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In der Dunkelheit

von Astarte

Kapitel 1

All truths are easy to understand once they are discovered; the point is to discover them.

Galileo Galilei (1564 - 1642)



You cannot simultaneously prevent and prepare for war.

Albert Einstein (1879 - 1955)



Krycek zog sich im Halbdunkel ihres Schlafzimmers an, während er die schlafende Frau betrachtete. Das kalte Badezimmerlicht zog einen breiten Streifen über ihren nackten Rücken. Sie war eine Schönheit mit klassischen Zügen, so dass sie selbst im Alter noch gut aussehen würde.



Wenn sie es denn erreichen sollte. Er hatte daran so seine Zweifel.



Aber bis jetzt hatten die Jahre es gut mit ihr gemeint, von der Virusinfektion war sie genesen. Ihr Körper hatte sich fast vollständig erholt. Vielleicht hatte sie auch einfach ein wenig an Ausdauer verloren. Der bösartige Biss, den sie früher angewendet hatte, war sanfter geworden. Unter Umständen ein Zeichen des Älterwerdens, gewonnener Weisheit und ertragener Leiden.



Ein ironisches Lächeln stahl sich auf seine Züge.



Ja, sie war fast wieder die Alte, genauso leidenschaftlich und intrigant wie früher. Nur stand sie derzeit auf seiner Seite, wie lange diese Laune allerdings anhalten würde, wusste er nicht. Diesmal vielleicht für immer, sie hatte nicht mehr viele Optionen außer ihm, an die sie sich wenden konnte. Wenig Chancen folglich, um zu konspirieren.



Sie waren beide auf seltsame Art verbunden. In all den Jahren waren ihre ungeplanten und dennoch unausweichlichen Zusammentreffen eine Konstante. Markierte Wendepunkte auf einer anonymen Landkarte. Verhaltensmuster machten einen durchschaubar und zu einem leichten Opfer. Dasselbe Cafe, derselbe Wohnsitz, warum nicht gleich seinen Namen an die Klingel kritzeln mit der bevorzugten Todesart? Er blieb in Bewegung und er wusste, dass dasselbe für Haie galt. Er konnte sich schlechtere Vorbilder als diese vorstellen.



So ziemlich die gesamte animalische Bevölkerung der Erdkugel. Und der Rest.



Sie war sein Bruch aus dem Muster. Einer der wenigen, die er in seinem Leben erlaubte. Ihre Verbindung ging tiefer, als er sich die meiste Zeit eingestand. Ihre Charaktere ähnelten sich in vielerlei Hinsicht. Sie waren beide Überlebenskünstler und Killer. Misstrauisch gegenüber jedem und stets auf den eigenen Vorteil bedacht.



Dass der dieser Tage vor allem aus Überleben bestand, war ihnen beiden zu bewusst.



Eigentlich wunderte er sich, dass sie fähig war in seiner Nähe einzuschlafen, geschweige denn mit ihm zu schlafen. Okay, sexuell war die Anziehung zwischen ihnen schon immer gewesen, vom ersten Meeting. Dass sie jedoch in seiner Nähe einschlief war neu und merkwürdig, es passte nicht zu ihrem sonst so vorsichtigen Charakter. Ihr ausgeklügeltes Alarmsystem schien nicht mehr einwandfrei zu funktionieren oder sie war nachsichtiger geworden. Hatte sie ihm die Keycard für ihr Herz zusammen mir dem Wohnungsschlüssel gegeben und er hatte die Bedeutung verpasst? Beide Alternativen schienen ihm gleich fremd.



Theoretische Spielereien ohne entscheidenden Wahrheitsgehalt.



Ihr Überleben hing so oder so von ihm ab, sie wusste besser als er, dass ein weiterer Verrat ihr das Leben kosten würde. Selbst wenn er sie ans Ende der Welt jagen musste, diese Anstrengung wäre es ihm wert. Sie kannte seine Entschlossenheit. Weswegen sie wahrscheinlich innerlich kapituliert hatte und ihre Waffen gesenkt, die Idee gefiel ihm, obwohl er nicht ernsthaft daran glauben konnte.



Sie war nicht diese Art von Frau. Egal. Es sollte ihm egal sein.



Vielleicht war sie nur erschöpft. Nur aufgezehrt von den Tests.



Von Monaten über alte Akten gebeugt, die keine Fortschritt preisgaben.



Keine neuen Erkenntnisse und er war es müde, die Leichen aus dem Keller zu holen, wenn diese wirklich nur auf vergilbten Formularen zu finden waren. In der Rekonstruktion von Ereignissen, die ihr wahres Ausmaß zwischen den Zeilen verheimlichten. Vielleicht hatte sie kurzfristig die Schutzschilde gesenkt, weil sie wichtigere Krisen zu meistern hatte als ihn und sein Ego. Ihren Schlaf. Ihre eigene Fallakte. Ihre hart umkämpfte Schlachtruhe. Die Tabletten lagen seit fünf Monaten unangetastet im Badezimmerschrank. Er war nicht sicher, ob er genauso handeln würde.



Alpträume waren ihm fremd. Noch fremder als ihre Fügsamkeit.



Ähnlich Angst einflößend. Er vermisste sein Gewissen nicht in diesen Tagen.



Aber ihre Verschlagenheit. Trotzdem würde er ihr nicht unaufmerksam den Rücken zuwenden, so wie sie es gerade tat. Einmal hatte er sie unterschätzt oder seinen Einfluss auf sie überbewertet und sie hatte ihn auch sofort für seine Dummheit teuer zahlen lassen. Verrat. Scheinbar folgte dieser ihm wie ein Schatten oder er eilte ihm voraus. Je nach Sonnenstand. Entweder er übte Verrat oder wurde verraten. Nie imstande eines von diesen Extremen zu umgehen, weil sie ihn umkreisten wie der Schatten den Zeiger. Sie ihn umkreiste wie ein verwundenes Tier.



In der Dunkelheit konnte keine Sonnenuhr Schatten werfen und er brauchte einen Ansatzpunkt, um ihr zu vertrauen. Irgendeinen. Er war es so müde auf jedes Wort zu achten, das er fallen ließ. Jede Geste auf ihren Interpretationsraum zu untersuchen. Jedes Augenreiben von ihr auf die Auswirkungen auf seine Existenz zu überprüfen. Er war es müde morgens aufzuwachen und sich die Frage zu stellen, ob heute der Tag war, an dem er das Messer in den Rücken gejagt bekommen würde.



In ihrem Auftrag. Unter Umständen durch ihre Hand.



Manchmal fragte er sich, wie es wäre mit einer Frau wie Scully zu kämpfen.



Bedingungslose Treue ohne Rücksicht auf das eigene Leben. Ein reizvoller Gedanken, ein gefährlicher noch dazu. Mulder hatte er nie um etwas beneidet, so geleitet von Impulsen und Intuitionen, die er nicht unter Kontrolle hatte. Die sich ihm entzogen und das alles für die Wahrheit. Es gab keine absolute Wahrheit. Nur den eigenen Vorteil. Nur die Interpretation der Fakten. Der humanen Vernichtung. Mulder hatte es nie verstanden und er hatte ihn bestimmt nie um dessen Naivität beneidet.



Der Tag steht schon fest, mein Freund und du versuchst am Datum zu rütteln. Oder zerbrichst du gerade bei den Tests? Überlegst du, ob Scully die gleiche Folter ertragen musste und denkst du noch immer, dass sie sich erinnern sollte? Herausfinden, was ihr genommen worden ist in diesen ewiglangen Monaten, die mit dem Umlegen eines Seilbahnschalters für sie begannen?



Mit mir und dir und falsch kalkuliertem Vertrauen.



Narr. Das einzige, um das Mulder zu beneiden war, fand Krycek, war die Loyalität dieser Frau. Nicht die Liebe. Liebe machte einen Menschen verletzbar, verwandelte sie in unvorsichtige Idioten. Aber Scullys Bereitschaft durch die Hölle mit und für Mulder zu gehen, hatte ihn von jeher fasziniert. Er bewunderte diese Eigenschaft an ihr, wollte so etwas für sich.



Natürlich ohne den Preis auf dem Schutzschild zu zahlen.



An ihr erstes Zusammentreffen konnte er sich gut erinnern, vielleicht besser als er sollte. Er war in seiner Rolle als junger FBI-Agent aufgegangen, der übereifrig eingeplante Patzer beging, wie das Händeschütteln während einer Autopsie. Sicher, sie hätte die Handschuhe auch der Höflichkeit wegen ausziehen können, doch das hatte er nicht erwartet. Letztendlich war es keine Überraschung, dass sie es nicht tat, er hatte ihre Akte peinlich genau studiert. Das was er an Intellekt fehlen ließ, machte er durch Gründlichkeit wett und seinen Killerinstinkt. Viel effektiver als je von seinen Vorgesetzten gewünscht, seine neun Leben waren noch lange nicht aufgebraucht.



Die Überraschung erfolgte später und war in ihrer Konsequenz schwerer zu ertragen.



Als er in diesem Autopsiesaal Zeuge wurde, wie zwei Menschen in eine eigene Welt abtauchten, in der es nur ihre Theorien gab. Nicht dass sie ihn nach der ersten Minute bewusst ausschlossen. Nein, sie nahmen ihn einfach nicht mehr wahr, waren versunken ineinander. In diesem Moment wurde ihm klar, was ihm in seinem Leben fehlte. Eine Seelenverwandtschaft.



Yeah, er war ähnlich entsetzt über diesen Gedankengang gewesen.



Er hörte sich selbst in der Rückblende widersinnig an. Aber er war real gewesen.



Real genug, um ihn bestürzt nach Fassung ringen zu lassen über seinen abgefuckten Wunsch. Warum nicht gleich mit dem Weihnachtsmann aufwarten, der ihm dieses Geschenk mit Schleife verpackt zukommen ließ? Marita mit rotem Geschenkband umwickelt auf der anderen Seite? Nicht zu verachten. Aber ihr erstes Treffen lag noch siebzehn Monate in der Zukunft.



Er musste da raus, wollte dieses Szenario nicht mehr sehen, das sich vor seinen Augen entfaltete und ihn tiefer berührte, als es gottverdammt sollte. Jedes Recht hatte zu sein. Er stürmte raus, täuschte Übelkeit vor, die er auch empfand. Die beiden schoben es auf die Leiche. Zu seinem Glück. Hätten sie zu diesem Zeitpunkt gewusst, dass er ohne Gewissensbisse schon über ein halbes Dutzend Menschen getötet hatte, wären sie vielleicht ähnlich schockiert von ihm gewesen, wie er in diesem Augenblick von sich.



Es war schlichtweg unprofessionell von ihm gewesen. Obwohl es später nicht mehr ins Gewicht fiel, sich sogar zu seinem Vorteil entwickelte. Er an Glaubwürdigkeit gewann. Aber diese böse Erkenntnis, dass auch er menschlich war und sich nach etwas sehnte, begrub er in der hinterste Ecke seines Unterbewusstseins.



Es war die Leiche, die er nie entsorgen konnte. Deren Grab ihn auf Meilen nervös machte, wenn er sich nur auf Durchfahrt in dem Bundesstaat seines Geistes befand. Der eigenen Schlampigkeit zu bewusst, um sie je auszubügeln und unfähig sie auszumerzen. Sie wieder ans Tageslicht zu holen und ihr in das verweste Gesicht zu starren, während er die Kugel entfernte, die ihn an die Tat band. Seine DNA vernichtete, so wie die übrigen forensischen Spuren. Es zu einem sauberen Tatort machte, so wie seine restlichen. Das untrügliche Wissen, dass dieses Unterlassen irgendwann sein Galgenstrick werden würde, wenn dieser Fehler von Dritten entdeckt werden würde.



Der Fallstrick, der ihn zu Boden reißen würde.



Denn wenn er eines schon früh in diesem Geschäft gelernt hatte, dann war es das, dass Leichen in den seltensten Fällen begraben blieben. Zumindest nicht seine. Weshalb er sich selten um die Entsorgung gekümmert hatte, er vermied im Vorfeld Fehler und überließ den Rest der Polizei, CIA oder der privaten Security. Sollten die ein weiteres Gewaltverbrechen in deren Statistik aufnehmen, er war sowieso außerhalb des Systems tätig. Sein echter Name nur noch in den X Akten präsent. Mit dieser Frau hier.



Zu dumm, dass die anderen Dritten zwischenzeitlich ein Haufen Asche waren, er hätte ein erneutes Meeting zu seinen Gunsten genossen. Oder einfach den Anblick wie sie in Flammen ihrer Überheblichkeit verbrannten. Er hätte Marshmallows herumgereicht und den Impfstoff, zusammen mit einer Flasche Vodka. Er wusste, dass die raren Siege zu feiern waren, der Morgen danach kam früh genug.



Vielleicht hätten Mulder und Scully sich von der Lagerfeuerlaune einfangen lassen.



Die Frau, auf dem Bett in jedem Fall.



Wenn sie beide nicht gerade diesen Moment für ein abgefucktes Rendevouz, der ‚Stirb schneller!’-Sorte genutzt hätten, weil er Verrat nicht verzeihen konnte. Ihr jetzt noch nicht vergeben hatte, trotz anderthalb Jahren dazwischen und einem Abstecher in ein tunesisches Gefängnis, das ihn an Hölle glauben ließ mit jedem Tag seines sieben Monate langen Aufenthaltes. Ihn auf jeder Ebene ziemlich anspruchslos zurückließ. Bis auf die dreimaligen Duschen pro Tag, die seitdem folgten. Ihr Auftrag war ihn daraus zu befreien und vielleicht galt das Sprichwort, dass man seine Feinde näher halten sollte wirklich.



Er hatte sich an ihre Seite fest geschweißt aus Notwendigkeit.



Seine Augen folgten den Konturen der schlafenden Frau, das Laken war weiter herunter gerutscht, hing knapp über ihrem Hintern. Kunstvoll, selbst in dieser uninszenierten Pose. Eine Zeitlang hatte er sich ernsthaft gefragt, ob sie seine fehlende Hälfte war. Seine Seelenverwandte. In erschreckend vielen Eigenschaften stimmten sie überein. Machthunger geboren aus Verzweiflung war ihr Antrieb, dafür waren sie beide bereit über Leichen zu gehen.



Sie bevorzugte die auf Papier, während er bereit war alle in Kauf zu nehmen.



Sich tatsächlich besser bei denen fühlte, denen er Auge in Auge gegenübergestanden hatte. Diejenigen leichter vergessen konnte, als die Unbekannten, die keine Chance hatten und nicht wussten, woher das Todesurteil gekommen war. Warum es vollstreckt wurde. Es war ein dreckiges Geschäft, das sie von ihren Vorgängern übernommen hatten. War es immer gewesen.



Dennoch wollte er ihr nur zwei Fragen stellen. Die erste war simpel, wie viele Menschen sie von eigener Hand umgebracht hatte. Es interessierte ihn wirklich. Und die zweite war schwieriger, sowohl von der Fragestellung als auch in ihrer möglichen Antwort.



Wie war sie zu dem Menschen geworden, der sie heute war.



War ihre Kindheit genauso beschissen gewesen wie seine? War sie durch den gleichen Vorhof der Hölle gegangen, die ihre Instinkte schärfte für die unterschwelligen Konflikte. Die offenen Kriege. Immer zwischen den Fronten. Sowohl Spielball wie auch Sündenbock.



Die verblassten Narben auf ihrem Rücken sprachen eine deutliche Sprache. Sie waren lange verheilt, Jahrzehnte dazwischen, aber brannten sie innerlich noch so heiß, als wären sie frisch? Als wären sie erst gestern auf ihre Haut gebrannt worden und könnten heute jeden Moment aufbrechen?



Sein Zeigefinger strich langsam über einen der Striemen. Marita bewegte sich, obwohl sie nicht wach war, versuchte ihren Rücken zu bedecken. Eine lange Schule, Marita, oder? Eine harte.



Diese Narben waren ihm nie richtig aufgefallen. Sie waren verblasst genug, um keine Erhebung zu verursachen und wahrscheinlich war er nicht der aufmerksamste Liebhaber. Sie waren Teil des Paketes, das er ausgepackt hatte und er hatte sich nie gefragt, woher es kam. Sie. Ihre Herkunft, ihren Weg. Ob sie ihn unbeschadet gegangen war und was sie unterwegs außer ihrem Gewissen verloren hatte. So wie sie nie nach seinen Verletzungen fragte, obwohl die fehlende Hand sich negativ zu ihren Gunsten hätte entwickeln können. Er schon zu oft blutend an ihrer Tür geklopft hatte, nur um seinen Trieb Amok zu laufen, mit ihren Lippen unter sich unter Kontrolle zu bekommen. Ihren Körper gegen die Dielen gepresst. Zu hungrig für Worte. Zu ausgelaugt für Wahrheit.



Zu verdammt verloren, um seinen Weg nachhause zu finden.



Ihren gegenwärtigen Wohnort konnte er sich indessen stets merken.



Sie hielt es genauso, obwohl in den Augenblicken nur ihre Augen bluteten. Sie keine Tränen verschwendete, ihn stattdessen gegen die nächste Wand bugsierte. Er Vis-a-vis in den verschiedenen Varianten bevorzugte so wie sie. Bisher dachte er, weil sie so seinen Namen nicht vergessen konnte oder sich durch einen Blick von der Richtigkeit desselbigen überzeugen.



Jetzt war er sich der anderen Gründe nur zu bewusst.



In diesen Stellungen war sie weniger verletzlich als A Tergo. Außerdem konnte sie bestimmen, was und wie viel er von ihr sah. Die Narben kaschieren, die seltsam fremd auf ihrer sonst so perfekten Haut wirkten. Er trug seine Lederhandschuhe auch im Sommer. Zog den rechten nur für sie aus.



Wenn er ihre nackte Haut nicht nur unter seinem Mund haben wollte.



Die blutigen Striemen mussten extrem tief gewesen sein, dass sie jetzt noch zu sehen waren. Ein Lederriemen. Oder ähnliches. Eher eine Peitsche nach der Breite der Narben, aber woher sollte jemand heutzutage noch eine Peitsche bekommen?



Es gibt immer Mittel und Wege.



Männer wie er kannte diese sogar im Schlaf. Die Wut kam unerwartet, überflutete ihn. Er wollte wissen, wer ihr das angetan hatte. Dem Bastard das gleiche antun. Er wollte ihren Peiniger töten. Sie hätte ihn nach dem Fick rausschmeißen sollen, so wie sonst auch. Er konnte mit dieser neuen Seite von ihr nichts anfangen.



Er musste hier raus. Jetzt.



Nachdem er eine Weile planlos durch das nächtliche D.C. gefahren war, merkte er, dass er sich in Georgetown befand. Unterbewusstsein, eine seltsame Sache. Eine lebensgefährliche zudem. Er hielt vor Scullys Haus. Nicht sicher, ob er aussteigen sollte. Sie hatte ihn das letzte Mal nicht erschossen, weshalb sollte sie es dieses Mal tun? Er hatte ihr keine neuen Gründe in der Zwischenzeit gegeben. Immerhin lag das letzte Treffen gerade zwei Wochen zurück.



Genauso spontan. Genauso unbegründet.



Im Nachhinein hatte er gegrübelt, was ihn unaufhaltsam hierher gezogen hatte. Schließlich war er in der Regel nicht so dumm, ein Risiko zu unterschätzen oder absichtlich zu übersehen. Ein Besuch aus Anteilnahme passte nicht zu ihm. War es nicht. Wirklich nicht. Denn er kam letztendlich drauf, dass sie etwas Vergrabenes in ihm wachgerufen hatte. Erinnerungen soweit zurückgedrängt, dass sie ihn scheinbar nicht mehr tangierten. Scheinbar nicht mehr zu ihm gehörten.



Oh ja, er hatte sich geirrt. Sie waren immer noch präsent in ihrem verzerrten Echo.



Noch da, nur viel tiefer vergraben, als die Sache mit der Seelenverwandtschaft.



Er tatsächlich über das eingesackte Grab stolpern musste, um zu erkennen, dass er dort eine weitere Leiche in den Boden befördert hatte. Seine Mutter eine Fehlgeburt erlitten hatte als er sieben war, nachdem sein Vater sie krankenhausreif geprügelt hatte. Der stille Widerstand war in sich zusammengebrochen. Sie war nur der Schatten ihres Selbst. Eine Frau, die es nicht interessierte, ob sie sterben oder leben würde. Die es ebenso wenig interessierte, ob ihre Kinder tot oder lebendig war. Die zu vieles übersah in den folgenden fünf Jahren, um ihr jemals zu vergeben.



Als sein Vater die dreckigen Hände an seine Schwester legte, knallte er ihn ab.



Sein erster Mord. Impulsiv. Die Polizei glaubte ihm trotzdem die Story vom Selbstmord des Vaters. Es war auch glaubwürdig. Der Schuss erfolgte direkt an der Schläfe, außerdem hatten die Cops nicht gründlich gearbeitet. Seine mit Schießpulver geschwärzten Finger zitterten. Aber der Schock in seinem jungen Gesicht musste überzeugend gewesen sein. Der in denen seiner Familie. Es war keine Gegend in der saubere Ermittlungen vorgenommen wurden. Lebende Crack-Leichen, Dealer und Straßenbanden waren oberste Priorität. Die Suizidrate zu hoch, um sich über jeden einzelnen den Kopf zu zerbrechen.



Yeah, man lernt sich wie eine Ratte zu verhalten, wenn man davon umgeben ist.



Der Schock, dass er nichts anderes als Leere fühlte, kam später und verging genauso schnell. Als er ihn tötete, war sein Vater stockbesoffen gewesen und er wusste bis heute nicht, ob es Affekt oder Vorsatz war, das ihn eiskalt durchziehen ließ. Mit dem wasserdichten Alibi schon im Kopf bevor der Schuss verhallt war.



‚Ssh, l4;l3;k2;k6;m6;m1;n2; l9;kl9;m0;lm1;, alles kommt in Ordnung. Mach was ich sage. Ssh, nicht weinen. Bitte nicht weinen. Lass mich das abwaschen, ja.’



Seine Mutter nahm seine Anweisungen ohne Fragen auf, starrte auf die verteilte Gehirnmasse gegen das Hochbett als ob sie am Überlegen war, ob sie es noch retten konnte. Als ob sie ihm zutrauen könnte, dass er hierin schlafen würde. Krycek kaufte am nächsten Morgen ein Einetagenbett. Strich das Zimmer in rosa und verbrachte seine Nächte auf der Straße oder der Couch. Die Lektionen, die er aufschnappte, beinhalteten nicht nur das Kurzschließen von Autos oder den schnellsten Weg ein Radio zu klauen.



Krycek hielt sich von Drogen fern, beobachtete seine Hehler genau und als er mit siebzehn seinen Abschluss machte, war er nicht polizeilich vermerkt. Die Ausnahme seines Jahrgangs, der in der Regel noch drei Jahre länger auf der Highschool saß. Das Stipendium am örtlichen College war seines und als er zwei Jahre später ein Jobangebot bekam, das von ihm erwartete, dass er seine Vergangenheit vergessen musste, nahm er es an. Denn seine kleine Schwester vermied es noch immer ihm in die Augen zu schauen und hatte ihr Stipendium in der Hand, zusammen mit ihrer Zukunft.



Nachdem er gesehen hatte, dass seine Mutter schlicht aufgehört hatte zu leben, wollte er wissen, wie eine Frau wie Scully damit fertig werden würde. Würde sie einfach verfallen? Sich in ein apathisches Wesen verwandeln, das nichts mehr berührte? Weder die blutbespritzte Tochter noch den hektischen Sohn, der ihr Befehle gab. Der so offensichtlich schuldig war, dass er zuerst die Waffe platzierte, bevor er nach einem frischen Nachthemd für das weinende Mädchen im Bad griff.



Wie Scully mit ihrer Fehlgeburt umgehen würde, hatte sein ungeteiltes Interesse.



Er konnte mit dem Argument auffahren, dass er wissen musste, wie seine Feinde drauf waren, aber das wäre gelogen. Dafür gab es Wanzen und versteckte Überwachungskameras. Erkaufte Bürokräfte, die sich etwas Luxus leisten wollten oder keine Kugel in ihren Kopf riskieren. Dass er entgegen jeder rationalen Erklärung da sein musste. Sie sehen. Und ihren Kampfwillen spüren, dachte er selbstironisch, war reine Neugier gewesen. Seine persönliche, ohne Motive, die über den Augenblick hinausgingen.



Die blauen Flecken waren in den letzten fünfzehn Tagen langsam verblasst.



Scully war anders als seine Mutter, anders als Marita, anders als er.



Sie hatte dieses Urvertrauen in die Menschen in all den Jahren nicht verloren. Sicher war sie vorsichtiger geworden, aber nicht so verflucht paranoid wie der Rest ihrer Umgebung. Wie er. Sie war stärker als das, was ihr zustieß. Stärker als die meisten Menschen, die er kannte. Stärker als er.



Er war gebrochen, darüber machte er sich keine Illusionen, irgendwo zwischen den Staaten, in dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, hatte er seine eigene Grenze überschritten. Hinter sich gelassen mit einem Kopfschuss für den Vater, der versagt hatte. Die Mutter, die sich nicht wehren wollte. Die Schwester, die es nicht konnte.



Den Jungen verloren, dessen Arm durch den Rückstoß beinahe aus der Schulter ausgekugelt wurde und der sich weigerte eine Armschlinge zu tragen, weil er klug genug war, um verräterische Signale zu lesen und das war eines. Man überging den Schmerz, wenn man nicht krepieren wollte. Zeigte ihn nicht. Niemals, unter keinen Umständen gab man die Lüge preis und schon gar nicht wenn zwanzig Männer dabei waren, den Arm zu amputieren.



Denn die Wahrheit? Würde seinen Kopf fordern, anstatt seiner linken Hand.



Verdammt, was trieb er hier?



Sein letztes Auftauchen war schon dumm gewesen, aber dieses hier? Es war zu konfus. Suizidverdächtig. Er presste die Lippen hart aufeinander, Fuck. Sein Scheißleben sollte einfacher sein. Ihn nicht mit Fragen überraschen, die nur auf individuelle Vergangenheit abzielten, wenn er dabei war die globale Zukunft abzuwenden.



Nur seit Mulders Verschwinden lief einiges konfus und unkoordiniert, sowohl beim Gegner wie auch beim zerschlagenen Syndikat. Das Wissen zu extrahieren war eine zeitaufwendige Arbeit, vor allem weil die komplette Führung ihre Nebenprojekte mit ins Grab genommen hatte. Ihm lief die Zeit davon und seine Geduld neigte sich dem Ende zu. Rapide.



Wen zur Hölle kümmerte es, wenn dieser Planet ausgewischt wurde?



Hatten sie es nicht alle irgendwie verdient.



Die Entdeckung heute Abend hatte ihn aus der Bahn geworfen. Dem gezwungenen Optimismus der vergangenen Monate zerschlagen, dass sie eine Allianz mit den Rebellen etablieren konnten, die keine Reparationen fordern würde, die der Menschheit auffallen würden. Nur ein paar Forschungsergebnisse alter Männer, die sowieso schon tot waren und stets im Verborgenen gearbeitet hatten.



Marita als hilfloses Opfer dagegen, dieses Bild passte nicht in seine Welt. Es war real. War es schon lange, seit dem Moment als er sie zum sterben zurückließ. Was hatte sich in den anderthalb Jahren geändert, dass er jetzt meinte, sie plötzlich retten zu müssen? Ihr höhere Priorität zu geben als seinem Ehrgeiz. Ein paar Ficks mehr sollten ihn nicht so verweichlichen, sie war gut. Aber nicht so gut.



Fünf Monate und keinen Unterschied, nur Wandel.
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