? Wollen Sie in der Ambulanz mitfahren?“

Er schüttelte den Kopf. „Wohin bringen Sie ihn denn? Ich komme nach. Jetzt muß ich erst versuchen, die Eltern zu erreichen. Und dann habe ich hier auch noch ein Problem zu lösen.“ Dabei sah er finster in Richtung eines schwarzhaarigen Jungen, der mit seinem Baseballschläger wie unbeteiligt dastand, so, als ob ihn das alles rein gar nichts anginge. Scully konnte sich vorstellen, was wohl der Grund für die Verletzung gewesen sein mochte und nickte. „Gut, dann vielleicht bis später. – Abfahren!“



Eine halbe Stunde später rannte Mulder auf den Krankenhauseingang zu. Er hatte Stevens Eltern noch nicht erreichen können, nur auf den Anrufbeantworter gesprochen. Und zumindest irgendein bekanntes Gesicht sollte nun wohl bei Steven sein und ihm Beistand leisten.

Er trat auf den Tresen der Aufnahme zu. „Hallo, ich trainiere Schüler im Baseball, und vor etwa einer halben Stunde ist einer meiner Jungen mit einem gebrochenen Bein hier eingeliefert worden...“

„Ja, warten Sie...“

„Der Mann will zu Steven Milford. Er ist noch beim Gipsen.“

Mulder drehte sich zu der Stimme in seinem Rücken um. Da stand die rothaarige Notärztin und strich sich eine vorwitzige Locke aus der Stirn.

„Dr. Scully, nicht wahr?“

„Ja, und Sie heißen...?“

Er streckte ihr die Hand hin. „Fox Mulder. Ich unterrichte Sport an der Schule.“

„Schön, daß Sie hier sind, das wird Steven gut tun. Kommen Sie mit.“

Er folgte ihr den Gang hinunter zu dem Raum, in dem Steven sein Gips verpaßt werden sollte. Der Junge freute sich sichtlich, daß sein Trainer bei ihm war. Die Ärztin lächelte und überließ die beiden sich selbst.

Mulder blieb eine ganze Weile bei Steven; er ging erst, als Stevens Mutter eintraf und ihn ablöste. Nun würde er sich wohl bald wieder mit dem Problem Jimmi auseinandersetzen müssen. Er seufzte. Als der Trainer den Gang hinunter gegangen war und eben auf den Ausgang zutrat, traf er erneut zufällig mit der Notärztin zusammen. Diese schien ebenfalls gerade zu gehen.

„Noch mal danke, daß Sie so schnell gekommen sind“, sagte er und hielt ihr die Tür auf.

Sie nickte, machte aber eine abwehrende Handbewegung: „Das ist mein Job.“

„Haben Sie jetzt Feierabend?“

„Ja, heute ist mein Dienst beendet.“

„Müssen Sie dringend nach Hause, oder darf ich Sie vielleicht noch kurz auf einen Kaffee einladen?“

„Gerne, Mister Mulder. Ich kann jetzt sowieso einen vertragen. Da drüben ist gleich eine gute Kaffeebar.“

Als sie vor ihren Milchkaffees saßen, sagte die Ärztin ihm erneut, daß sie es gut fand, daß er Steven Beistand geleistet hatte, bis jemand von den Eltern es ins Krankenhaus schaffen konnte. „In so einer Situation hilft das den jungen Patienten. – Haben Sie selbst Kinder?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Meine Schwester fragt mich zwar auch ständig, wieso nicht. Aber...“

Sie sah ihn aus wachen blauen Augen interessiert an. „Aber?“

„Ich glaube, ich gebe auch so einem Haufen Jungs einen Haufen gute Sachen mit. Kindern etwas beibringen zu dürfen ist wunderbar. Aber zu diesem Zweck muß ich mich ja nicht notgedrungen selbst fortpflanzen. Und für den Fortbestand der Mulderschen Gene ist auch schon gesorgt: Meine Schwester hat zwei Jungen.“

„Das klingt mir nach einem eisernen Junggesellen.“

Er sah sie aus grau-blauen Augen offen an. „Ja. Absolut.“

„Und Sie sind zufrieden damit.“ Es war eine Feststellung.

„Oh ja. Und welche Frau interessiert sich schon wirklich für Sport...“

„Kommt das nicht auf die Frau und auf den Sport an?“

Er sah sie mit leicht geöffneten Lippen an und versuchte sich zu erinnern, wann eigentlich sein letztes Date gewesen war. Irgend etwas an dieser rothaarigen Ärztin faszinierte ihn. Er fühlte sich zu ihr hingezogen. Vielleicht sollte er es einfach riskieren. „Mögen Sie Baseball? Wir könnten uns übermorgen abend zusammen das Spiel ansehen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Bedaure. Ich kann mich für Baseball nicht begeistern. Und übermorgen habe ich auch schon einen Kinoabend vor. – So, und jetzt muß ich wohl nach Hause. Meine Tochter kommt gleich von der Tagesmutter. Danke für den Kaffee.“ Sie streckte ihm die Hand hin. „Vielleicht sieht man sich ja mal wieder.“ Sie wollte sich schon umwenden, doch dann fragte sie noch: „Gehen Sie tanzen? Das ist, was bei mir unter Sport läuft. Zu viel mehr habe ich mit meinem Beruf und als Alleinerziehende auch keine Zeit.“

Also war sie nicht verheiratet. Aber... Tanzen?! Ach nein... „Mal sehen. Vielleicht bis bald. Wiedersehen.“

Sie legte den Kopf kurz schief, nickte, drehte sich dann um und ging diesmal wirklich. Mulders Botschaft war ganz offensichtlich bei ihr angekommen.

Der Trainer sah ihr noch kurz nach, wie sie mit wiegendem Schritt forsch dem Ausgang zustrebte, die roten Haare schüttelte, die Tür aufstemmte. Und dann war sie fort.

Am Nachbartisch drehte sich ein Mann zu Mulder um, den er bislang nicht registriert hatte. „Und?“ fragte er. „Wie sieht es aus?“

„Wie sieht was aus?“

„Zufrieden mit Ihrem Leben, Ihrem Job, Ihren...“ Er machte eine Kunstpause und sah in Richtung der entschwundenen Scully. „...Aussichten?“

„Was geht Sie das an? Wer sind Sie?“ Er sah dem anderen Mann nun voll ins Gesicht, erkannte ihn – und dann wußte er auf einmal alles. Um was es hier ging. Er fühlte es wie einen Schlag in der Magengrube. „Oh, mein Gott... Sie.“

Der Mann verzog das Gesicht. „Falscher Adressat.“



Es war Freitag. Der groß gewachsene, hagere FBI-Agent hatte zusammen mit seiner kleinen, rothaarigen Partnerin gerade einen Mann in der Besserungsanstalt besucht, den sie hinter Gitter gebracht hatten. Eddie van Blundht hatte sein Äußeres verändern und damit seine Mitmenschen täuschen können. Und auf die Art hatte er fünf Frauen geschwängert. Unter anderem.

Der Agent war keineswegs zufrieden damit, wie sein Gespräch mit Eddie verlaufen war, der ihm nichts anderes gesagt hatte, als daß er, Eddie, der geborene Verlierer war – gefolgt von dem Satz: „Aber Sie sind es freiwillig.“

Nun lief er zusammen mit seiner Partnerin den Flur entlang, in dem sie auf ihn gewartet hatte. Für einen Moment herrschte unbehagliches Schweigen zwischen ihnen. Dann faßte sich seine Partnerin ein Herz.

„Ich kann mir zwar nicht vorstellen, daß man Ihnen das sagen muß, Mulder, aber Sie sind kein Verlierer.“

Er sah sie kurz von der Seite an, dachte an die Szene, wie er ihre Tür eingetreten und sie – sozusagen inflagranti – mit Eddie als seinem Alter Ego erwischt hatte und blickte frustriert zu Boden. „Ja“, sagte er. „Aber ein Eddie van Blundht bin ich auch nicht. Oder?“

Nicht, daß er wirklich eine Antwort von Scully erwartet hätte. Schließlich hatte er gesehen, zu was Eddie als Verkörperung von ihm, Mulder, fähig war. Da besuchte der Typ Scully zum allerersten Mal, und nur wenige Stunden und eine Flasche Rotwein später lag sie so gut wie in seinen Armen, hatte ihm Anekdoten aus ihrem Leben erzählt, die er, ihr FBI-Partner, noch nicht einmal nach mehreren Jahren der Zusammenarbeit kannte, und war gerade drauf und dran, sie auf ihrem gestreiften Sofa zu küssen.

Als er sie während der Ermittlungen zu diesem Fall einmal gefragt hatte, wer sie sein wollte, falls sie die Chance hätte, für einen Tag jemand anderer zu sein, da hatte sie gesagt „hoffentlich ich selbst“. Er hatte zu ihr gesagt, daß er das langweilig finde. – Die Wahrheit war allerdings, daß er sie glühend beneidete. Konnte er das auch von sich sagen? Daß er so zufrieden mit seinem Leben, seinen Entscheidungen und dem, wie er damit umging, war, daß er nicht wünschen würde, manches ändern zu können? Nein. Nein, das konnte er nicht.

Und dann sah er da Scully, drauf und dran, einen Mann zu küssen, der aussah wie er selbst – und sich so gab, wie er, Mulder, nicht sein konnte. Er kam sich so hintergangen, so vorgeführt vor. Er war wütend auf Eddie. Und viel mehr noch auf sich selbst. Himmelherrgott, er mochte Scully doch. Er mochte sie sogar sehr. Er schätzte ihre ruhige, besonnene Art, mit der sie ihn so oft wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholte, wenn er gerade dabei war, sich völlig in einer seiner irren Theorien zu verstricken. Und er mochte ihren Humor, ihre warmherzige Art. Die Art, wie sie auf ihn reagierte und daß sie ihm vertraute. Aber vielleicht redeten sie zu wenig miteinander. So vieles lag unausgesprochen zwischen ihnen. Er war einfach kein Mensch, der leicht sein Innerstes nach Außen stülpen und darüber reden konnte. Dadurch machte er es ihr oft schwer, ihn zu verstehen. Er hatte es auch schon so weit gebracht, daß sie ihn für den hundertprozentigen Egoisten hielt, der immer nur an seine Suche, seinen Kampf, seinen Erfolg dachte und ihre Person, ihr Leben ohne Rücksicht auf Verluste darunter begrub. Er hatte sich tausendmal entschuldigen und ihr erklären wollen, warum er war, wie er war, was er dachte, wie er fühlte – aber er konnte es nicht. Zum Teil, weil er dachte, sie müsse es doch ohnehin alles wissen, da sie doch jeden Tag zusammen arbeiteten. Zum Teil aber auch, weil er gar nicht wollte, daß sie ihn so gut kannte.

Und umgekehrt? Wie gut kannte er sie? Wußte er, was sie dachte? Oder nahm er das nur an?

Seit er von ihrer Krebserkrankung wußte, waren sie sich wieder näher gekommen. Er fühlte für sie wie für eine Schwester. Er hatte sich auch so verhalten. Aber gesagt hatte er es nicht. Erneut hatten sie nicht miteinander gesprochen. Weil sie sich ohne Worte verstanden? Oder nur, weil er glaubte, daß es so sei – und daß das reichen würde?

Wünschte sie es sich, daß sie mehr miteinander sprachen? Nicht nur über die Arbeit, sondern auch über persönliche Dinge? Ganz offensichtlich: Genau das war es ja wohl, was sie zu Eddie in der Mulder-Identität hingezogen hatte. Sie hatte ihn für Mulder gehalten, und er hatte ihr zugehört und Gefühle gezeigt. Daß sie diese erwidern wollte – was hieß das nun aber für ihn? Daß er sich geschmeichelt fühlen sollte, da es ihm gezeigt hatte, was seine FBI-Partnerin für ihn empfand? Oder, daß er wütend sein sollte, weil sie auf etwas reagiert hatte, das er nicht war und nie sein würde? Wobei er, wie er feststellte, keinesfalls wütend auf sie war. Er war wütend auf sich. Er empfand für Scully so tief wie Eddie es sie hatte fühlen lassen. Sie wünschte sich das offenbar. Und warum, zum Teufel, konnte er das dann nicht?!

Vielleicht war Eddie in der Tat der bessere Mulder gewesen.

Wer wäre er wohl, wenn er für einen Tag ein anderer sein könnte? Etwa der Mulder, den Eddie ihm gezeigt hatte?

Er warf Scully die Wagenschlüssel zu, als sie das Gebäude verließen und sich ihrem Auto näherten. „Können Sie bitte fahren? Ich bin müde und bekomme gerade auch noch fürchterliche Kopfschmerzen.“

„Klar.“

Den ganzen Weg zurück zum FBI-Hauptquartier sprachen sie beide kein Wort. Stumm liefen sie die Treppe zu ihrem Kellerquartier hinunter. Stumm öffnete Mulder die Tür. Sie betraten das Büro. Es war noch eine Menge liegengebliebener Papierkram aufzuarbeiten.

Lustlos setzte sich Mulder hinter seinen Schreibtisch, während Scully einen Rollschub aufzog, einen Hefter herausnahm und zu blättern begann. Mulder rührte sich erst eine Weile gar nicht. Dann lehnte er sich zurück, fuhr sich mit der Hand über die Augen, starrte wieder auf seinen Schreibtisch. Scully klappte ihren Ordner wieder zu und sah ihren Partner an. Mulder blickte weidwund zu ihr hoch, noch immer ohne einen Ton zu sagen. Sie seufzte.

„Wissen Sie, mit dem Satz über das Leben hatte Eddie vielleicht recht. Mulder, es ist Freitag Abend. Gehen Sie nach Hause. Ich mache das hier alleine fertig. Gehen Sie nach Hause und schlafen Sie sich mal wieder richtig aus. Entspannen Sie sich.“ Sie angelte in ihrer Jackentasche und zog ein orangefarbenes Arzneimittelbehältnis aus Plastik mit Schraubdeckel hervor. Sie schüttelte es ein wenig, so daß die darin enthaltenen Pillen klapperten, und stellte es vor ihrem Partner auf den Schreibtisch. „Hier. Stecken Sie die ein. Falls Sie nicht schlafen können, nehmen Sie was davon.“

Er streckte langsam die Hand nach der Pillendose aus, nahm sie, stand auf. „Danke. Ich...“

„Ist schon gut. Gehen Sie und schlafen Sie sich aus. Wir sehen uns am Montag.“

„Wollen Sie den ganzen Papierkram wirklich alleine machen?“ fragte er halbherzig.

„Ich mache ihn alleine“, sagte sie bestimmt. „Raus hier! Und gute Erholung.“

„Bis dann.“

Sie schickte ihm einen besorgten Blick nach, als er aus dem Büro schlurfte. Hoffentlich nahm er sich die Geschichte mit Eddie nicht zu sehr zu Herzen! Warum tat er sich bloß so schwer damit, über die Dinge zu reden, die ihn beschäftigten? Mit ihr konnte er doch über buchstäblich alles reden. Wußte er das noch immer nicht?



Mulder fuhr verwirrt aus dem ersten Schlaf hoch. Er spürte die Anwesenheit von jemand anderem. Er war nicht allein!

„Wer... was, zum...?!“

„Teufel?“ fragte eine Stimme aus Richtung des Sessels.

Mulder war schlagartig völlig wach. Er sprang von der Couch auf, griff nach seiner Waffe, schaltete das Licht ein und zielte auf den Mann, der der Couch gegenüber im Sessel saß und nun amüsiert vor sich hin kicherte.

„Der Ausdruck ist gut gewählt“, sagte der Mann, „durchaus treffend.“

„Wer sind Sie?“

Mulder musterte den Fremden. Er hatte den Kerl noch nie gesehen. Unbestimmbares Alter, schon leicht graue Haare, aber extrem flinke, wache Augen, die im Lampenlicht allerdings ein wenig rot zu leuchten schienen. Er war elegant gekleidet, einer seiner Füße steckte jedoch in einem orthopädischen Spezialschuh.

Der Fremde grinste wieder und zeigte dabei spitze, gelbe Zähne. „Fliegengott, Verderber, Lügner – such dir doch was aus!“ Er machte eine kunstvolle Pause. „Du kannst mich aber auch den heißen, der dir ein Angebot machen wird, das du nicht abschlagen solltest.“

„Fliegengott, Verderber, Lügner.“ Mulder runzelte die Stirn. „ Das kommt mir bekannt vor. – Goethes ,Faust‘?“

„Oho, gebildet sind wir auch.“

Mulder blieb der Mund offen stehen. Wieder warf er einen Blick auf den Fuß mit dem orthopädischen Schuh, denn wischte er sich mit der Linken über die Augen, während er in der Rechten noch immer die Waffe hielt.

Der Fremde hatte seinen Blick zum Fuß aufgefangen. Er kicherte wieder. „Jaja, ganz recht.“

„Mephisto?“ stammelte der FBI-Agent. „Der Teufel?!“

„Stets zu Diensten.“

„Gesetzt den Fall, Sie sind der, der Sie zu sein vorgeben: Was wollen Sie?!“

„Na, na, in Religion nicht aufgepaßt? Was will der Teufel, hm?“

„Die Seele?“

„Die Seele.“

„Bedaure.“

„Bist du denn ein Gläubiger? Nein, das denke ich nicht. An deine Suche nach der Wahrheit glaubst du, an deine Außerirdischen. Daran, deine Schwester wiederzufinden und die Regierungsverschwörung aufzudecken. Aber an Gott? Nein... Was kann es dir dann also wohl schon ausmachen, wo deine Seele hingeht, wenn du erst tot bist? Himmel oder Hölle – für einen, der sowieso nicht glaubt, ist das doch ganz einerlei, würde ich meinen?“

„Was wollen Sie von mir?“

„Fragst du dich nicht manchmal, wer und wie du sein könntest, wenn ein paar Dinge in deinem Leben anders laufen würden? Anders gelaufen wären? Was, wenn ich dir die Chance geben würde, eine ganz neue Wahrheit zu entdecken? Sogar drei Versuche gestehe ich dir zu. Ist das nicht großzügig?“

„Ach. Wie soll denn das gehen? Und wo ist der Haken?“

„Kein Haken. Ein ganz klarer Deal. Ich zeige dir alternative Wirklichkeiten. Willst du sie nicht haben – kein Problem. Ich bin ein fairer Verlierer. Wirst du, wenn ich dich frage, jedoch sagen ‚Verweile, Augenblick, du bist so schön!’, so gilt der Tausch. Du bleibst der, der du dann bist. Und wenn du dereinst stirbst, ist deine Seele mein. – Also, was hast du schon groß zu verlieren?“

Mulder schwitzte. Wieder „Faust“. Mephistopheles. Das konnte doch alles gar nicht wahr sein. Oder doch?

„Du zweifelst, nicht wahr? Tja. Probier es doch einfach aus!“

„Was denn, jetzt gleich?“

„Wann immer du möchtest.“



Es fiel ihm jetzt alles wieder ein. Jetzt, in dieser Kaffeebar da beim Krankenhaus. Er war gar nicht Sportlehrer geworden. Seine Schwester hatte nie geheiratet, sondern war von Außerirdischen entführt worden. Die Ehe seiner Eltern war darüber zerbrochen. Er war als „Spooky Mulder“ beim FBI gelandet. Und arbeitete mit Dana Scully. Die nicht Ärztin geblieben war, sondern nun schon seit geraumer Weile Mitstreiterin in seinem schier aussichtslosen Kampf auf der Suche nach der Wahrheit war. Jetzt, da er den geheimnisvollen Fremden hier in der Kaffeebar wieder traf, wußte er wieder alles, was passiert war. Mephistopheles. Er hatte ihm dieses andere Leben gezeigt, von dem er gesprochen hatte.

Aber das war nicht sein wahres Leben. Oder doch? Wenn er hier blieb, dann gab es all das andere, an das er sich jetzt wieder erinnerte, doch gar nicht. Dann war er wieder der Trainer, der nur als kleiner Junge einmal vom FBI geträumt hatte. Dessen Schwester nie entführt worden war. Der nicht gegen Windmühlen kämpfte. Sondern sich nur eine Lösung für das Problem Jimmi einfallen lassen mußte. Der aber auch allein war. Keine Scully. Und auch sonst niemand. Der alleine aber glücklich war. Oder doch nicht? Fragte er sich nicht gerade, ob es richtig gewesen war, sich auf die Laufbahn im Sport zu stürzen, ein Kerl zu werden, der zwar ein Baseball-Zimmer hatte, aber dafür noch nicht einmal mehr eine Verabredung zustande brachte, weil ihm nichts Besseres einfiel, als ein Date bloß zu einem Baseballspiel abzuschleppen? Und Scully eine Ärztin, in deren Augen er deutlich gesehen hatte, was sie von einem derart Bekloppten hielt.

Mephistopheles wartete. „Nun?“

Samantha. Seine Schwester. Würde er für sie nicht alles tun, alles geben?

Auch die Suche nach der Wahrheit? Das FBI, Scully... – Und die Verschwörer in der Regierung hätten gewonnen?

Er schüttelte den Kopf. „Nein.“
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