World of X

Das älteste Archiv für deutsche Akte-X Fanfiction

Das ewige Leben

von Petra Weinberger

Kapitel 2

***

Eine unheimliche Stille herrschte, als Scully langsam wieder zu sich kam. Sie hatte bohrende Kopfschmerzen.

Stöhnend richtete sie sich auf und versuchte sich zu erinnern, was geschehen war.

‘Die Schießerei. – Mulder.’

Sie blinzelte in die Dunkelheit. Noch immer befand sie sich in dem Gang. Von den Gangstern war jedoch nichts zu sehen oder zu hören.

Sie mußten geflohen sein, während sie ohnmächtig war.

Taumelnd schob sie sich auf die Füße. Wo war Mulder? War er verletzt? War er den Gangstern gefolgt? Hatten sie ihn mitgenommen?

Scully wußte es nicht.

Hektisch sah sie sich um. Doch der Gang war leer. Mulder befand sich nicht im Haus. Zumindest nicht im Flur. Sie hätte sonst seinen Schatten gesehen.

Mit vorgehaltener Waffe blinzelte sie auf die Straße. Ihr Blick glitt über die Fensterfronten. Nichts regte sich dort.

Langsam schob sie sich ins Freie und zuckte im nächsten Augenblick erschrocken zusammen.

Mulder lag dort, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte. Er rührte sich nicht.

Scully ging neben ihm in die Knie, tastete nach seinem Puls, "Mulder, bist du okay? – Komm zu dir, bitte."

Ihr Partner bewegte sich nicht. Scully fand seinen Puls. Er schlug, war jedoch sehr schwach, seine Atmung unregelmäßig.

Erst jetzt bemerkte sie die Blutlache, die sich unter ihm ausbreitete.

Panik stieg in ihr auf und trieb ihr Tränen in die Augen. Es war zu dunkel, um die Verletzungen untersuchen oder behandeln zu können. Der Wagen stand zu weit fort. Sie wollte ihn auch nicht alleine lassen.

Langsam zog sie ihn auf ihren Schoß und hielt ihn fest. Sanft streichelte sie über sein Haar, über seine Wangen.

Was hatte sie nur getan? Wieso hatte sie nicht einfach auf ihn gehört? Diesmal war er so vernünftig gewesen und wollte sich an die Vorschriften halten. Wollte auf die Verstärkung warten – und sie hatte sich allem widersetzt. Sie hatte ihn ins Unglück gestürzt. Wenn kein Wunder geschah, würde sie ihn verlieren. Dann würde er hier auf ihrem Schoß sterben.

Verzweifelt schrie sie auf, preßte ihn fest an sich, als wollte sie sein Leben festhalten.

Tränen liefen ihr über die Wangen. "Mulder, halte durch. – Bitte. – Halte durch. – Laß mich nicht alleine. – Du kannst es. – Du wirst es schaffen." Ihre Stimme zitterte. Sie konnte nicht mal Hilfe rufen, da ihr Handy im Wagen lag.

Sie würde ihn verlieren. Sie würde ihren Partner verlieren. Hier in dieser einsamen, verlassenen und schmutzigen Gegend würde sie den Menschen verlieren, der ihr am wichtigsten war.

Niemand konnte die Schießerei gehört haben. Niemand würde die Ambulanz rufen. Niemand würde ihr helfen.

"Oh Mulder, es – es tut mir so leid. – Das habe ich nicht gewollt. – Das ... – bitte, versuche durchzuhalten. – Ich liebe dich. – Bitte, geh nicht so einfach fort."

Sie zog ihn noch enger an sich, verbarg ihr Gesicht in seinen kurzen Haaren und weinte. Weinte, wie sie schon lange nicht mehr geweint hatte. Ein Schluchzen schüttelte sie. Sie wollte schreien. Wollte ihren Schmerz und ihre Verzweiflung in die Welt hinaus schreien.

"Miß, lassen Sie ihn los, bitte. Wir müssen ihn ins Hospital bringen," hörte sie plötzlich eine Stimme.

Erschrocken sah sie auf.

Sanitäter standen neben ihr, ein Streifenwagen, ein Ambulanzwagen.

Sie schloß die Augen. Dankbar, daß ihr Gebet erhört wurde. Auch wenn sie keine Ahnung hatte, wo die Rettung hergekommen war. Sie war überzeugt davon, daß es einen Gott gab. Es mußte ihn einfach geben. Nur er konnte dieses Wunder vollbracht haben.

Sie ließ ihren Partner los und sah zu, wie er mit Infusion und Sauerstoff versorgt wurde und im Krankenwagen verschwand.

Einer der Sanitäter wandte sich ihr zu, "Sind Sie auch verletzt?"

Benommen von den Ereignissen schüttelte Scully den Kopf. Ihr ging es gut, sie hatte nichts abbekommen.

Wieso hatte sie nichts abbekommen? Es war ihre Idee gewesen, die Gegner alleine zu stellen. Das Mindeste, was sie erwarten konnte war, daß es sie erwischt hätte. Wieso mußte Mulder dafür zahlen? Wieso mußte ihn die Kugel erwischen und nicht sie?

"Agent Scully?" schreckte sie eine Stimme auf.

Scully nickte und musterte den Mann, der vor ihr stand. Ein einfacher Cop. Woher kannte er sie? Woher kannte er ihren Namen? Sie hatte sich noch nicht vorgestellt, woher wußte er, wer sie war?

"Sollen wir Sie nach Hause bringen?" fragte der Cop weiter, als sie nicht antwortete.

Scully schüttelte den Kopf, "Nein. – Nein, ich muß – ich möchte ins Hospital. Ich möchte wissen, wie es meinem Partner geht. Wo haben sie ihn hingebracht?"

"Ins Memorial Medical Center. Kommen Sie, wir bringen Sie hin."

Scully nickte nur. Sie stand noch immer unter Schock und war unfähig, klar zu denken oder zu handeln.

Sie ließ sich von dem Streifenbeamten zu seinem Wagen bringen und schob sich auf die Rückbank.

Irgendwie wirkte alles unwirklich auf sie. Sie wollte nicht glauben, daß das alles tatsächlich geschehen war. Sonst war sie doch immer diejenige, die Mulder an die Vorschriften erinnerte. Wieso hatte sie dann in dieser Nacht so reagiert? Wieso hatte sie ihn in solche Gefahr gebracht? Hatte sie wirklich geglaubt, sie beide könnten gegen eine solche Übermacht gewinnen? Hatte sie sich eingebildet Superwoman zu sein?

Sie fand einfach keine logische Erklärung dafür.

Sie hörte die Sirene des Streifenwagens jaulen, als sie durch die nächtlichen Straßen fuhren. Das Rotlicht auf dem Dach spiegelte sich in den Scheiben der Schaufenster. Es schien ewig zu dauern, bis sie das Hospital endlich erreicht hatten.

Zusammen mit dem Cop eilte sie zur Notaufnahme und erkundigte sich nach Fox Mulder.

Sie wurde in einen Warteraum gewiesen. Ein Arzt würde mit ihr sprechen, wenn man genaueres wüßte. Gegenwärtig befände sich ihr Partner im OP.

Scully schloß die Augen. Sie hatte das Gefühl, jeden Augenblick zusammenzubrechen.

Wie in Trance lief sie zu der Sitzgruppe und sank in die Plastikschale. Sie schloß die Augen und verbarg das Gesicht in ihren Händen.

Er lag im OP. Er mußte operiert werden. Und alles nur ihretwegen. Weil sie so dumm war.

Was, wenn er sterben, wenn sie ihn verlieren würde? Sie würde nie wieder aufhören zu weinen, sie wußte es. Die Tränen liefen ihre Handflächen entlang und ihre Arme hinunter.

Plötzlich spürte sie eine starke Hand auf ihrer Schulter.

Mulder? Es konnte nicht schlimm gewesen sein. Sie hatte sich alles nur eingeredet. Vielleicht ein Streifschuß oder so was.

Sie sah auf und blickte den Mann an. Die Luft wich aus ihren Lungen. Sie hatte nicht mal bemerkt, daß sie sie angehalten hatte.

Es war nicht Mulder. Es war der Cop, der sie hergebracht hatte. Er hielt ihr einen Becher Kaffee hin. Mitleid und Verständnis lagen in seinem Blick.

Scully nickte dankbar. Sie mußte sich zusammenreißen. Kein Arzt der Welt würde ihr irgend etwas sagen, wenn sie als heulendes Elend hier auf dem Stuhl saß und einem Zusammenbruch nahe schien.

Mit einer fahrigen Bewegung wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihre Hände zitterten, als sie nach dem Kaffee griff. Sie verbrannte sich an dem Becher fast die Finger. Doch sie wollte nicht loslassen. Der Schmerz war nur sehr schwach, im Gegensatz zu dem in ihrem Herzen.

"Ich hoffe, daß er durchkommt," sagte der Cop plötzlich ernst. "Ich habe meinen Partner vor vier Jahren verloren. Es hätte mich fast kaputt gemacht. Ich bin heute noch nicht richtig darüber weg. Es ist, als würde ein Teil von einem selbst sterben. Vorwürfe nagen an einem. Zweifel. Sie können einen Menschen zerstören."

Scully starrte ihn an. Warum erzählte er das? Warum konnte er nicht einfach still sein? Wollte er sie noch verzweifelter machen? Wollte er sie zusammenbrechen sehen? Warum quälte er sie mit einer solchen Geschichte?

Sie machte sich doch bereits genug Vorwürfe. Hatte jetzt schon Zweifel an ihrem Handeln.

Sie wollte ihm sagen, daß er ruhig sein sollte, doch in diesem Augenblick betrat ein junger Arzt das Wartezimmer.

Ängstlich sah sie ihm entgegen. Sie fürchtete sich vor dem, was sie vielleicht erfahren würde.

"Sie kommen wegen Fox Mulder?" fragte der Arzt freundlich.

Scully nickte. Unfähig zu antworten.

"Ich bin Dr. Wilshore. Ich habe ihn operiert," stellte sich der Arzt vor.

"Wie ... – wie geht es ihm?" brachte Scully mühsam heraus.

"Er hatte zwei Kugeln im Körper. Eine hatte seine Lunge durchschlagen, die zweite seine Leber. Aufgrund der schweren Verletzungen hat er sehr viel Blut verloren. Sein Zustand ist sehr kritisch und ich kann Ihnen nicht sagen, ob er durchkommt. Sein Leben wird von Maschinen erhalten. Er liegt jetzt auf der Intensivstation."

Scully schloß die Augen und stöhnte entsetzt auf. "Hat er... – hat er noch Gehirnaktivitäten?"

"Sein EEG sieht nicht schlecht aus. Aus diesem Grund haben wir ihn auch an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Wissen Sie, ob er für einen solchen Fall eine bestimmte Regelung getroffen hat?"

Scully wußte, daß er es fragen mußte.

"Seine Schwester und sein Vater konnten darüber leider keine Auskünfte geben." fuhr der Arzt fort.

Scully sah ihn irritiert an. "Seine Schwester? Sein Vater?"

Der Arzt nickte, "Ja. Seine Schwester traf kurz nach ihm hier ein und hat Blut für ihn gespendet. Seine Blutgruppe war mit ihrer identisch."

"Aber ..." Scully konnte es nicht begreifen. Wo kam seine Schwester her? Wie konnte sie plötzlich hier so einfach auftauchen? Woher hatte sie gewußt, daß er hier sein würde? Daß er sie genau jetzt so dringend brauchte? Und wen meinte der Arzt mit: ‘seinem Vater’? Mulders Vater war tot.

"Ist ... – sind sie noch hier?" fragte sie stotternd.

Der Arzt schüttelte den Kopf, "Nein. Ihr Vater hat sie vor einer halben Stunde abgeholt."

Scully verstand überhaupt nichts mehr. "Ihr Vater kann sie nicht abgeholt haben. – Ich meine, daß ist seine Familie und die läßt ihn doch nicht einfach so im Stich, wenn er im Sterben liegt. Das – das kann doch nicht sein. Das ... – können Sie mir sagen, wie seine Schwester aussah?"

"Groß, schlank. Etwa Mitte 30, langes, dunkles, gelocktes Haar. Es muß seine Schwester gewesen sein. Schon alleine die seltene Blutgruppe deutet auf die Familienzusammengehörigkeit hin."

Scully schloß die Augen und massierte sich die Schläfen. Es war einfach unmöglich. Sie mußte träumen. Sie würde gleich aufwachen und feststellen, daß es ein Traum war. Es konnte doch gar nicht anders sein.

Langsam öffnete sie die Augen.

Sie stand noch immer im Warteraum und der Arzt stand auch noch vor ihr. Er musterte sie besorgt.

"Fühlen Sie sich nicht wohl?"

Scully schüttelte den Kopf, "Kann ... – kann ich ihn sehen? Kann ich zu ihm?"

"Natürlich. Kommen Sie, ich bringe Sie hin. – Sie sind seine Partnerin?"

"Ja. Wir arbeiten seit sechs Jahren zusammen. Wir sind mehr als Partner. Wir sind Freunde, wir ..." Sie unterbrach sich. Weshalb erzählte sie ihm das? Es ging ihn doch gar nichts an.

Sie schwieg.

Der Arzt forschte nicht weiter. Er brachte sie zur Intensivstation und deutete auf die Kleidung, die sie überziehen mußte. Scully nickte nur. Sie kannte sich in Krankenhäusern und Intensivstationen so gut aus, wie in der Pathologie. Schließlich war sie selbst Ärztin und oft genug im Hospital.

Auch der sterile Geruch fiel ihr nicht mehr auf. Sie war ihn gewohnt und es roch allemal besser, als in der Pathologie.

Als sie Mulder dann in dem weißen Bett liegen sah, traten ihr erneut Tränen in die Augen. Er verschwand fast unter den ganzen Kabeln, Schläuchen und Verbänden. Blutkonserven und Infusionen baumelten an einem Ständer, Monitore blinkten und piepten, das Beatmungsgerät zischte.

Mulder war blaß, dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, er schien eingefallen und schmal. Doch sein Gesichtsausdruck war friedlich. Er schien zu schlafen. Tief und fest zu schlafen und nichts davon zu ahnen, daß er gegen den Tod ankämpfen mußte.

Scully schluckte an den Tränen. Langsam trat sie neben sein Bett.

Eine Schwester brachte ihr einen Stuhl. Scully ließ sich zögernd darauf nieder. Vorsichtig faßte sie nach seiner Hand. Nur seine rechte Hand war frei, die andere war mit Infusionsnadeln geradezu übersät.

Zäh floß die dunkle Flüssigkeit der Blutkonserven durch den Schlauch und verschwand in seiner Vene.

Scullys warf einen Blick zu den Monitoren. Der Ausschlag seines Herzens war kräftig und regelmäßig. Doch sie wußte, daß es nicht sein Rhythmus war. Es war nur die Maschine, die seinen Herzmuskel zum Schlagen brachte. Das einzige, das tatsächlich von ihm war, waren die Ausschläge auf dem EEG. Scully wußte, daß er im Koma lag.

Die Tränen liefen ihr ungehindert über das Gesicht. Sie konnte und wollte sie nicht mehr zurück halten. Sie beugte sich nach vorne und legte seine kühle Hand gegen ihre heiße Wange. Sie betete. Betete zu Gott und allen Heiligen, die ihr einfielen. Sie betete, flehte, ihn am Leben zu lassen.

Sie weinte, bis keine Tränen mehr kommen wollten. Bis ihre Augen leer waren. Sie schluchzte trocken auf.

Sie hatte das Gefühl, von dem Schmerz in ihrer Brust zerrissen zu werden. Es war der Schmerz der Verzweiflung. Der Schmerz ihn zu verlieren.

Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrem Rücken. Ganz sanft berührte sie sie. Genau dort, wo Mulder sie schon so oft berührt hatte.

Nein, es mußte Einbildung sein. Es konnte unmöglich Mulders Hand sein.

Sie sah auf und direkt in Skinners Augen.

Skinner? Was tat Skinner hier? Er würde Ärger bekommen, wenn es jemand erfuhr. Er durfte keinen Kontakt zu ihnen aufnehmen. Hatte sich von ihnen fern zu halten.

"Gehen Sie nach Hause, Scully. Es war eine lange Nacht," seine Stimme klang sanft und mitfühlend.

Scully schüttelte den Kopf. "Ich kann nicht. Ich muß hier bleiben. Ich muß bei ihm bleiben. Ich ..."

Skinner schüttelte den Kopf. "Ich werde hier bleiben und Sie sofort informieren, wenn sich irgend etwas an seinem Zustand ändern sollte. Ruhen Sie sich aus und versuchen Sie etwas zu schlafen. Sie helfen niemandem, wenn Sie hier neben ihm zusammenbrechen. – Bitte."

"Es – er ist nur meinetwegen hier. Es ist alles meine Schuld." Ihre Stimme drohte zu versagen.

Skinner schüttelte den Kopf. "Nein. Sie können nichts dafür. Das Schicksal hat es so gewollt. Auch wenn Sie anders gehandelt hätten, hätte es so geendet. Es war so vorbestimmt."

Scully starrte ihn an. Er konnte einfach nicht meinen, was er da sagte. Wie konnte er so etwas nur sagen?

"Sie meinen..." Sie schluckte. "Sie glauben, auch wenn er nicht zu dieser Überwachung mitgekommen wäre, wäre er in dieser Nacht angeschossen worden? Egal, wo er sich aufgehalten hätte, es hätte so geendet? So wie jetzt?"

Skinner nickte. "Ja. Sie hätten sich ihm in den Weg werfen, ihn aufhalten können. Egal was sie getan hätten, es hätte ihn erwischt. Glauben Sie mir, es sollte genau in dieser Nacht geschehen."

‘Scully, wach auf, wach endlich auf, du träumst, du mußt träumen, daß kann doch einfach nicht sein, das kann nicht wahr sein, wach endlich auf.’ Sagte sie sich selbst.

Sie starrte ihn an, schloß die Augen und atmete einmal tief durch. ‘Wenn ich jetzt die Augen öffnen, ist alles okay und nichts von alledem geschehen. Dann liegt Mulder seelenruhig in seinem Apartment und schläft. Es muß so sein. Es muß einfach so sein.’

Sie öffnete die Augen und – Skinner stand immer noch dort neben dem Bett in dem ihr Partner im Sterben lag.

Es war unmöglich. Es mußte eine Illusion sein.

Sie stieß einen Finger vor und rammte ihn Skinner vor die Brust. Skinner reagierte nicht. Er bewegte sich nicht. Er sah sie nur verwundert an.

Erneut stieß ihm Scully den Finger vor die Brust, wieder und wieder. Bis Skinner ihre Hand festhielt.

"Agent Scully, ist alles in Ordnung? Wieso pieken Sie mich ständig?"

"Ich träume. Sie sind nicht real, Mulder ist nicht real. Ich träume. Es ist gar nichts geschehen. Mulder ist in seiner Wohnung, er liegt auf seinem Sofa und schläft ganz friedlich. Das ist alles nur ein Traum. Wieso verschwinden Sie nicht aus meinem Traum? Was suchen Sie darin?"

Skinner schüttelte langsam den Kopf, sein Blick war jetzt ernsthaft besorgt. "Es war etwas zuviel für Sie. Vielleicht sollte ich sie selbst nach Hause bringen, um sicher zu sein, daß Sie auch heil dort ankommen."

Scully schüttelte den Kopf und stieß ihre Hand vor. Sie versetzte ihm einen so harten Stoß vor die Brust, daß Skinner zurück taumelte.

"Sie existieren nur in diesem total verrückten Traum und ich will jetzt sofort daraus aufwachen. Lassen Sie mich endlich aufwachen. Lassen Sie mich aufwachen!" Wurde sie immer lauter.

Schwestern und Pfleger kamen ins Zimmer gestürzt, irritiert durch den Lärm. Auf dieser Station hatte normalerweise Ruhe zu herrschen.

Skinner legte sein Hand auf ihre Schulter und versuchte sie aus dem Zimmer zu schieben. Doch Scully wich zur Seite und funkelte ihn wütend an: "Verschwinden Sie aus meinem Traum. – Ich will hier bleiben. Ich muß bei ihm bleiben."

"Scully, bitte, beruhigen Sie sich doch. Sie helfen ihm nicht, wenn Sie hier einen solchen Aufstand machen." versuchte es Skinner eindringlich.

Scully schüttelte den Kopf. "Ich weiche nicht von seiner Seite. Ich bleibe hier."

Als Skinner nach ihrem Arm griff, schrie sie beinahe hysterisch auf. Wild schlug sie um sich.

Zusammen mit einem Pfleger brachte Skinner sie nach draußen. In einem Behandlungszimmer wurde sie auf die Liege gedrückt. Scully zitterte am ganzen Körper, und in diesem Augenblick wußte sie wirklich nicht mehr, was sie tat.

Noch immer wehrte sie sich mit Händen und Füßen. Plötzlich schwand ihr Widerstand so schnell, wie er aufgeflammt war. Müde und erschöpft brach sie weinend zusammen.

Eine Schwester verabreichte ihr schließlich zwei Tabletten, die sie mit einem Schluck Wasser hinunter spülte.

Skinner drückte sie auf die Liege und wartete. Langsam beruhigte sie sich wieder. Die Tabletten sorgten schließlich dafür, daß sie einschlief.

***

Sie konnte nicht sagen, wie lange sie schlief. Es war bereits hell draußen, als sie aufwachte.

Benommen schüttelte sie den Kopf und rieb sich die Augen. Wo war sie?

Es dauerte einen Augenblick, bis ihr die letzten Geschehnisse bewußt wurden. Die Schießerei – Mulder – Skinner – ihr Zusammenbruch.

Sie sah sich um. Jemand hatte sie in ein Bett gelegt und in ein normales Krankenzimmer gebracht.

Skinner war nirgendwo zu sehen. Sie richtete sich auf und massierte sich die Schläfen. Sie hatte furchtbare Kopfschmerzen.

Dunkel erinnerte sie sich daran, daß sie in der letzten Nacht irgend etwas am Kopf getroffen hatte.

Hatte sie sich alles nur eingebildet? Skinner – Mulders Schwester – ihren Zusammenbruch – Mulder.

Sie schob die Füße aus dem Bett und sah an sich hinunter. Ihre Schuhe standen direkt neben ihr auf dem Boden. Sie trug auch noch ihre Kleidung von der letzten Nacht. Man hatte ihr kein Krankenhaus Nachthemd angezogen. War das nun gut oder schlecht? Sie entschied sich für die positive Version. Sie hatte Mulder am Abend im Arm gehalten, er hatte sehr viel Blut verloren. Doch ihre Wäsche war sauber – zumindest gab es kein Blut darauf.

Doch sie wollte sich nicht alleine darauf verlassen. Vielleicht war es wirklich Zufall. Sie hatte am Abend nicht auf ihre Kleidung geachtet. Sie hatte also keine Ahnung, ob sich darauf zuvor Blut befunden hatte oder nicht.

Schnell schlüpfte sie in ihre Schuhe und eilte auf den Gang. Sie sah sich um. Am Ende des Flures sah sie ein Schild, daß auf die Intensivstation hinwies.

Ihr Herz klopfte immer schneller, je näher sie der Tür kam. Sie hoffte, daß alles nur ein irrwitziger Alptraum gewesen war. Daß Mulder nicht in einem der Zimmer um sein Leben kämpfte.

Sie klingelte und wartete darauf, daß irgendeiner vom Pflegepersonal die Tür öffnete.

"Ja, bitte," knarrte eine weibliche Stimme aus einem kleinen Lautsprecher an der Wand neben ihr.

"Agent Scully," begann sie und wollte erklärten, zu wem sie wollte, doch da summte bereits der Türöffner.

Sie schloß kurz die Augen, ehe sie die Station betrat. Man kannte sie, man schien sie erwartet zu haben. Es konnte kein Alptraum gewesen sein.

Zögernd ging sie auf das Zimmer zu, in dem sie Mulder glaubte.

Es war tatsächlich kein Traum, er lag in diesem Zimmer, in diesem Bett und war tatsächlich mit Kabeln und Schläuchen übersät.

Das nächste, was sie im Zimmer sah, war eine Person, die sie überall lieber gesehen hätte als hier.

Mit einem energischen Schlag stieß sie die Tür auf. "Lassen Sie Ihre Finger von ihm! Rühren Sie ihn nicht an!" fauchte sie.

"Agent Scully," Diana Fowley fuhr zu ihr herum und trat einen Schritt vom Bett zurück. "Direktor Skinner bat mich her, nachdem Sie ... – er meinte, ich solle hier bleiben und nach ihm sehen, bis Sie wieder auf den Beinen sind."

"Das bin ich jetzt und Sie sind hier überflüssig." knurrte Scully sie an.

Fowley warf einen kurzen Blick zu Mulder und nickte. "Ich weiß, daß Sie mich nicht besonders gut leiden können, weil ich früher ein Verhältnis mit Fox hatte. Aber das ist lange her. Ihre Eifersucht ist zudem unbegründet. Ich weiß, daß er Sie liebt und ich habe nicht vor, ihn Ihnen wegzuschnappen. Fox würde das nicht zulassen. - Direktor Skinner wollte, daß jemand bei ihm ist. Er konnte leider nicht bleiben."

Scully wußte nicht, was sie dazu sagen sollte. Diese Frau hatte ihrem Partner schon einmal geschadet. Sie wollte und konnte ihr nicht vertrauen. Abwartend stand sie in der Tür, bis Fowley ihre Sachen geschnappt hatte und an ihr vorbei ging.

"Agent Scully, ich hoffe, daß er durchkommt." sagte sie leise und zog sich dann zurück.

Scully schloß die Tür und ließ sich neben dem Bett nieder.

Sie wandte ihren Blick den Geräten zu, die ihn überwachten. Es war noch immer alles unverändert. Lediglich das EEG war aus. Es wurde nur zu Kontrollen angeschaltet. Scully wußte es.

Ihr Blick wanderte wieder zu ihrem Partner. "Mulder, es tut mir leid, daß das alles geschehen ist. Es war meine Schuld. Wir hätten auf Verstärkung warten sollen, wie du es vorgeschlagen hattest. – Ich ... – ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen. Ich will dich nicht verlieren. Nicht so und nicht jetzt. Das ist nicht fair."

"Agent Scully," erklang plötzlich eine helle Stimme hinter ihr.

Scully fuhr herum.

Eine Schwester stand im Zimmer. Sie trug ein kleines Tablett und einige Spritzen darauf.

Sie trat nun neben das Bett. "Ich bin Schwester Emilia. Keine Angst, ich muß ihm nur etwas Blut abnehmen."

Scully nickte und sah ihr zu.

"Sein Zustand hat sich seit letzter Nacht nicht verändert. Sie sollten es als gutes Zeichen sehen", fuhr die Schwester fort. "Wenn Sie ihm helfen, wird er es sicher schaffen. Ich habe das schon öfter erlebt. Reden Sie mit ihm nicht über ihre Schuldgefühle. Erzählen Sie ihm Dinge, die Sie beide erlebt haben. Schöne Dinge, an die man sich gerne erinnert. Er kann Sie hören. Teilen Sie ihm mit, daß Sie jetzt hier sind und das Sie ihm Kraft geben. Er braucht Sie jetzt."

"Ich weiß. Ich bin selbst Ärztin. Er – er ist seit sechs Jahren mein Partner und mein bester Freund, und er liegt nur hier, weil ich eine falsche Entscheidung traf. Unser früherer Chef sagte, es sei Schicksal gewesen und ich hätte nichts dagegen tun können. Aber ich glaube nicht an eine Vorbestimmung. Daran, daß alles vorher festgelegt ist. Jeder Schritt, jede Handlung. Ich kann daran nicht glauben. Denn, wenn es so wäre, dann hätten unsere Gefühle füreinander niemals eine Chance gehabt. Und das kann ich nicht akzeptieren und ich bin sicher, er kann es auch nicht." Scully hatte es mehr zu sich, als zu der Schwester gesagt.

"Ihre Gefühle füreinander hätten nur dann eine Chance, wenn Sie ihn retten könnten. – Versuchen Sie es. Geben Sie sich und ihm diese Chance."

Scully sah zu ihr auf. Die Schwester lächelte freundlich und nickte aufmunternd. Als sie fertig war zog sie sich diskret zurück.

Scully war mit Mulder wieder alleine.

Sie schwieg, sah ihren Partner nur an. Unzählige Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sie hatte ihm so viel zu sagen, doch nichts schien in diesem Augenblick richtig zu sein. Sie sollte ihm Dinge erzählen, an die er sich gerne erinnerte. Das war okay und verständlich. Das Problem war, daß es eigentlich nichts gab, an das er sich gerne erinnern würde. Sie waren seit sechs Jahren Partner und alles, was sie in dieser Zeit erlebt hatten, betraf ihre Arbeit. Betraf die X-Akten. Sie waren von einem Fall zum nächsten gehetzt, quer durch Nord- und Südamerika. Und was hatten sie gesehen? Monster, Mutanten und andere grausamen Dinge. Ein Fall war erschreckender als der andere. Und immer war es um ihre Arbeit gegangen. Sie hatten kaum Privatleben und erst recht kein gemeinsames. Sie konnte ihm schlecht erzählen, wie sie Geister, Leberfresser oder Menschen mordende Parasiten gejagt hatten. Leuchtende Insekten, die Menschen in Kokons spannen und auf Bäume hängten. Pilze, die einem fast explosionsartig aus dem Hals wuchsen. Riesige Plattwürmer, die bevorzugt Menschen angriffen, um sie als Aufzuchtstation für ihre Nachkommen zu mißbrauchen. Vampire, Aliens, von verrückten Wissenschaftlern erschaffene Monster. Das alles würde ihn kaum ins Leben zurück bringen. Ebenso wenig würde es ihm helfen, wenn sie ihm von ihrer Entführung erzählte, als Mulder glaubte, Aliens hätten sie geholt um mit ihr zu experimentieren.

Verzweifelt suchte sie ihr Gedächtnis nach etwas ab, das sie erlebt hatten und daß schön war, für beide.

Ihr fiel nur eines ein.

"Mulder, erinnerst du dich noch an das letzte Halloween? Du hattest mich im Büro fast zu Tode erschreckt, mit deiner Maskerade. Und dann hast du mir erzählt, du hättest einen Alien gefunden. – Du hast eine kleine graue Puppe angeschleppt und dich als Bauchredner versucht." Scully mußte tatsächlich grinsen, als sie an diesen Tag dachte. "Du wolltest mir einreden, daß dieser Außerirdische nur auf die Erde kam, um einen Spielkameraden zu finden, da ihm in seiner Galaxie so furchtbar langweilig sei. Und plötzlich kam Skinner herein und fragte, ob wir sonst in Ordnung seien. – Gott, war das peinlich. – Aber ich hatte selten soviel Spaß wie an diesem Tag."

Ihr Blick streifte über ihren Partner hinweg und sie ließ die Bilder dieses Tages vor ihrem inneren Auge noch einmal Revue passieren.

Ja, sie hatten wirklich Spaß gehabt, auch wenn sie sich etwas albern benommen hatten.

"Erinnerst du dich noch an letzten Sommer?" fuhr sie fort, als ihr plötzlich ein neues Erlebnis einfiel. "Wir hatten ein Wochenende frei und ich wollte eigentlich meine Mutter besuchen. Sonntags morgens hast du dann plötzlich vor meiner Tür gestanden. Du hast etwas von einem furchtbar wichtigen Auftrag erzählt, der nicht warten könnte. Dann bist du den halben Tag mit mir durch die Gegend gefahren, nur um schließlich im Stadion zu landen. Du hattest Karten bekommen für ein Ausscheidungsspiel der NBL. Wir saßen ganz vorne, direkt am Spielfeldrand und du hast mich ständig mit Popcorn und Hot Dogs füttern wollen. – Ich habe seit dem Tag keinen Hot Dog mehr gegessen. Aber der Tag war wunderschön. – Wach auf, Mulder und laß uns so etwas noch einmal erleben. Laß mich nicht alleine. Geh nicht einfach fort, ohne ‘Auf Wiedersehen’ zu sagen. – Gib mir noch eine Chance."

‘Ich würde dir jede Chance der Welt geben, Scully. Öffne die Augen und sieh mich an.’

Mulder? Das ...

Scully sah ihn ganz deutlich vor sich liegen. Kein Muskel regte sich. Noch immer hatte er die Augen fest geschlossen. Nichts hatte sich verändert.

Und doch, sie war sich ganz sicher, daß sie eben gerade seine Stimme gehört hatte. Er hatte zu ihr gesprochen.

Irritiert schüttelte sie den Kopf. Nein, sie hatte es sich sicher nur so sehr gewünscht, daß sie sich seine Stimme lediglich eingebildet hatte. Eine Reaktion ihrer überreizten Nerven.

‘Scully, öffne die Augen. Ich weiß, daß du es kannst. Versuch es. Sieh mich an. – Bitte.’

Scully starrte ihn an. Seine Lippen hatten sich nicht bewegt. Er konnte nicht gesprochen haben. Zudem hatte er noch immer den Beatmungsschlauch in der Kehle. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er so keinen klaren Ton heraus gebracht.

Er konnte nicht gesprochen haben. Er lag im Koma. Im tiefen Koma.

Was meinte er überhaupt? Sie hatte doch die Augen offen, sie sah ihn doch an. Sie war hier, saß hier neben seinem Bett und war hellwach. – Oder doch nicht?

‘Scully, ich liebe dich. Ich wollte es dir schon früher sagen. Ich hätte es wirklich sagen sollen. – Vielleicht ... – ich weiß es nicht.’

Scully sah sich hektisch im Zimmer um. Es war niemand da. Niemand in der Nähe. Ihr Blick flitzte zu den Monitoren. Die Werte waren unverändert.

Es mußte einfach eine vernünftige Erklärung dafür geben.

Fieberhaft überlegte sie.

... Fowley.

Sie war lange alleine im Zimmer gewesen. Sie hatte Zeit genug gehabt.

Scully sprang vom Stuhl und suchte alle Ecken und Nischen ab. Irgendwo mußte es einen Lautsprecher oder etwas Ähnliches geben. Scully war sicher, daß Mulders Stimme vom Band kam. Es mußte einfach so sein.

‘Ganz ruhig. Ich bin hier. Ich bin bei dir und ich werde dich auch nicht alleine lassen. Ich werde dich nie mehr alleine lassen. Ich werde immer bei dir sein. Schhhh.’

"Was ... – wer ist das? Hört auf damit. Das ist nicht lustig." fuhr sie auf und schaute unter seinem Bett nach.

‘Scully, ganz ruhig. Beruhige dich. Ich bin bei dir. Ganz ruhig.’

"Verdammt, wer ist da? Was soll das? Warum tun Sie das?" Tränen schossen ihr in die Augen.

Es tat doch schon so weh. Warum mußten sie ihr das antun? Warum mußten sie sie so quälen.

"Miß Scully, ist alles in Ordnung? Suchen Sie etwas?"

Scully fuhr hoch. Eine Schwester stand in der Tür und sah vorsichtig ins Zimmer.

Scully winkte sie hinein und bat sie, die Tür zu schließen. "Bitte warten Sie, und sagen Sie mir, ob Sie das auch hören."

"Was hören?" die Schwester ließ ihren Blick durch das Zimmer gleiten und hob verwirrt die Schultern. "Stimmt etwas mit dem Sauerstoff nicht?"

Scully schüttelte ungeduldig den Kopf. "Nein. Hören Sie eine Stimme?"

"Welche Stimme? Ich höre ‘Sie’."

Scully lauschte und schüttelte den Kopf. "Sie ist weg. Sie war eben noch da."

"Ist alles in Ordnung?" wurde die Schwester mißtrauisch.

Scully legte ihr flüchtig die Hand auf den Unterarm und schüttelte den Kopf. "Nein. Bitte. Ich habe sie gehört. Ganz deutlich. Sie hat ..."

‘Scully, kannst du mich hören? Kannst du mich verstehen?’

"Da ist sie wieder. Haben Sie sie gehört? Haben Sie die Stimme gehört?" fuhr Scully auf.

Die Schwester sah sie besorgt an. "Ich ... – nein. Es tut mir leid. Ich habe nichts gehört. Vielleicht war es eine Ansage außerhalb der Station hier. Manchmal stellen Sie den Ton falsch ein und dann kann man die Ansage hier noch schwach hören."

"Nein." Scully stieß resignierend die Luft aus. "Es ... es war nicht die Ansage." Sie wußte, daß ihr vermutlich niemand glauben würde und sie wußte, daß es keineswegs eine Ansage aus einem Lautsprecher war.

Es war seine Stimme. Die Stimme, die sie vor sechs Jahren das erste Mal hörte. Die Stimme, die sie sechs Jahre lang fast täglich begleitet hatte. Es war seine Stimme. Es war Mulders Stimme. Und diese existierte im Augenblick vermutlich nur in ihrem Kopf.

Zögernd trat sie wieder neben sein Bett und sah auf ihn hinab. Forschend, kritisch.

"Mulder, kannst du mich hören? Kannst du mir antworten? – Wie geht es dir?" ihre Stimme war leise und unsicher.

‘Mach dir keine Sorgen. Es wird alles wieder gut, Scully. Das verspreche ich dir.’

Sie hatte genau aufgepaßt. Kein Muskel hatte sich in seinem Gesicht bewegt.

Sprach er auf eine Art Telepathie mit ihr? Indem er in ihre Gedanken eindrang oder seine Antworten in sie hinein projizierte?

"Mulder, ich habe Angst. Angst, daß du stirbst. Angst, daß du für immer gehst."

‘Ich werde dich niemals alleine lassen, Scully. Ich werde immer bei dir sein. Dich beschützen und dich lieben.’

Scully ließ sich neben ihm nieder und legte ihr Gesicht gegen seine Brust. Sie weinte leise.

"Agent Scully?!"

Scully sah auf. Dr. Wilshore stand mit der Schwester im Zimmer.

"Sie sollten sich etwas Ruhe gönnen. Gehen Sie nach Hause und versuchen Sie etwas zu schlafen. Seine Mutter ist auf dem Weg hierher. Sie brauchen sich nicht zu sorgen." fuhr der Arzt beruhigend fort.

Scully schüttelte den Kopf. "Das ... – das ist doch alles nicht wahr. Das ist doch nur ein Traum. Bitte, sagen Sie mir, daß es ein Traum ist, daß ich gleich aufwachen werde. Bitte."

"Agent Scully, es ist leider kein Traum. Ich wünschte wirklich, ich könnte Ihnen etwas anderes sagen. Aber es ist kein Traum."

"Nein ... – es muß einer sein. Das ist doch einfach absurd. Sie sagten mir, daß seine Schwester hier war. Aber das kann gar nicht sein. Seine Schwester wurde vor 27 Jahren entführt und gilt noch immer als vermißt. Niemand weiß, was mit ihr geschah. Sie kann nicht hier gewesen sein. Und sein Vater – er ist tot. Er ist seit vier Jahren tot, er kann seine Tochter hier nicht abgeholt haben. Das ist unmöglich." Tränen rollten über ihr Gesicht, als sie den Arzt verzweifelt ansah. Sie deutete auf Mulder. "Er spricht mit mir. Ich höre ihn ganz deutlich. Ich höre ganz deutlich seine Stimme. Das ... – das kann nicht real sein. Es kann nicht sein. Ich bin Ärztin, ich bin Wissenschaftlerin und das alles gibt es nicht. Nichts davon gibt es. Nichts davon ist bewiesen, konnte jemals als sicher anerkannt werden. Geister und körperlose Stimmen existieren nicht. Das sind Märchen und ich glaube nicht an Märchen. Ich kann nicht daran glauben."

‘Glaubst du noch an Gott, Scully?’

"Haben Sie gehört? Er hat es wieder getan. Haben Sie ihn gehört?" schrie sie auf.

Der Arzt schüttelte den Kopf, "Nein. Ich habe nur Ihre Stimme gehört. Agent Scully, Agent Skinner sagte, daß Sie eine lange Nahct hinter sich hätten und wohl auch davor, wenig Schlaf gefunden haben. Sie sind übermüdet. Gönnen Sie sich etwas Ruhe und glauben Sie mir. Nichts ist so, wie es jetzt noch scheint.

‘Scully, versuche dich zu beruhigen. Versuche etwas zu schlafen. Du brauchst deinen Schlaf. Glaub mir, es wird alles wieder gut. – Vertraue mir.’

Scully sah zu ihrem Partner, der noch genauso leblos im Bett lag wie zuvor. Langsam nickte sie. Sie faßte nach seiner Hand und drückte sie leicht. "Ich vertraue dir. Es wird alles wieder gut."

Zögernd wandte sie sich ab und verließ das Zimmer. Gefolgt von den verwunderten Blicken des Arztes und der Schwester.

***

Scully war verwirrt. Sie wollte nicht daran glauben, sie konnte es nicht. Ihr wissenschaftlicher Verstand weigerte sich, daran zu glauben. Es war einfach zu skurril, zu verrückt, um wahr zu sein. Ihr Partner sprach mit ihr. Telepathisch. Er versuchte sie zu beruhigen und dabei sollte es genau umgekehrt sein. Er versuchte ihr zu helfen, mit dieser Situation fertig zu werden. Das alles durchzustehen. Dabei müßte sie ihm helfen. Müßte ihm helfen, ins Leben zurück zu finden. Müßte ihm Kraft geben, um diesen Weg gehen zu können.

Ein Taxi hatte sie vom Hospital nach Hause gebracht. Erschöpft war sie in ihrem Apartment auf das Sofa gefallen und hatte geweint. Sie hatte sich ein Kissen vor die Brust gedrückt und geweint. Laut und schluchzend. Sie wollte nicht mehr weinen. Sie wollte endlich ihre Kraft zurück. Sie brauchte sie, wenn sie ihm helfen wollte. Sie brauchte ihren Verstand zurück. Denn langsam glaubte sie, dem Irrsinn verfallen zu sein.

Sie mußte wirklich ihren Körper und ihren Verstand ausruhen. Sie mußte etwas schlafen. Sie war sich sicher, wenn sie ausgeschlafen hatte, würde sich alles irgendwie plausibel erklären lassen.

Vielleicht hatte der Arzt im Hospital ja recht, daß es nur am Schlafmangel lag. Daß sie sich alles nur eingebildet hatte.

Doch seine Stimme schien so real. So, als hätte er direkt neben ihr gestanden.

Sie erinnerte sich an die Worte des Cops, als er von dem Tod seines Partners sprach. Sie fragte sich, ob sie sich Mulders Stimme nur eingebildet hatte, um sich von ihren Schuldgefühlen zu befreien. Oder ob es tatsächlich Mulder war, der versuchte, ihr diese Qualen zu ersparen.

Er hatte sie gefragt, ob sie noch an Gott glaubt.

Sehr lange und intensiv hatte sie über diese Frage nachgedacht. Das letzte Mal hatte sie sich vor knapp einem Jahr damit auseinander gesetzt. Sie hatte sich diese Frage noch immer nicht beantwortet. Sie glaubte, daß sie an Gott glaubte, aber sie war sich nicht sicher. Doch sie wußte auch, daß sie viel Kraft aus diesem Glauben geschöpft hatte. Sie glaubte, daß ihr Gebet geholfen hatte, die Rettung zu alarmieren. Es mußte einfach so sein. Und wenn es so war, dann mußte sie an ihn glauben. Dann mußte es ihn geben. Dann hatte er dafür gesorgt, daß ihr Partner ins Hospital kam. Dann hatte Gott ihnen diese Chance gegeben. Doch, wie sollte ihr Glaube an Gott ihrem Partner jetzt helfen? Er brauchte ein medizinisches Wunder und sie bezweifelte, daß noch so viele Gebete helfen konnten.

Sie hatte ihn gesehen, hatte seine Werte gesehen. Sie war lange genug Ärztin, um zu wissen, was sie bedeuteten. Ihr medizinisches Verständnis hatte ihr längst gesagt, wie seine Chancen standen. Auch wenn sie noch immer fest darauf hoffte, sie glaubte nicht daran, daß er überleben würde. Sie wußte einfach nicht, was sie jetzt tun sollte. Sie hatte Angst, wieder die falsche Entscheidung zu treffen und damit alles nur noch schlimmer zu machen.

"Bitte, hilf mir. Sag mir, was ich tun soll. Bitte," flehte sie leise und war sich selbst nicht sicher, ob sie Gott oder Mulder meinte.

Die Erschöpfung breitete sich schließlich wie ein schwarzes Tuch über sie aus. Sie fiel in einen langen, tiefen, traumlosen Schlaf.

Rezensionen