World of X

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Maybe hope?

von Cat

Kapitel 1

I may not have gone where I intended to go,
but I think I have ended up where I intended to be.
Douglas Adams



Eiligen Schrittes und mit gesenktem Kopf durchquerte der Mann den kleinen Supermarkt, bog zielstrebig in einen Gang, der Damenhygieneartikel führte. Nervös blickte er sich um, ein besorgter Schleier legte sich über seine Augen. Mit der linken Hand strich er sich durch das zerzauste Haar. Seine zerknitterte Kleidung und die Geschwindigkeit, in der er äußerst bestimmt Ware in seinen Einkaufskorb fallen ließ, verliehen ihm einen gejagten, sogar gehetzten Eindruck. Ohne auf Preise oder Herstelleretiketten zu achten, schien er systematisch eine imaginäre Liste abzuarbeiten. Dabei blickte er sich immer wieder misstrauisch nach allen Seiten um. Noch während er nach einer Bodylotion griff, setzte er seinen Weg in die gegenüberliegende Regalreihe fort. Blitzschnell wanderten ein Herrendeodorant, Shampoo und Duschgel zu den übrigen Einkäufen. Doch der Griff nach einem billigen Aftershave ließ ihn innehalten. Sekundenlang strich er sich gedankenverloren durch den Vollbart. Leise seufzend stellte er den Artikel zurück, ergriff aber einen Ladyshave. Mit langen, weit ausholenden Schritten steuerte er eine weitere Regalwand an. Erst hier hielt er ratlos inne. Seine Augen huschten verzweifelt von Produkt zu Produkt, was ihn nicht davon abhielt, weiterhin besorgte Blicke in alle Richtungen zu werfen. Eine junge blonde Frau, die ihm in der Auswahl der Färbemittel zur Hilfe eilen wollte, schreckte er mit einem düsteren und mürrischen Blick ab. Hilflos hielt er drei der Verpackungen gegeneinander, überflog schnell die Beschreibungen. Seine Augen schnellten zwischen den Haarfärbemitteln, seiner Armbanduhr und dem Verkaufsraum rastlos hin und her. Resignierend ließ er kurzerhand zwei der Produkte in den vollen Korb gleiten.

Mit einem prüfenden Blick scannte er seine Einkäufe und nickte dann kaum merklich. Beinahe schon laufend, eilte er auf die Kasse zu, die zu dieser späten Tageszeit nahezu leer war. Eine alte Dame packte gerade umständlich ihre Einkäufe in eine von ihr mitgebrachte Tasche und beschwerte sich lautstark bei der fülligen Verkäuferin über das schlechte Wetter. Unachtsam leerte er den Korb über dem schwarzen Fließband und trat unruhig von einem Fuß auf den Anderen. Während die Rothaarige an der Kasse damit begann seine Artikel einzuscannen, drehte sich der große schlaksige Mann zur Seite und vervollständigte seinen Einkauf mit zwei Packungen Kondomen. Nervös kaute er auf seiner Unterlippe während er ungeduldig darauf wartete bis das junge Mädchen von vorhin endlich die Tüten gepackt hatte. Aus seiner Jeanstasche zog er einen stark zerknitterten 100 Dollarschein, um damit zu bezahlen.

„Sir, haben Sie es nicht vielleicht kleiner?“, erkundigte sich die Frau in einem genervten Tonfall. Augenblicklich zuckte der Fremde zusammen als schien er beunruhigt angesprochen worden zu sein. Hektisch fischte er durch seine Taschen, schüttelte dann aber verneinend den Kopf, den er weiterhin gesenkt hielt. Diese Geste rief ein theatralisches Seufzen der Kassiererin hervor, die sich dann, leise vor sich hinmurmelnd, daran machte das Wechselgeld auszugeben. Das Geld nicht nachzählend, verstaute der bärtige Mann die Scheine und Münzen teilnahmslos in seinen Hosentaschen. Schnell riss er der Blondine seine Tüten aus der Hand, was diese zum Schimpfen brachte.
Doch der Fremde hörte gar nicht zu, murmelte nur eine leise Entschuldigung und eilte dem Ausgang entgegen. Nicht auf seine Umgebung achtend, prallte er gegen eine Gestallt. Schockiert blickte er auf das Abzeichen, welches auf dem sorgfältig gebügelten Hemd prangte. „Sheriff“.

Schnell sammelte er seine Tüten auf und rannte wie von Teufel verfolgt auf den Parkplatz. Dort riss er die Türe eines schäbigen Landrovers auf, warf die Einkäufe achtlos auf die Beifahrerseite und war davongerast, ehe einer der Augenzeugen seiner Flucht auch nur reagieren konnte.
Verwirrt nahm der alte Sheriff die ihm dargebotene Hand an. Irritiert wischte er nicht vorhandenen Schmutz von seinem Hosenboden.
„Danke, Wanda. Was zur Hölle war das?“, fragte der bullige Mann mit Halbglatze das hilfreiche Mädchen. Noch ehe dieses antworten konnte, mischte sich Emma, ihre Vorgesetzte, lautstark und energisch ein.
„Der erschien mir schon von Anfang an sehr merkwürdig. Ich könnte wetten, dass dieser Typ Dreck am Stecken hat, wenn Sie mich fragen, Sheriff Radcliff.“ Geltungsbedürftig setzte sich Emma vor dem Sheriff in Szene. Dieser zupfte nur in Gedanken verloren an seinem Oberlippenbart.
„Irgendwie kam der Mann mir bekannt vor. Wenn ich doch nur wüsste, wieso.“
Diese Aussage schien Emma nur noch weiter zu mobilisieren.
„Bekannt? Oh mein Gott. Der ist bestimmt ein steckbrieflich gesuchter Mörder! Oder ein grausamer Vergewaltiger. Sheriff, Sie müssen etwas unternehmen. Folgen Sie dem Verbrecher“, ereiferte sich die übergewichtige Rothaarige.

„Steckbrieflich?“, murmelte der Gesetzeshüter. Seine Stirn legte sich in nachdenkliche Falten. Dann fuhr er wie vom Blitz getroffen herum.
„Himmel, ja! Emma, ich muss dringend telefonieren. Dieser Mann wird gesucht!“
Nicht wirklich wissend, ob sie sich über ihren guten Instinkten freuen oder ob sie sich lieber davor, einen wirklichen Verbrecher gegenübergestanden zu haben, fürchten sollte, griff Emma tief in Gedanken versunken nach dem alten Telefon.
Schnell flogen die Finger des Sheriffs über die Tasten.
„Radcliff hier, Anthony. Du musst sofort das FBI informieren. Ich habe gerade diesen Schwerverbrecher, der früher einmal selbst Agent war, hier bei Emma Livingston gesehen. Diesen Muller.“ Angespannt versuchten Emma und Wanda zu verstehen, was Anthony zu sagen hatte. Doch sie hörten nur die Antwort des Sheriffs.
„Richtig, Mulder ist sein Name!“



Heißer Dunst hüllte das winzige Badezimmer ein, beschlug den ohnehin schon verschmierten Spiegel und erhöhte die Luftfeuchtigkeit. Durch die geschlossene Türe klang die monotone Stimme einer Dauernachrichtensendung. Alle Neuigkeiten wurden in einem stetigen und ermüdenden Rhythmus ständig wiederholt. Ein Schleier aus Angst und Hoffnung hatte sich um die zierliche Frau gelegt, die gerade versuchte ihre nassen und verknoteten Haare durchzukämmen. Nur widerwillig gaben die stumpf wirkenden roten Strähnen nach. Bei jeder Widerholung einer bereits bekannten Schlagzeile atmete sie leise und erleichtert auf. Nachdem sie jeden einzelnen Knoten gelöst hatte, rieb sie ihren Körper mit dem schäbigen, vom Hotel bereit gelegten Handtuch ab. Der dünne Stoff absorbierte nur einen geringfügigen Anteil an Feuchtigkeit und ließ einen noch nassen Schimmer auf der geröteten Haut zurück. Mit dem benutzen Handtuch wischte sie über den kleinen Spiegel, welcher dann den Blick auf ein fein geschnittenes, sommersprossiges Gesicht, umrundet von schulterlangen, roten Haaren, freigab. Verträumt strich die Frau durch eine leicht gewellte Strähne, die sich einzeln gelöst hatte. Dann aber schüttelte sie energisch den Kopf als wolle sie all die Gedanken, die sie beschäftigten, mit dieser Geste verdrängen. Für Sentimentalitäten war gewiss keine Zeit. Sie hatten diesen Weg gewählt, ihr Leben bereitwillig den Widrigkeiten angepasst und aus Liebe ein Dasein wie dieses gewählt. Nein, sie bereute ihre Entscheidung nicht, doch kam sie nicht umhin, sich der drastischen Veränderungen und auch Verluste, die sie einbüßen musste, bewusst zu werden. Ihr Leben würde nie mehr so sein wie es früher einmal gewesen war. Erstaunlicherweise war nicht sie diejenige, die dies am meisten betrauerte. Nein, Mulder nagte mehr als sie an ihren neuen Lebensumständen. Nicht seinetwillen, er hatte im letzten Jahr unter schlechteren Bedingungen zu überleben gelernt. Erst letzte Nacht hatte er mit Tränen in den Augen seine wahren Gefühle offengelegt. Er gab sich die Schuld, an allem! Durch ihn habe sie ihre anfängliche Unschuld verloren, habe unzählige Verluste hinnehmen müssen, nicht zuletzt noch ihren Sohn aufgeben müssen. Dieses Geständnis hatte einen lautstarken Streit hervorgerufen. Unzählige Male hatte sie ihm klarmachen müssen, dass sie aus freien Stücken mit ihm geflohen war, dass es einfach für sie war ihr gewohntes Leben aufzugeben, sie seinen abermaligen Verlust aber keineswegs noch einmal verkraften wolle oder könne. Erst dieser Ausbruch hatte Mulder etwas beruhigt. Für wie lange vermochte sie nicht zu sagen. Das Aufschließen der Zimmertüre ließ sie erschrocken zusammenzucken und reflexartig herumfahren. Mulders Paranoia hatte maßgelblich auf sie abgefärbt. Doch seine ruhige und wohlbekannte Stimme ließ ihren Puls sich wieder normalisieren.

„Scully, ich bin’s. Ich habe alles.“
Schon trat er zu ihr ins Badezimmer. Wärme schlug ihm entgegen. Doch er beachtete dies nicht einmal. Sein Blick war auf seine Ex-Partnerin gerichtet. Ungeniert ließ er seinen Blick anerkennend über ihren nackten und wohlgeformten Körper gleiten. Ein Scully wohlbekanntes Funkeln legte sich in seine Augen. Doch sie ignorierte sein sichtliches Interesse und drehte sich langsam wieder dem Spiegel zu. Wehmütig betrachtete sie ihre rote Haarpracht. Vorsichtig trat der Mann an die wesentlich kleinere Frau heran, legte sein Kinn auf deren Kopf und beobachtete nachdenklich ihre Spiegelbilder. Ihre azurblauen Augen suchten die seinen. Er nahm sich alle Zeit und betrachtete ihre feinen Gesichtszüge ausgiebig. Seit sie auf der Flucht waren, verzichtete Dana Scully auf Make-up. Und dies machte sie nicht gewöhnlich - wie viele schöne Frauen, die ihr wahres Gesicht unter Bergen von Schminke versteckten - es brachte vielmehr ihre natürliche Schönheit hervor. Und Sommersprossen. Mulder liebte diesen neuen Aspekt ihres Teints, Scully hingegen fand ihn eher störend. Abermals richten beide ihr Augenmerk auf das auffallend rote Haar.

„So sehr ich es auch selbst bedauern mag - so fällst du zu sehr auf.“ Zärtlich ließ er seine rechte Hand durch einige Strähnen fahren. Er selbst hatte sich zu ihrer Sicherheit einen Bart wachsen lassen, was sie genauso sehr störte wie Mulder selbst.
„Ich weiß...“, ertönte ihre leise gemurmelte Zustimmung. Da er halb über sie gelehnt war, nahm sie die Bewegung seines Nickens wahr. Einen Moment lang verharrend, schloss sie ihre Augen und lehnte sich kraftsuchend gegen seinen Oberkörper. Dann jedoch drehte sie sich abrupt in seinen Armen um und deutete auf die offene Türe.
„Würdest du bitte die Farbe holen, es wird Zeit dies hinter mich zu bringen“, sagte sie bestimmt, ihrer Melancholie keinen Aufschub auf das Unausweichliche gewährend. Ihrer Bitte folge leistend, verließ Mulder das Badzimmer und kehrte kurz darauf mit zwei verschieden Färbemitteln zurück. Ein verschmitztes Lächeln legte sich auf das Gesicht der noch rothaarigen Frau.
„Trotz meiner überragenden Intelligenz war es mir unmöglich die Geheimnisse der weiblichen Haarfärbemittel zu entschlüsseln.“ Amüsiert hob Scully eine Augenbraue, nahm ihm die Produkte jedoch kommentarlos aus den Händen. Nach einer genaueren Studie der aufgedruckten Beschreibung, kam sie um eine Kommentierung nicht herum.

„Schwarz? Mulder, ich denke, wir wollen unauffällig sein!“ Achtlos legte sie die erste Verpackung beiseite, öffnete dann seufzend die zweite und förderte einen Plastikbehälter mit der Farbe, eine Gebrauchsanweisung und ein paar Gummihandschuhe zu Tage.
„Was stört dich an schwarz?“, erkundigte sich der Mann neben ihr.
„Vielleicht ist dir ja in all den Jahren, in denen wir zusammen gearbeitet haben aufgefallen, dass ich ein sehr hellhäutiger Mensch bin. Dies mit schwarzem Haar kombiniert, würde mich krank aussehen lassen. Ich bin zu blass dafür.“ Noch während sie diese Worte sprach, streifte sich Dana routiniert die beiliegenden Handschuhe über. Ein seltsam beklommenes Gefühl legte sich um ihr Herz. Unzählige Male hatte sie diese einfache und von ihr voll automatisierte Bewegung früher getätigt. Früher, als sie noch zugelassene Pathologin, eine engagierte Bundesagentin mit einem unerschütterlichen Vertrauen in das Rechtssystem und eine Bürgerin, die an die amerikanische Regierung glaubte, gewesen war. Innerhalb Sekundenbruchteilen, wie ihr schien, wurde sie von der Jägerin zur Gejagten. Abermals fühlte sie sich wie ein gehetztes Tier auf der Flucht, gnadenlos von einem übermächtigen Gegner gejagt und in die Enge getrieben.

Erst Mulder, der interessiert nach der Packungsbeilage griff, riss sie aus ihren düsteren Gedanken, die sie zu beherrschen versuchten. Verwirrt strich Scully ihr Haar zurück als könne sie mit dieser hilflosen Geste all die Emotionen, die sie zu überrollen drohte, zurückdrängen. Und doch wusste sie, dass sie um eine schmerzhafte Konfrontation nicht herumkommen würde. Noch hatte sie all die Geschehnisse der letzten Tage nicht verdaut, zu frisch waren die Ereignisse um richtig zu ihr durchgedrungen zu sein. Sie wusste, dass sie ihre Situation früher oder später einholen würde, ahnte, dass sie dieser aufbrausenden Welle nicht entkommen konnte, hoffte jedoch auf einen rettenden Anker. Sie wünschte sich nur, dass Mulder, sobald sie zusammenbrach, bei ihr sein würde, sie halten und vor dem Ertrinken erretten würde. Mulder, der sich dem Tumult in Scullys Inneren nicht bewusst war, trat abermals von hinten an die zierliche Frau heran. Liebevoll strich er über die nackten Arme seiner Partnerin, was diese erschaudern ließ.

„Kalt?“, erkundigte er sich besorgt und ließ seinen Blick abermals über ihren nackten Körper gleiten. Ohne zu zögern streifte er zuerst seinen Wollpullover, dann das dunkelblaue T-Shirt über seinen Kopf und signalisierte ihr die Arme zu heben. Liebevoll hüllte er sie in den dünnen Stoff und küsste sie sanft auf die Lippen, um sich kurz darauf den Pullover wieder überzuziehen.
„Dann lass uns mal loslegen!“, mit diesen Worten griff er voller Tatendrang nach dem Gefäß, welches die zwei Farbindikatoren enthielt. Bestimmt ging Dana dazwischen und brachte die Ampulle in ihren Besitz.
„Ich soll allen Ernstes einen Mann, der nicht einmal eine Tönung von einem Färbemittel unterscheiden kann, an meine Haare lassen? Vergiss es, Mister. Ich mache das alleine. Vielleicht kannst du ja in der Zwischenzeit die Einkäufe in unsere Tasche packen und herausfinden, was wir noch benötigen. Ich brauche ganz unbedingt frische Unterwäsche und ein Paar Kleidungsstücke. Zudem solltest du versuchen, Jimmy oder Yves zu erreichen.“ Damit war für Scully die Unterredung beendet und sanft schob sie ihren Begleiter in den Nebenraum. Sekunden später fiel die Badezimmertüre ins Schloss.



Seufzend machte sich der schlaksige Mann an die ihm beauftragte Arbeit. Ohne viel Raffinesse griff er nach der ersten Tüte und ließ den Inhalt einfach in die offene Tasche fallen. Diese Prozedur wiederholte er mit gleicher Hingabe bei der zweiten Einkaufstüte. Mit einer fahrigen Bewegung strich er den Berg glatt und nickte selbstzufrieden. Es war kaum vorstellbar, dass sich alle ihre Besitztümer in dieser unscheinbaren Reisetasche, die in ihrem Fluchtwagen gestanden hatte, befinden sollten. Monica Reyes hatte dafür Sorge getragen, dieses Gepäckstück auf der Rückbank stehen zu lassen. Ob sie vergessen hatte, es bei der ersten Verabschiedung zu übergeben oder aber ob sie mit einem derartigen Ausgang ihrer Flucht gerechnet hatte, vermochte er nicht zu sagen. Doch war er für diese Tasche mehr als dankbar. Nicht seinetwillen. Nein, die wenigen Dinge, die eine Erinnerung an Danas Vergangenheit zuließ, befanden sich nun in seinen Händen. Bilder der Scullyfamilie, ein kleines Album, das Williams erste Lebensmonate dokumentierte, persönliche Gegenstände, deren Wert für die Frau an seiner Seite unschätzbar war, wahllos zwischen Kleidungsstücke platziert. Und obwohl Fox Mulder wusste, dass Dana diese Entscheidung selbstverantwortlich getroffen hatte, so täuschte diese Erkenntnis nicht über die Tatsache hinweg, dass sie ihr Leben - so wie sie es kannte - für ihn aufgeben hatte. Abermals fragte er sich, womit er die Lieber einer Frau wie Dana Katherine Scully verdient hatte.

Sich nicht weiter von seinen Gedanken geißeln lassend, begann er sich einen Überblick über ihre finanzielle Lage zu machen. 470 Dollar in seiner Brieftasche, 585 in Scullys Portmonaie, weitere 62,98 Dollar, die vom Einkauf übrig waren. Dana hatte sich soviel Geld wie möglich vor ihrer Flucht beschafft. Doch er machte sich nicht die Illusionen, dass diese 1.117,89 Dollar lange reichen würden. Es war ein weiter Weg bis Kanada, mit vielen unbekannten Gefahren und Hindernissen verbunden. Zudem brauchten sie nicht nur freien Zugriff zu Geld, sondern auch neue Papiere. Ausweise, Führerscheine und nicht zu vergessenen benötigten sie beide neue Sozialversicherungsnummern. Ja, es war an der Zeit Hilfe anzufordern.

Seine Freunde, die Lone Gunmen, hatten vor einigen Jahren ein geheimes Konto auf die Namen David und Gillian O’Donell angelegt. Auf dieses waren jahrelang größere Geldsummen gelaufen, auch etwas des Vermögens, das er von seinen Eltern geerbt hatte. Er schätzte, dass ihnen wohl mehrere Hunderttausend Dollar zur Verfügung standen. David war ein freiberuflicher Autor, der hin und wieder eine Kolumne veröffentlichte, Gillian hatte Medizin studiert, sich dann aber gegen eine Karriere und für eine Ehe entschlossen und half ihrem Mann beim Schreiben. Ein perfektes amerikanisches Durchschnittspaar, das pünktlich ihre Miete, die Versicherung und ihre Rechnungen bezahlten, mit einem einzigen Makel - sie waren durch modernste Technologie geschaffen und nicht real. Bis jetzt. Nur brauchten sie erst die dazugehörigen Papiere.

Eine merkwürdige Befangenheit nahm von ihm Besitz, rückte sich immer mehr in den Vordergrund seines Denkens. Die Männer, die dies erst ermöglicht hatten, die ihn schon in unzähligen Situationen aus der Klemme geholfen hatten und die immer beteuertet hatten, dass er einmal dankbar für diese Vorherkehrungen sein würde, würden nicht mehr wissen, dass sie recht behalten sollten. Auch würde er sich nie mehr bei ihnen für ihre nicht selbstverständliche Loyalität bedanken können, auch nicht dafür, dass sie in seiner Abwesenheit auf Scully geachtet hatten, auch wenn sie ihn für den bloßen Gedanken daran wohl erschießen würde. Tiefsitzende Beklommenheit griff nach seinem Herzen. Betroffen senkte er den Blick, ein „Danke, Jungs, für alles!“ auf den Lippen.

Er wusste, dass er nicht viel Zeit für Sentimentalitäten hatte, seine Verfolger saßen zu dicht hinter seinem Nacken. Sorgfältig schob er den größten Teil des Geldes in das innere Fach der Seitentasche und machte sich auf den Weg eine außerhalb des Motels gelegene Telefonzelle aufzusuchen. Das Telefon in Motel zu benutzen, war ihm zu riskant. Nach knapp fünfzehn Minuten strammen Fußmarsches, hatte er sein Ziel erreicht. Nervös blickte er sich um, Ausschau nach etwaigen Verfolgern haltend. Schnell flogen seine Finger über die Tasten, die Nummer der ehemaligen Resistenz der Lone Gunmen tippend. Nur kurz musste Mulder warten bis sich die verschlafene Stimme Jimmys meldete.
„Ja?“
„Jimmy? Mulder hier. Wir brauchen die Papiere, wie schnell kannst du sie beschaffen?“, fragte der Ex-Agent aufgebracht.
„Mr. Mulder. Geben Sie mir ihre Nummer durch und ich rufe Sie in circa fünf Minuten zurück“, erklang stattdessen Yves seidenweiche Stimme. Hastig gab Mulder die am Telefon angebrachte Nummer durch und legte ohne weitere Worte den Hörer zurück auf die Gabel. Abermals suchten seine Augen die Umgebung ab. Nichts, er war alleine. Keine parkenden Autos, keine Passanten. Einfach gar nichts. Nervös trommelte er mit den Fingern gegen die Fensterscheibe. Wie lange konnten fünf Minuten schon sein?

Das schrille Klingeln direkt neben seinem Ohr ließ den Verfolgten erschrocken zusammenfahren. Adrenalin jagte durch seine Nervenbahnen, beschleunigte seinen Herzschlag. Tief durchatmend versuchte Mulder sich zu sammeln, bevor er mit einer nicht ganz ruhigen Hand nach den Hörer griff.
„Ja.“ Er bemühte sich gleichgültig, sogar gelassen zu klingen. Doch ließ sich ein besorgter Unterton nicht leugnen.
„Die Leitung ist nur für etwa drei Minuten sicher.“ Wieder Yves, mit einer unglaublichen Gelassenheit in der Stimme.
„Wir brauchen mindestens 24 Stunden um den Transfer sicher und spurlos zu veranlassen. Genau 2300 km von eurem Standort aus entfernt, liegt Portwayn, Idaho, eine Kleinstadt, nicht mehr als 7.000 Seelen. Dort wird in zwei Tagen ein Päckchen im Schließfach 211 gelagert werden. Für David O’Donell. Den Schlüssel werdet ihr von Iris, einer Bedienung in Eddies Diner ausgehändigt bekommen. Das Codewort lautet: „Jupiter“. Ihr werdet dann alles Notwendige im Schließfach finden. Meidet Kleinstädte um Geld abzuheben. Zu auffällig. Wie habt ihr euer Aussehen verändert? Ich muss die Bilder manipulieren.“ All diese Informationen prallten auf den Ex-Agenten nieder, doch hatte er nicht lange Zeit das Gesagte auf sich einwirken zu lassen. Die drei Minuten würden nicht ewig dauern.
So genau wie möglich beschrieb Mulder der jungen Frau die Veränderungen, die er und Scully auf sich nehmen mussten, um unauffälliger zu werden. Am anderen Ende der Leitung vernahm er gemurmelte Bestätigungen und das schnelle Tippen auf einer Tastatur. Dann wiederholte er alle relevanten Daten:
„Portwayn, Schließfach 211, Eddies Diner, Iris, Jupiter.“ Wichtige Fakten, nein, sie waren lebenswichtig. Yves bestätigte seine Angaben einsilbig.
„Passt auf euch auf. Wenn ihr etwas benötigt, lasst es mich wissen.“
„Danke!“ Dann wurde die Leitung unterbrochen und das dumpfe Freizeichen drang an Mulder Ohr. Erleichtert legte er den Hörer auf. Er hoffte nur, dass alles funktionieren würde, Dana und er sicher und unbemerkt ihren Weg fortsetzen konnten.
Weiterhin nach Verfolgern Ausschau haltend, eilte der bärtige Mann mit weit ausfallenden Schritten zurück zum Motel.

Der Anblick dieses ließ Mulder in eiskalten Schweiß ausbrechen. Der sauberpolierte Wagen des Sheriffs stand quer auf dem Bürgersteig direkt neben dem Eingangsbereich geparkt. Das kontinuierlich und hektisch blinkende Warnlicht trieb den Mann zur Eile an, ließ ein beinahe panisches Angstgefühl in ihm aufkeimen. Ein einziger Gedanke beherrschte seinen Geist: Scully! Besorgt ging der Ex-Agent in einen gehetzten Sprint über, steuerte die rechte Seite des Gebäudes an, wo die Tür zu Raum 15 lag. Noch während er lief, fischte Mulder den Schlüssel aus der Jackentasche. Keine acht Stunden waren verstrichen, seit sie ihre letzten Verfolger, eine Autobahnstreife, in einer wagehalsigen und gefährlichen Jagd quer durch die Wüste abgehängt hatten. In den fünf Tagen, seit denen er mit Scully auf der Flucht war, hatten die Beiden keinerlei Verschnaufpause gehabt. Obwohl sie ihre Spuren gewissenhaft und umsichtig verwischt hatten, so schien es als wären ihre Verfolger ihnen immer einen Schritt voraus. Egal wie vorsichtig sie auch waren, ihre Feinde vermochten es, sie einem Bluthund gleich aufzuspüren, was die Nerven der Ex-Agenten nahezu blank legten und Mulders natürliche Paranoia ins Unermessliche steigerte. Mittlerweile erwartete Mulder förmlich, dass hinter jeder Ecke ein Häscher lauerte. Nicht nur die schwarz tragenden Regierungsbeamten, auch lokale Gesetzeshüter waren hinter ihnen her. Auffällig war nur, dass die Presse keinerlei Verlautbarung über ihre Fahndung geäußert hatte. Aber woher zum Teufel wussten ihre Jäger ohne Hilfe der Öffentlichkeit von ihren jeweiligen Aufenthaltsorten? Innerlich könnte Mulder sich treten, mit seiner überhasteten und zugegebenermaßen kopflosen Flucht aus dem Supermarkt hatte er die Aufmerksamkeit des gesetzten Sheriffs nahezu auf sich gezogen.

Mit fliegenden Fingern öffnete er die Türe, stürmte, sich ein letztes Mal hinter sich umblickend, in den kleinen, aber sauberen Raum. Von Dana war weit und breit keine Spur. Angst verschnürte seine Kehle, ließ ihn mühsam nach Luft schnappen. Dann jedoch öffnete sich die Badezimmertüre. Erleichterung durchzuckte Fox Mulder wie einen Blitzschlag.
„Wir müssen sofort hier weg. Der Sheriff ist im Haupteingang!“ Sofort verhing ein Schleier von Besorgnis die azurblauen Augen seiner Begleiterin. Sie beide waren erschöpft und ausgelaugt, die Strapazen der letzten Tage waren nur zu deutlich sichtbar. Zudem war Mulder nach seinem Gefängnisaufenthalt noch sehr geschwächt.
„Kann das nicht ein Zufall sein?“, startete Dana den verzweifelten Versuch, Fox, aber auch sich selbst zu beruhigen. Ihre Haare waren auf ihrem Kopf aufgetürmt, eine dickliche und dunkle Farbpaste darauf aufgetragen.
„Nein, er hat mich vorhin schon im Supermarkt gesehen“, gestand Mulder mit leiser Stimme. Ungläubig starrte Scully ihn an.
„Und du verschweigst mir das?“

„Ich wollte dich nicht beunruhigen?“ Selbst Fox merkte wie unsicher und fragend seine Stimme klang. Scully, die erkannte, dass dies nicht die geeignete Zeit für ein weiteres Streitgespräch war, sammelte ihre Kleidungstücke zusammen und eilte zurück ins Badezimmer. Sekunden später hörte Mulder, wie das Wasser der Dusche zu laufen begann. Keine fünf Minuten brauchte Scully, bevor sie wieder angezogen und mit nassen und ungewohnt dunklen Haaren zurück ins Zimmer trat, ihren Kulturbeutel in den Händen. Die Bluejeans und der graue Sweater verliehen ihr ein mädchenhaftes Aussehen, dieses Erscheinungsbild konnte nicht unterschiedlicher zu dem einer kostümtragenden FBI-Agentin sein. Und doch hatte Mulder das Gefühl, Dana nie schöner und natürlicher gesehen zu haben. Die Erinnerung an ihre missliche Lage riss ihn zurück in die Realität und schnell stopfte er die wenigen, auf dem Nachttisch verteilten Gegenstände in seine Jackentasche. Froh darüber, die Einkäufe zuvor bereits in die Tasche gepackt zu haben, ergriff Mulder diese lediglich, erlaubte sich nicht einmal die Zeit einen prüfenden Blick durch den Raum schweifen zu lassen.

Hastig ergriff er die Hand seiner Freundin und gemeinsam liefen sie zu dem im Hinterhof abgestellten Landrover. Dies war bereits ihr drittes Auto, doch beide ahnten, dass sie in Kürze abermals ein neues Fahrzeug benötigen würden. Just als beide die Autotüren zuschlugen, erkannte Mulder den auf sie zueilenden Sheriff, der unbeholfen und hilflos wirkend nach seiner Waffe im Schulterholster fischte. Keine Sekunde verlieren wollend, startete Mulder den Wagen und raste mit Vollgas und quietschenden Reifen dem nahe liegenden Highway entgegen. Scully, unsanft gegen die Tür gepresst, warf einen besorgten Blick auf die Geschehnisse hinter ihnen. Der dickliche Mann hatte gerade seinen Wagen erreicht und gab aufgeregt Informationen durch sein Funkgerät.
„Er schein uns nicht zu folgen“, teilte sie Mulder mit einem unsicheren Tonfall mit.
„Wahrscheinlich hat er in diesem friedlichen Städtchen höchstens eine Schlägerei schlichten müssen und verständigt gerade die Kavallerie. Wir müssen sehen, dass wir den Highway so schnell wie möglich wieder verlassen. Ich schlage vor, wir halten uns vorerst östlich.“ Dana konnte nur noch erschöpft nicken. Dann herrschte Schweigen, das nur vom monotonen und gleichmäßigen Brummen des Motors unterspielt wurde.

Scully wusste, dass sie so nicht lange durchhalten würden. Sie hatte geahnt wie strapazierend, kräftezehrend und ermüdend eine Flucht vor der Regierung sein würde. Sie hatte sich nie die falsche Illusion gemacht, ein wild-romantisches Abenteuer, dessen Ende schnulzig wie in einem Kitschroman sein würde, erleben zu können. Zu realistisch war ihre Sicht der Welt. Sie kannte die menschlichen Abgründe, wusste wozu diese Spezies fähig war und hatte es in all den Jahren als FBI-Agentin zu oft am eigenen Leibe erfahren müssen. Dana Scully war keine Frau, die sich Illusionen hingab, sie bevorzugte den Realismus. Doch jetzt musste sie erkennen wie sich ein Gefühl, das am ehesten der Bezeichnung Pessimismus nahe kam, in ihr breit machte. Und obwohl sie diese Emotionen sofort wieder aus ihrem Bewusstsein verbannen wollte, so gewannen sie doch immer mehr die Oberhand. Sie ertappte sich immer häufiger dabei sich das scheinbar unausweichliche vorzustellen. Ihre Gefangennahme. Doch sich die daraus entstehenden Folgen auszumalen, so kühn vermochte sie nicht zu sein.
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