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Der Sprung

von Brandon D Ray

Kapitel 1

"Kommen Sie, Mulder, lassen Sie uns zum Hotel zurücklaufen."

"Laufen?"

Fox Mulder rannte hinter seiner Partnerin her, als sie zielstrebig in Richtung Ausgang des Veterans` Hospital schritt. Sie hatten die meiste Zeit der drei letzten Tage in diesem Gebäude verbracht, Berichte über einen scheinbaren offensichtlichen Spuk untersuchend, nur damit sich die ganze Sache als eine Lüge erwies, als herauskam, daß die `mysteriösen Stimmen´ nur zwei Angestellte waren, die eine geheime Liebesaffäre fortführten. Das ganze hatte Mulder mehr als nur ein bißchen frustriert, da er sich eingestehen mußte, daß sich eine seiner Theorien als falsch erwiesen hatte. Und noch dazu war es jetzt nach Mitternacht und er wollte sich nur noch irgendwo hinlegen und schlafen...

"Ja, laufen," sagte sie, als sie nur kurz langsamer wurde, um die automatischen Türen aus ihrem Weg gleiten zu lassen. "Wir hatten nicht annähernd genug Training diese Woche."

"Aber wie wäre es mit einem Mietwagen?"

"Der würde erst morgens hier sein und wir könnten zurücklaufen, um ihn zu nehmen. Die Übung.."

"..wird gut für uns sein."

Er seufzte und keuchte leicht, als sie heraustraten und ihnen der kalte Wind entgegenschlug. "Scully," sagte er," es ist kalt hier draußen."

"Es sind fast zehn Grad," antwortete sie und führte sie durch den Parkplatz und auf die Straße zu. "Und das ist Iowa und es ist Januar. Das bedeutet, daß es ganz leicht auch zehn Grad UNTER Null sein könnten. Wenn man das von dieser Perspektive sieht, ist das hier ausdrücklich mild."

"Da ist etwas falsch an dieser Logik, aber ich bin zu müde, um das rauszufinden," beklagte er sich. Er stieß fast gegen sie, als sie plötzlich am Ende der Auffahrt stoppte. Er trat ein oder zwei Schritte zurück und beobachtete, als sie erst zu dem einen Weg und dann zu dem anderen blickte. Es schien so, als ob sie nicht sicher war, welchen Weg sie gehen sollten und schließlich sagte er: "Links. Zum Hotel geht es nach links."

Sie drehte sich und sahihn über ihre Schulter hinweg an und zog eine Augenbraue hoch:

"Danke Mulder.... Ich war nicht sicher, welcher Weg der richtige ist, aber nun bin ich es."

Und sie drehte sich entschlossen nach rechts und wieder mußte er sich beeilen, um mit ihr Schritt zu halten.

"Scully," sagte er und versuchte krampfhaft, nicht so zu klingen, als ob er jammerte," Scully, wir gehen in die falsche Richtung."

"Nein, das tun wir nicht," antwortete sie über ihre Schultern," das Hotel liegt in dieser Richtung." Sie blickte zurück und zeigte es ihm, "Sehen Sie? Da ist schon der Fluß."

Mulder spähte nach vor in die durch die Dunkelheit und sah, daß sie richtig lag. Er seufzte und rannte ein paar Schritte, holte sie schließlich ein und hielt mit ihr ihren Schritt, als sie zu einer Kurve auf der Straße, die sie gingen, gelangten. Die Brücke über dem Fluß war ein paar hundert Yards vor ihnen und er fühlte sich dadurch wohler, weil das bedeutete, daß es nur noch acht oder zehn Blöcke bis zum Hotel waren.

Die zwei beiden Freunde liefen einige Minuten schweigend durch die Dunkelheit, während Mulder versuchte herauszubekommen, was mit seiner Partnerin los war. Sie verhielt sich jetzt schon einige Wochen merkwürdig und er hätte sein Leben dafür gegeben, um zu erfahren wissen, was in ihrem Kopf vorging. Es erinnerte ihn irgendwie daran, wie sie sich bei dem Fiasko in Philadelphia vor zwei Jahren verhalten hatte -- dort war das gleiche Gefühl von Wildheit und ein Fehlen der Kontrolle gewesen -- aber im selben Augenblick war es anders. Es war fast so, als ob sie sich ihm zu und nicht abwenden würde.

Er brach diesen Gedanken standhaft ab. Er hatte schon lange Zeit zuvor aufgehört, über diese besonders extreme Möglichkeit nachzudenken. Er wußte, daß er in Dana Scully verliebt war; er wußte es schon sehr lange. Jahre. Aber er hatte ihr reichlich Gelegenheit gegeben, um zu zeigen, ob sie diese Gefühle teilte oder nicht - eingeschlossen einer flachen Erklärung seiner Lieben, als er letzten Herbst in dem Krankenhausbett gelegen hatte - und sie hatte beschlossen, diese Sache nicht weiter zu verfolgen. So sei es. Er konnte sich mit ihrer Freundschaft zufrieden geben. Das alleine war schon ein unbezahlbares Geschenk.

Die Straße, die sie entlang gingen, machte eine Kurve und verlief nun parallel zu dem Fluß. Es gab sehr wenig Verkehr und überhaupt keine anderen Fußgänger und man konnte leicht glauben, daß niemand anderes in der ganzen Stadt wach war. Mulder hatte dieses Gefühl immer gemocht - das stille und einsame Gefühl, daß in der Nacht über eine Stadt fiel. Es war einer der großen Gründe, warum er so eine Nachteule wurde - weil es einer der effektivsten Wege war, die er hatte, um aus der manchmal erstickenden Bürde des Zusammenlebens mit seinen menschlichen Lebensgenossen zu flüchten.

Außer mit Scully, natürlich. Sie war keine Bürde für ihn.

Nach einer Weile kamen sie zu der Burlington Street Bridge und als seine Partnerin sich nach links wandte und sie auf die Brücke über den Fluß führte, folgte Mulder ihr schweigsam.

Er war so in seinen Gedanken verloren, daß er einen Moment gar nicht bemerkte das sie nicht mehr an seiner Seite lief.

Er hielt an und drehte sich um und blickte den Weg, von dem sie gekommen waren entlang. Er war gerade auf der Hälfte von der Brücke und sie war ungefähr zehn Yards hinter ihm, lehnte sich an die Brüstung und sah hinaus auf das Wasser.

Mulder stand da und sah sie einen Augenblick an und vielleicht zum tausendsten Mal in ihrer Zusammenarbeit, war er in seiner Bewunderung für sie verloren.

Sie war so stark und selbstsicher und so intelligent. Das war wahrscheinlich die Sache, die ihn als erstes zu ihr gezogen hatte , dachte er - ihre kompromißlos betriebene Intelligenz und ihre Erklärung zur Wahrheit. Nicht daß sie keine anderen unbestreitbaren Qualitäten hätte...

"Kommen Sie, sehen Sie mit mir auf das Wasser," rief sie ihm zu und riß ihn damit aus seinen Gedanken. Als er merkte, daß er nur so da gestanden war und sie anstarrte, beeilte er sich damit, sich zu ihr an die Brüstung zu gesellen und sah hinaus zu dem Fluß.

Es war wirklich schön heute nacht, das mußte er zugeben. Mulder war nicht jemand der übertrieben von den *Wundern der Natur* schwärmte und in seinen selbstkritischen Momente mußte er, zumindest zu sich selbst, zugeben, daß das seiner Egozentrik zu verdanken war. Aber dieses Bild von dem Wasser, daß sich um seine Sandbänken schlängelte, gegen sie rauschte und unter der Brücke unter ihren Füßen verschwand, schien dunkel und mysteriös und noch mehr, ein wenig aufregend, und für einige Minuten lehnte er sich nur neben seiner Partnerin gegen die Brüstung und schaute hinaus auf das Wasser.

"Ich habe immer das fließende Wasser geliebt," sagte Scully schließlich, ihre Stimme war sanft und träumerisch. "Es schien immer etwas besonderes zu sein, magisch. Man weiß nicht, wo es gewesen ist und man weiß nicht, wohin es geht.

Alles was man kennt, sind die paar kurzen Sekunden, die es benötigte, um an dir vorüber zu fließen und dann ist es verschwunden."

Sie stoppte für einen Moment und Mulder warf ihr einen kurzen Blick zu. Sie sah immer noch über das Wasser hinaus, ihr Gesicht sanft und offen. Ihre Augen schienen Dinge zu entdecken, die niemand sonst sehen konnte und aus irgendeinem Grund fühlte er, wie sich sein Puls bei dieser Entdeckung beschleunigte.

Sie begann wieder zu reden. "Aber wir sind wirklich auf der falschen Seite der Brücke, wissen Sie das?" Sie drehte sich langsam zu ihm und blickte ihn an und drehte sich wieder zum Wasser. "Wir sollten nicht Fluß aufwärts schauen; Fluß aufwärts schauen bedeutet in die Vergangenheit zu schauen und auch wenn das interessant und manchmal nötig sein kann, ist es nicht das womit die Menschen den Großteil ihrer Zeit verbringen sollten."

Plötzlich drehte sie sich weg und schritt schnell über die sechsspurige Straße auf der Brücke. Mulder fühlte seine Augenbrauen hochschnellen und drehte sich um und folgte ihr, sah schnell in beide Richtungen um sicherzugehen das niemand kam.

Er holte sie ein als sie gerade den Bürgersteig der anderen Seite erreichte und im nächsten Augenblick lehnten sie sich wieder über die Brüstung auf dieser Seite und schauten hinaus aufs Wasser.

"Hier gehören wir wirklich hin," sagte Scully, als Mulder versuchte wieder zu Atem zu kommen, "Das ist der Weg, zu dem wir sehen sollten. Fluß abwärts. Immer Fluß abwärts.

Fluß abwärts sehen bedeutet, daß man in die Zukunft sieht." Sie stoppte für einen Moment, hob dann ihren Arm und zeigte. "Sehen Sie? Das Wasser fließt unter der Brücke heraus. Wir wissen nicht, wo es gewesen ist und wie es hierher gekommen ist, aber das ist auch nicht wirklich wichtig. Es fließt dort heraus unter der Brücke und dann fließt es über Damm und zu den Pflanzen und danach gibt es eine Biegung in dem Fluß und wir wissen nicht mehr, wohin er fließt, aber in unserer Vorstellung wissen wir es schon."

Sie drehte sich um und blickte ihn fragend an; es schien als wollte sie ihn fragen, ob er ihr folgen konnte. Mulder nickte langsam; er war zu fasziniert davon, diese unerwartete Seite von Dana Scully zu entdecken, als daß er sie bitten würde, aufzuhören und einen Moment später nickte sie zurück und drehte sich, um wieder über das Wasser zu blicken.

"Das Wasser fließt am Kraftwerk vorbei," wiederholte sie. "Und dann verschwindet es aus unserem Blickfeld. Aber das heißt nicht, daß es nicht mehr existiert. Das Wasser ist immer noch da draußen, wechselt immer noch den Ort. Und nach einer Weile mündet der Fluß in einen großen Fluß und vielleicht mündet dieser Fluß in einen noch größeren Fluß. Und schließlich findet das Wasser seinen Weg zum Meer."

Mulder nickte wieder langsam, obwohl er wußte, daß sie ihn gar nicht ansah. Das Meer war immer ein mächtiges Symbol für sie gewesen, er wußte das gut. Zumindest zum Teil, weil es in ihrer Vorstellung für ihren Vater stand, aber nun hatte er den Verdacht, daß noch mehr dahintersteckte. Er wußte nicht genau, was das Meer für sie bedeutete, aber er wußte, daß es etwas wichtiges war. Etwas lebendiges.

"Sind Sie jemals in Versuchung geraten, zu springen?"

Über den scheinbar plötzlichen Themenwechsel überrascht, drehte er sich um und blickte sie an. Sie hatte sich vom Wasser abgewandt und sah ihn nun aufmerksam an, sie untersuchte sein Gesicht, suchte...nach etwas.

"Springen?" fragte er. "Wohin springen?"

Sie sah ihn weiter an, sah in der Dunkelheit auf in seine Augen und er fühlte plötzlich einen Schauer über seinen Rücken laufen. "In das Wasser zu springen," antwortete sie schließlich. "Über die Brüstung und in das Wasser. Wenn Sie über eine Brücke laufen oder an der Railing eines Schiffes stehen, sind Sie noch nie in die Versuchung geraten, einfach rüber zu klettern und zu springen?"

Er dachte darüber einen Moment lang nach. Er war plötzlich nicht mehr sicher, ob er die Richtung mochte, in die diese Unterhaltung führte, aber er hatte schon vor langer Zeit aufgegeben, sie anzulügen.

Schließlich sagte er, "Natürlich bin ich das. Das ist ein natürlicher Drang. Ich bekomme dasselbe Gefühl, wenn ich auf der Aussichtsplattform von einem hohen Gebäude stehe.

Es kann ein sehr verführerisches Gefühl sein, einfach so loszulassen. Aber ich mache das nicht."

Sie nickte nachdenklich und schaute einen weiteren Moment auf sein Gesicht, bevor sie sich umdrehte, um wieder auf das Wasser zu schauen. "Manchmal sehr, sehr verführerisch." Da war eine Spur von Amüsement in ihrer Stimme und Mulder war überhaupt nicht sicher, ob er das mochte. Sie verhielt sich wirklich seltsam an diesem Abend; sie sagte etwas sehr fremdes, unScullyartige Sachen und sie begann, ihm Angst zu machen.

Er räusperte sich. "Scully? Sollten wir nicht zum Hotel zurückgehen? Es ist schon fast morgen." Sie schien ihn nicht zu hören und nach einer Minute sagte er: "Scully?"

"Wenn Sie springen, verlieren man die Kontrolle," sagte sie. "Du verlierst absolut die Kontrolle.

Die Gravitation übernimmt dich und ein paar Sekunden später fällst man du ins Wasser und für einen Moment lang könnte denkst du, daß du ganz bis zum Grund sinken und ertrinken könntest. Aber dann hebt einen dich das Wasser wieder hoch und unterstützt dich, trägt dich weg. Aber du hast immer noch keine Kontrolle.

Du mußt dort hin, wohin auch immer das Wasser dich hinbringt. Über den Damm und über die Pflanzen und weiter und weiter und weiter, durch Städte und Dörfer, in einen größeren Fluß und schließlich den ganzen Weg zum Meer."

"Scully?" Das begann ihn wirklich zu beunruhigen. Er wünschte, sie würde aufhören; er wünschte sie würde aus dem Zustand erwachen, in welchem auch immer sie war. Er konnte sich nicht erinnern, sie jemals so gesehen zu haben und er mochte es nicht.

"Man würde eine Weile in den Wellen treiben," redete sie weiter, sanft, träumerisch. "Man würde diesen Weg entlang gebracht werden, mit den Strudeln und Strömen zum Ufer. Man könnte vielleicht an den Strand geschwemmt werden und das würde zu schlimm sein. Aber wenn man Glück hat.. wenn man Glück hat, driftet man schließlich außer Sicht des Landes und würde in der Weite des Meeres verloren gehen."

"Scully," sagte er und unterdrückte vorsichtig die Nervosität aus seiner Stimme. "Scully, bitte hören Sie auf. Sie beginnen, mir ein wenig Angst zu machen."

Sie war für einen Moment lang still, ihr Gesichtsausdruck war undeutbar.Schließlich sagte sie, "Sie sollten Angst haben, Mulder. Ich habe einige sehr gefährliche Gedanken heute nacht und es ist nur natürlich, daß Sie Angst haben sollten."

Sie drehte sich wieder zu ihm um und ihre Stimme wurde noch sanfter und Mulder die Ohren spitzen, um sie zu hören. "Wenn ich mich entschließe, etwas Gefährliches zu machen, Mulder, würden Sie es mich tun lassen? Wenn ich mich entschließe zu springen, genau jetzt, würden Sie versuchen, mich aufzuhalten? Oder würden Sie mich gehen lassen?"

"Ich...ich schätze das kommt auf die Umstände an." sagte er. "Ich lege Wert auf Ihren Freundschaft, wissen Sie. Ich würde es hassen, sie zu verlieren."

Er dachte einen Moment lang darüber nach und versuchte, die Furcht, die er anhand der Richtung die diese Unterhaltung nahm, empfand davon abzuhalten ihn zu überwältigen.

"Ich nehme an, wenn Sie sicher wären, was Sie da tun, müßte ich Sie loslassen."

Sie schaute ihn weiterhin an und ungebeten kam plötzlich ein anderer Gedanken und bevor er die Chance hatte, noch einmal darüber nachzudenken, fügte er hinzu, "Vielleicht würde ich sogar mit Ihnen springen."

Sie schaute ihn immer noch an und schien wieder sein Gesicht zu suchen. Schließlich nickte sie langsam. "Das ist eine gute Antwort, Mulder. Das ist eine sehr gute Antwort." Und sie drehte sich um sah wieder auf das Wasser.

Nach einer weiteren Minute der Stille sprach sie weiter. "Wir können die Richtung des Flusses ändern, wissen Sie." Ihre Stimme hielt nun einen meditativen Ton an. "Offensichtlich können wir die Richtung des Flusses ändern." Sie zeigte Fluß abwärts. "Da ist der Damm, in diesem Moment - aber das ist eine große Veränderung, für jeden offensichtlich. Die anderen Veränderung sind weniger offensichtlich."

Sie hockte sich plötzlich hinab und tastete über die Straße und stand schließlich wieder auf und hielt eine Hand heraus, um ihn zu zeigte, daß sie einen kleinen Stein gefunden hat, bevor sich umdrehte und ihn hinaus in den Fluß warf.

"Sehen Sie?" sagte sie. "Ich habe gerade die Richtung des Flusses verändert. Nun wird der Stein zum Grund herabsinken und das Wasser wird um ihn herumfließen müssen anstatt durch den Raum, den er nun einnimmt. Das wird Strudel verursachen und Seitenströme und sehr lange davor wird der ganze Fluß verändert sein, anders. Man wird nicht imstande sein, es zu erkennen; niemand wird jemals den Unterschied in dem Fluß sehen können. Aber der Fluß wird trotzdem verändert sein und alles wegen eines Steins, denn ich beschlossen habe, ins Wasser zu werfen."

Mulder nickte. "Chaostheorie," sagte er.

Scully nickte genauso und blickte immer noch hinaus zu dem rauschenden Wasser. "Das stimmt. Ein Schmetterling, der in Peking mit den Flügeln schlägt, kann ein Gewitter in New York verursachen und niemand wird jemals eine Verbindung herstellen können, weil es einfach zu viele Variablen gibt."

Sie wurde einen Moment ruhig und ihre Hände begannen, die Railing zu umfassen, gegen die sie sich beugten. Dann sagte sie, "Das ist eine der wundervollen Sachen daran, Mensch zu sein, nicht wahr? Daß wir bewußte Veränderungen in den Dingen um uns schaffen können. Das ist so ein schönes Geschenk und oft benutzen wir es so unwissend." Sie drehte ihren Kopf und sah ihn, bis er zustimmend nickte, an und dann drehte sie sich um, um wieder zum Wasser zu blicken. "Wir können bewußt Veränderungen schaffen," sagte sie. "Aber wir können nie alles Auswirkungen dieser Veränderungen einschätzen. Ich glaube, das ist der Grund, warum wir so viele schlechte Entscheidungen treffen; weil wir nicht wissen, was die Zukunft bereithält und das macht uns Angst. Aber Angst zu haben ist keine Entschuldigung dafür, schlechte Entscheidungen zu treffen, nicht wahr?"

Mulder schüttelte seinen Kopf und merkte dann, daß sie ihn nicht anschaute und deswegen die Geste nicht gesehen hat. "Nein," sagte er. "Nein, das ist es nicht." Er war erschreckt zu entdecken, daß seine Furcht, irgendwann in den letzen Minuten, verdampft ist und er nun mit einem Gefühl der Akzeptanz durchflutet war. Was auch immer hier gerade passierte, passierte eben und er würde bis zum absoluten Ende dieser Reise dabeisein. Ob es nun gut oder schlecht ist.

"Es gibt so viele Möglichkeiten in der Zukunft," sagte sie. "In den nächsten fünf Minuten kann alles passieren. Wirklich alles." Sie drehte wieder ihren Kopf und schaute ihn kurz an und blickte wieder weg, noch einmal zurück zu dem rauschenden Wasser. "Die wahrscheinlichste Möglichkeit ist natürlich, daß wir noch für ein paar Minuten reden und dann umdrehen, zum Ende der Brücke laufen und zurück auf den Berg zum Hotel. Und wir gehen in unser jeweiliges Zimmer und versuchen zu schlafen und am Morgen werden wir zum Flughafen fahren und zurück nach Washington fliegen. Das ist doch die wahrscheinlichste Zukunft für uns, meinen Sie nicht auch?"

"Ich nehme es an," sagte Mulder."

"Aber es gibt auch andere Möglichkeiten," redete sie weiter. "Vielleicht werden wir auf unserem Rückweg zum Hotel von einem betrunkenen Autofahrer angefahren und liegengelassen, um zu sterben. Und vielleicht werden wir rechtzeitig gefunden und zur Notaufnahme gefahren, wo die Ärzte und die Krankenschwestern versuchen werden, unsere Leben zu retten. Und vielleicht werden sie Erfolg haben. Oder vielleicht auch nicht."

"Ich nehme an, das ist auch möglich," stimmte er zu und hielt seine Stimme vorsichtig neutral. Sie begann, ihm wieder Angst zu machen, aber etwas sagte ihm, daß es das beste wäre, daß für diesen Moment für sich selbst zu behalten.

"Dann sind da noch andere Möglichkeiten," sagte sie und wendete sich vom Wasser ab, damit sie ihn ansehen konnte. Da war ein Hauch von Entgültigkeit in ihrer Bewegung und plötzlich bemerkte er, daß die Unterhaltung fast zu Ende war. "Die wirklich extremen Möglichkeiten. Wir könnten von einem Meteor getroffen werden. Oder wir könnten von den kleinen grauen Männchen von Reticula entführt werden. Oder wir könnten uns entschließen, einen weiten, weiten Weg in das Land zu gehen und nicht vor der Dämmerung zurückzukehren und dann beginnen sich die Möglichkeiten wirklich zu öffnen." Sie stoppte nur für einen Moment und ging einen Schritt näher zu ihm und sie reichte heraus und legte eine zärtliche Hand auf eine von seinen, wo sie auf der Railing lagen. "Oder wir könnten uns entschließen zu springen."

Mulder stand absolut still da, starrte auf sie herab und atmete kaum. Ihre Augen waren dunkel und undeutbar und ihr Gesichtsausdruck... ihr Gesichtsausdruck war unbeschreiblich. Er konnte nichts gegen sie tun, überhaupt nichts. Er schien zu schweben. Wartete.

Schließlich sagte er, sehr sanft. "Ja. Ja, wie könnten springen."

Sie nickte leicht in offensichtlicher Zustimmung. "Ich möchte springen, Mulder. Ich bin mein ganzes Leben auf Brücken entlangegangen und nun möchte ich springen. Aber ich möchte nicht allein sein. Werden Sie mit mir springen?" Und sie kam noch einen Schritt näher zu ihm, bis sich ihre Körper fast berührten.

"Ja, Scully, natürlich werde ich mit Ihnen springen. Sie wissen das."

Und dann nickte sie wieder langsam und nur für einen Augenblick schien die Luft zwischen ihnen wie von Elektrizität zu knistern. Und dann stellte sie sich auf ihre Zehenspitzen und küßte ihn und Mulder fühlte sich, als wäre er auf und davon gespült, fast als würden sie über die Railing fliegen und dann herunterfallen in das rauschende Wasser unter ihnen. Im nächste Moment würden sie auf dem Wasser aufkommen und hinunter zum Grund sinken, immer noch in einer Umarmung, und vielleicht würden sie niemals wieder hochkommen. Vielleicht würden sie ertrinken. Aber er war in ihren Armen, also konnte er sich darum nicht kümmern.

Nach einem zeitlosen Intervall lösten sich ihre Lippen voneinander und Mulder merkte, daß auch er seine Arme um sie geschlungen hatte und sie nun fest an sich hielt. Er schaute hinunter zu ihr und lächelte, und sie lächelte zu ihm zurück. "Siehst du?" sagte sie. "Das war nicht so schlimm."

"Ich habe nie gedacht, daß es das sein würde," antwortete er und dann löste er sich von ihr, nahm ihre Hand und sie drehten sich um und liefen über die Brücke und den Berg hoch zum Hotel. Und das Wasser gab ihnen beiden Auftrieb und trug sie über den Damm und über das Kraftwerk und weiter und weiter und weiter, durch die Städte und Dörfer, in einen größeren Fluß und dann weiter in einen noch größeren Fluß und schließlich den ganzen Weg zum Meer.


Ende
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