World of X

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Mistletoe and more

von Sonja K

Kapitel 2

23.12., 8.30 am

Als Mulder erwachte, hatte er erst Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Er lag halb auf dem Boden, und irgend etwas war in seinem Gesicht. Er versuchte sich zu erinnern, wo er war, und vor allem, was er gestern Nacht getan hatte. Seine Lider fühlten sich wie Blei an und weigerten sich, die Augen freizugeben. Er hatte keine Ahnung, was ihn geweckt hatte und warum er halb auf einer Matratze und halb auf dem Boden lag und war noch immer dabei, dieses Rätsel zu analysieren, als er ein lautes Kreischen hörte. Einen Moment war er versucht, seine Waffe unter dem Kissen hervorzuziehen, dann erkannte er, das sie nicht da war. Allmählich dämmerte ihm, wo er sich befand: In Maggie Scullys Haus, genauer gesagt, auf einer Matratze auf dem Boden von Dana Scullys Zimmer. Beim nächsten Kreischen wurde ihm auch klar, wer der Urheber der schrecklichen Laute war: Charlys Zwillingstöchter rannten an der Zimmertür vorbei, und dem Geräuschpegel nach zu urteilen, waren sie mitten in einer Verfolgungsjagd. Mulder brummte unwillig und zog sich das Kissen über den Kopf, um noch ein paar Minuten Ruhe zu haben, als ihm auffiel, dass er noch immer nicht wusste, was da direkt vor seiner Nase lag. Mühsam öffnete er ein Auge und blickte genau auf einen Zeh. Dana Scullys großen Zeh, um genau zu sein. Er kramte in seinem Gedächtnis nach dem Grund, warum er mit ihrem Fuß im Gesicht aufgewacht war, und ganz langsam kamen die Ereignisse der letzten Nacht zurück und brachten ihn zum Lächeln. Scully war ziemlich müde gewesen, hatte sich aber dennoch so sehr in sein Rätsel verbissen, dass sie partout nicht aufgeben wollte, und war schließlich darüber eingeschlafen, und zwar genau dort, wo sie gelegen hatte: Verkehrt herum auf seiner Matratze. Das erklärte den Fuß und die schweren Lider. Es musste mindestens 4.00 gewesen sein, als sie endlich eingeschlafen waren, und er war nicht einmal auf die Idee gekommen, Scully in ihr Bett zu tragen oder sich selbst dort schlafen zu legen. Wie immer war es ihm auch dieses Mal leicht gefallen, in ihrer Nähe Schlaf zu finden, was er bereits verschiedentlich bei langen Flügen und auf Überwachungen bemerkt hatte. Warum also woanders hingehen, wenn sie bereits schlief und sich nicht beschweren konnte? Wie auf Kommando bewegte sich der Fuß vor seinem Gesicht und machte unsanft Bekanntschaft mit seiner Nase. Mulder knurrte noch einmal und drehte sich weg, worauf der Fuß seinen Hinterkopf abzutasten begann. Offenbar brauchte Scully nicht halb so lange wie er, um sich zu orientieren, denn keine Minute später zog sie ihren Fuß zurück und erkundigte sich verschlafen: „Mulder, was tun Sie verkehrt herum in meinem Bett?“
„Guten Morgen, Sonnenschein. Das könnte ich Sie auch fragen, denn soweit ich mich erinnere, ist dies hier mein Bett.“
Er hörte ein verständnisloses Brummen, bevor sie den Wahrheitsgehalt seiner Aussage erkannte: „Hmmm, Sie haben recht. Mein Bett ist wohl da oben, oder? Was haben wir eigentlich gestern getrunken?“ Sie rieb sich den Kopf und vergrub das Gesicht in ihrem Kissen.
„Nichts außer purem Orangensaft. Es sei denn, Sie haben ihn mit irgendwas versetzt, ohne mir Bescheid zu sagen. Ich denke, wir leiden einfach an zu wenig Schlaf, was nicht zuletzt den beiden Sirenen da draußen zu verdanken ist.“
Ein weiteres Grummeln war die Antwort. „Ich hatte schon vergessen, warum ich Familientreffen nicht leiden kann. Die zwei könnten Tote aufwecken.“
Noch bevor Mulder etwas erwidern konnte, fiel ihr wieder ein, worüber sie gestern Nacht eingeschlafen war. „Was war eigentlich mit dem Mann? Ich meine, dem im Zug. Warum hat er sich erschossen?“
Mulder überlegte kurz, sie weiter raten zu lassen, aber in dem Moment klopfte Maggie Scully an die Tür und verkündete lautstark, dass es in einer halben Stunde Frühstück gäbe und sie sich bitte beeilen sollten. Scully bestätigte ihren mehr oder minder wachen Zustand und stand auf, wobei sie Mulder auffordernd ansah. „Also?“
„Ganz einfach, Scully. Der Mann war ein geheilter Blinder.“
Er konnte förmlich die Fragezeichen auf der Stirn seiner Partnerin sehen, also setzte er hinzu: „Denken Sie mal drüber nach.“, schnappte sich seine Sachen und verschwand im Badezimmer.


**********

Genau eine halbe Stunde später folgte Mulder seiner Partnerin die Treppe hinunter zum Esszimmer, wo schon einige weitere Scullys saßen und ungeduldig auf den Rest der Familie und den Gast warteten. Scully war inzwischen trotz ihrer noch immer gut erkennbaren Müdigkeit ein Licht aufgegangen, und sie hatte die Logik hinter Mulders Rätsel erfasst. Maggie kam gerade aus der Küche und sah ihnen entgegen, wobei ihr nicht der zerknitterte Ausdruck auf den Gesichtern der Beiden entging. Unglücklicherweise war Bill nicht weniger aufmerksam als seine Mutter, und ebenso wie sie dachte er, die Gründe für die sichtliche Erschöpfung seiner Schwester und ihres Partners zu kennen. Mit einem wütenden Schrei stürzte er sich auf Mulder und presste ihn gegen die Wand, noch bevor dieser reagieren konnte. Bills zornrotes Gesicht war nur Millimeter von Mulders entfernt, und er zischte drohend: „Ich weiß genau, warum du so müde bist, du Schweinehund! Und ich werde nicht zulassen, dass das noch einmal passiert. Lass gefälligst deine dreckigen Pfoten von meiner Schwester.“
Mit jedem Wort drückte er Mulder fester gegen die Tapete, wobei seine Hände den Kragen seines Opfers gepackt hielten und ihm somit die Luft zuschnürten. „Was hast du mit Dana gemacht? Womit hast du ihr gedroht, hä? Antworte gefälligst!“
Wahrscheinlich war es ein Glück, dass Bill Mulder den Hals zudrückte, denn die Antwort, die dieser gern gegeben hätte, wäre sicher nicht zu Bills Zufriedenheit ausgefallen. Gleichzeitig erwies sich die abgeschnittene Luftzufuhr allerdings auch als bedrohlich; Mulders Gesicht lief langsam dunkel an, und er begann hörbar zu keuchen. Glücklicherweise löste sich in diesem Moment Maggie aus ihrer Erstarrung. Sie baute sich vor ihrem ältesten Sohn auf und fuhr ihn an: „William Robert Scully! Lass auf der Stelle Fox los!“ Die schneidende Stimme seiner Mutter ließ Bill aufsehen. Ein einziger Blick in ihre Augen verriet ihm, dass er besser gehorchte. Widerwillig löste er seine Hände von Mulders Kragen, nicht ohne ihn noch einmal anzuzischen: „Wenn du meine Schwester noch einmal anfasst, wirst du es bitter bereuen.“ Damit stampfte er in Richtung Küche davon, dicht gefolgt von Maggie, die ihm ohne Zweifel eine Strafpredigt halten würde. Scully untersuchte inzwischen Mulders Hals und fragte besorgt: „Sind Sie in Ordnung?“
„Ich glaube schon.“ brachte er krächzend hervor. „Nur gut, dass ich keine Krawatte trage.“ Scully lächelte gequält. Wenn Mulder schon wieder Witze machen konnte, dann ging es ihm nicht so schlecht, wie sie zuerst befürchtet hatte. Trotzdem war ihr alles andere als behaglich zumute. Sie schämte sich für ihren Bruder und dafür, was er ihr und Mulder unterstellte, und hoffte bloß, dass Mulder nicht irgendeine dumme Bemerkung darüber machen würde. Zu ihrer Erleichterung schwieg er jedoch und nahm sie statt dessen sanft beim Arm, um sie ins Esszimmer zu den weniger gefährlichen Mitgliedern ihrer Familie zu führen.


**********

Nach dem Frühstück, zu dem Bill nicht erschienen war, schickte Maggie ihre Söhne los, um die letzten Einkäufe zu erledigen, und bat Tara, sie zu begleiten. Sie kannte ihre Männer und wollte jeglicher einkaufsbedingter Katastrophe von vornherein vorbeugen. Beth und Missy spielten mit den Kindern, während Mulder und Dana die Küche aufräumten. Sie waren so sehr damit beschäftigt, ein weiteres von Mulders seltsamen Rätseln durchzuspielen, dass sie Maggie erst bemerkten, als diese sie ansprach.
„Ihr zwei könnt mir nicht zufällig sagen, wer an den Keksen gewesen ist?“ erkundigte sie sich mit mildem Tadel, und Mulder bereitete sich innerlich auf eines der schmerzlichen Verhöre vor, die einer derartigen Frage in seiner Jugend unweigerlich gefolgt waren, nur um am Ende in Anschuldigungen und Strafen auszuarten. Er fühlte sich schuldig, denn er wusste, dass Scully nur ihm zuliebe die Kekse geholt hatte. Diese schien jedoch nicht im Geringsten beeindruckt zu sein, sondern sah ihrer Mutter direkt in die Augen und sagte einfach: „Ich hab letzte Nacht welche geholt, weil Mulder und ich ein kleines Picknick machen wollten. Kannst du dir vorstellen, dass er noch nie zuvor eine Pyjamaparty gemacht hat?“
Auf Maggies Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Dann wurde es ja allerhöchste Zeit für ihn. Das erklärt zumindest, warum ihr beide heute so müde seid. Allerdings muss ich sagen, Strafe muss sein: Ihr werdet mir wohl oder übel helfen müssen, neue Plätzchen zu backen, damit wir morgen welche haben, um sie für Santa hinzustellen. Die Kinder wären sehr enttäuscht, wenn das dieses Jahr ausfiele.“ Sie sah vom lächelnden Gesicht ihrer Tochter zu Mulders unbehaglicher Miene und legte ihm aufmunternd die Hand auf den Arm. „Keine Sorge, Fox, ich werde Ihnen nicht den Kopf abreißen. Ich weiß ja nicht, wie es bei Ihnen zu Hause war, aber zu Weihnachten gehört Naschen hier einfach dazu, und ich hätte sowieso noch nachbacken müssen. Also gucken Sie nicht so erschrocken, sondern helfen Sie Dana.“ Damit drückte sie ihrer Tochter eine Rührschüssel und Mulder das Backbuch in die Hand, auch wenn sie den Verdacht hatte, dass es umgekehrt wesentlich besser gewesen wäre, und verließ mit einem „Ich bin gleich zurück, fangt schon mal an.“ den Raum.
Eine halbe Stunde später ähnelte die Küche einem Schlachtfeld, aber aus dem Ofen duftete es verführerisch, da die erste Ladung Plätzchen bereits hineingeschoben worden war. Mulder musste gestehen, dass er nie erwartet hätte, so viel Spaß beim Backen zu haben. Maggie Scully scheuchte ihn und Dana zwar unablässig durch die Gegend mit dem Auftrag, dies oder jenes zu holen, in diversen Schüsseln Zutaten zu verrühren und die Finger vom Teig zu lassen, dennoch war die Atmosphäre heiter und entspannt. Entspannt genug, dass sich Maggie beruhigt entfernte, als Tara in den Raum kam und ihr mit einem heimlichen Zwinkern verkündete, es sei jemand für sie am Telefon. „Macht ihr schon mal alleine weiter, ich werde mich beeilen. Und wenn die Uhr am Ofen klingelt, nehmt unbedingt das Blech raus!“ wies sie an und verschwand, noch ehe jemand protestieren konnte. Mulder sah ihr nach und hob den Mixer aus der Schüssel, in der er eben noch gerührt hatte, vergaß nur leider, ihn auszustellen. Innerhalb von Sekunden zierten winzige Teigspritzer die gesamte Küche, und Scully stieß einen erschreckten Schrei aus. „Mulder! Machen Sie das Ding aus!“ rief sie und war im selben Moment bei ihm, um ihm den Mixer zu entreißen und abzustellen. Erst jetzt bemerkte Mulder, was er angerichtet hatte, und verzog das Gesicht zu einer entschuldigenden Grimasse. Dann sah er den Teig auf Scullys Nase, der sich bei ihrem Sprung nach dem Urheber des Desasters darauf plaziert hatte, und begann zu lachen. Seine Partnerin funkelte ihn an. „Was gibt’s da eigentlich zu lachen?“ wollte sie wissen. „Sie haben die ganze Küche eingesaut, und meine Mom wird alles andere als begeistert sein, wenn sie das sieht. Haben Sie denn noch nie einen Mixer in der Hand gehabt?“
„Hab ich nicht, und Sie sollten sich erstmal anschauen, bevor Sie behaupten, es gäbe nichts zu lachen.“ Damit hielt Mulder ihr eine Silberplatte vors Gesicht, auf der sie später die Kekse zum Auskühlen verteilen sollten, und deutete auf ihr Spiegelbild. Scully kniff die Augen zusammen, um ihr Bild erkennen zu können, und runzelte die Stirn. Nicht nur ihre Nase war mit Teig bedeckt, sondern nun auch ihr Haar, das Mulder ihr in einer wohl gutgemeinten Geste aus dem Gesicht gestrichen hatte, damit sie sich in dem improvisierten Spiegel besser sehen konnte. Unglücklicherweise war seine Hand ebenfalls voller Teig gewesen, der jetzt auf ihrem Kopf klebte. Nicht sicher, ob sie lachen oder ihn erwürgen sollte, drehte sich Scully zu ihrem Partner um. „Das ist wirklich nicht komisch. Ich hatte erst heute Morgen geduscht.“ beschwerte sie sich.
„Jetzt müssen Sie nochmal duschen. Soll ich Ihnen beim Haarewaschen helfen?“ brachte Mulder unter heftigem Lachen hervor.
„Ich werde gleich Ihnen helfen.“ knurrte Scully und griff nach dem ersten Gegenstand in ihrer Reichweite, um ihn nach Mulder zu werfen. Leider erwischte sie ausgerechnet die offene Tüte mit Zuckerperlen, die in Erwartung der zu dekorierenden Plätzchen bereits auf der Anrichte stand, und im nächsten Augenblick war ihr vollkommen überraschter Partner von oben bis unter mit bunten Zuckerkügelchen bedeckt, die sich in seinem Kragen, den Ärmeln und seinem zum Protest aufgerissenen Mund anzusammeln begannen. Sobald er wieder sprechen konnte, ohne die kleinen Perlen in alle Richtungen zu spucken, warf er Scully, die sich vor Lachen kaum aufrecht halten konnte, ein wütendes „Rache!“ entgegen und griff in die Mehldose, die zu allem Unglück genau neben ihm stand. Ehe sie sich versah, flog Scully eine Wolke aus Mehl entgegen, durch die sie nur noch schemenhaft ihren Angreifer erkennen konnte. Das hinderte sie jedoch nicht daran, nun ihrerseits mit Mehl zu werfen, welches auf dem Küchentisch ausgebreitet war, damit der Teig sich besser ausrollen ließ. Minutenlang flogen diverse Zutaten durch die Luft, und der Küchenboden ähnelte langsam aber sicher einer eigenwilligen Schneelandschaft aus Mehl und Zucker, dekoriert mit Mandeln, bunten Zuckerperlen und Rosinen. Zum Glück kam Maggie Scully herein, bevor einer der Kontrahenten die Schachtel mit Eiern zum Geschütz erklärte. Im ersten Moment konnte sie durch die weiß gestäubte Luft nicht das geringste erkennen, dann jedoch legte sich der Staub und gab den Blick auf zwei ziemlich betreten dreinblickende und passend zum Boden dekorierte Agenten frei, die rasch ihre jeweiligen „Waffen“ wieder auf die Arbeitsfläche neben sich fallen ließen. Maggie hob die Augenbraue in einer Weise, die keinen Zweifel daran ließ, von wem ihre Tochter diese spezielle Geste geerbt hatte.
„Ich will gar nicht wissen, wer angefangen hat.“ knurrte sie, den gemurmelten Entschuldigungen zuvorkommend, die sie bereits auf den Lippen von Fox und Dana ablesen konnte. „Missy, hol den Fotoapparat.“ rief sie über ihre Schulter, bevor sie sich wieder den weiß gepuderten Gestalten in ihrer Küche zuwandte. „Sobald sie euren Anblick für die Nachwelt festgehalten hat, werdet ihr das Schlachtfeld hier beseitigen und euch unter die Dusche stellen. Und dann will ich keinen von euch auch nur in der Nähe der Küche sehen, bis ich mit dem Backen fertig bin, ist das klar?“ Betretenes Nicken auf beiden Seiten. Melissa betrat mit der Kamera in der Hand die Küche und blieb wie erstarrt stehen. „Was ist denn hier passiert?“ keuchte sie, fing sich aber erstaunlich schnell wieder und begann, ihre Schwester und Mulder zu fotografieren, wobei sie darauf achtete, ein paar Großaufnahmen von seinem Gesicht zu machen, mit denen sie ihn gegebenenfalls irgendwann einmal erpressen konnte, sollte sich der Wunsch ihrer Mutter erfüllen und Mulder nach diesem Weihnachten zur Familie gehören. Dann zog sie sich eilig zurück, um Tara in den leuchtendsten Farben zu berichten, wie recht ihre Mutter gehabt hatte, als sie davon sprach, sie werde sich eine Weile zurückziehen, damit sich Dana und Mulder in der Küche „frei entfalten“ konnten. Missy bezweifelte, dass ihre Mutter diese Art von Entfaltung gemeint hatte...


**********

Knapp zwei Stunden später waren Küche und Agenten wiederhergestellt, und Maggie konnte mit dem Backen fortfahren. Sie war nicht wirklich wütend über das, was passiert war, sondern insgeheim beinahe froh, ihre jüngste Tochter und ihren besten Freund einmal so ausgelassen zu erleben, aber sie würde sich hüten, ihnen das zu sagen. Statt dessen befahl sie ihnen, nach draußen zu gehen und die Vogelhäuser nachzufüllen in der Hoffnung, eine weitere Schlacht mit Lebensmitteln wenigstens nach draußen verlagern zu können. Sollten sie sich doch im Garten mit Vogelfutter bewerfen, die Vögel würden es auch vom Boden fressen.
Noch immer ziemlich kleinlaut und von ihrem eigenen Verhalten überrascht, führte Scully Mulder in die Garage, um das Vogelfutter zu holen, bevor sie sich auf den Weg machte, es auf die verschiedenen Häuschen zu verteilen. Mulder folgte ihr wie ein neugieriger Hund und blickte interessiert über ihre Schulter, als sie die Tüte öffnete und anfing, den Inhalt auf den Boden des Häuschens zu streuen, das sie vor vielen Jahren zusammen mit ihrem Vater gebaut hatte. Ihr kurzer wehmütiger Gedanke wurde jäh unterbrochen, als Mulder eine Hand auf ihren Arm legte und ihr mit der anderen die Tüte aus der Hand nahm. Erstaunt sah sie zu ihm auf. „Was tun Sie da?“ wollte sie wissen. Mulders Antwort kam prompt: „Sie wollen doch nicht etwa die ganzen Sonnenblumenkerne an die Vögel verfüttern?“ Einen Moment war sie sprachlos, dann begann sie zu lachen, als ihr aufging, wie sehr sie seine Sucht unterschätzt hatte. „Mulder, es ist eine Tradition, dass wir im Winter die Vögel in unseren selbstgebauten Vogelhäuschen füttern, und zwar mit Sonnenblumenkernen.“
„Aber sie müssen doch nicht alle bekommen, oder?“ Sein Blick war der eines verlorenen Welpens, der mit großen Augen zu seinem Herrn aufsieht und an dessen Bein kratzt, um hochgenommen zu werden. Scully schüttelte nur den Kopf. Wie konnte ein so brillanter und intelligenter Mann wie ihr Partner sich nur so kindisch aufführen?
„Mulder, es ist nun einmal Tradition. Die Vögel finden nichts zu fressen, also müssen wir ihnen etwas geben, und da sie Sonnenblumenkerne lieben...“
„Ich liebe sie aber auch.“ kam die prompte Antwort.
„Sie werden sie aber nicht bekommen. Diese Kerne stehen den Vögeln zu, und sonst niemandem.“ Energisch griff Scully wieder nach der Tüte. Mulders Blick ließ sie innehalten. Sie seufzte innerlich und ließ eine Handvoll Kerne in seine offene Handfläche fallen. Warum konnte sie ihm bloß niemals etwas abschlagen? Wenn er sie mit diesem Hundeblick ansah, flog ihm ihr Herz zu und sie war absolut hilflos. Ohne ein weiteres Wort, aber mit einem heimlichen Lächeln auf den Lippen, ging sie durch den Garten und füllte die restlichen Vogelhäuschen, wobei Mulder glücklich an seinen erbettelten Kernen kauend hinter ihr her trottete.


**********


Das Mittagessen verlief erstaunlich friedlich, was teilweise auch daran liegen mochte, dass Bill, Charly und Tara noch nicht vom Einkaufen zurückgekommen waren. Scully nahm Matthew unter ihre Fittiche, da keiner seiner Eltern da war, um ihn zu füttern, und Mulder warf ihr immer wieder heimlich bewundernde Blicke zu. Sie konnte so gut mit Kindern umgehen; Mulder fragte sich, ob es chauvinistisch von ihm war, darüber erstaunt zu sein, aber er sah sie immer nur als starke, energische FBI- Agentin, die entweder Verdächtige einschüchterte oder bis zum Ellbogen in Leichen steckte, Rügen von Vorgesetzten stumm und mit stolz gerecktem Kinn über sich ergehen ließ und Akten las. Immer war sie so verdammt stark, dass er manchmal vergaß, ihre sanfte Seite zu sehen. Es waren Momente wie dieser, wenn sie einem kleinen Hund über den Kopf strich oder ihren Neffen mit einem Löffel fütterte und dabei selbst mehr Brei abbekam, als tatsächlich in seinem kleinen Mund landete, die Mulder klarmachten, dass sie nur ihm gegenüber Agentin war. Es gab Menschen, die diese andere Seite an ihr öfter zu sehen bekamen, und sie mussten nicht einmal einen Zusammenbruch erleiden oder im Krankenhaus landen, um sie zu sehen.
Melissa bemerkte Mulders versunkenen Blick und stupste ihm den Ellbogen in die Seite. „Neidisch?“ erkundigte sie sich flüsternd. „Ich könnte Sie auch füttern, auch wenn ich bezweifle, dass Sie auf meinen Schoß passen würden. Vielleicht eher umgekehrt...“
Was sollte er darauf antworten? Natürlich, Melissa war eine attraktive Frau, und sie hatte es ziemlich deutlich gemacht, dass sie ihn anziehend fand, aber Mulder würde auf keinen Fall auf ihre Annäherungen eingehen. Nicht zu Weihnachten, und nicht als Gast, und schon gar nicht vor den Augen seiner Partnerin. Aber gab es überhaupt eine höfliche Art, so deutliche Signale zurückzuweisen? Mulder beschloss, auf Nummer sicher zu gehen und so zu tun, als habe er nicht verstanden, was sie gesagt hatte, und wandte sich Maggie zu, die sich soeben erhob, um den Tisch abzuräumen.
„Kann ich Ihnen was helfen?“ erkundigte er sich, schon einige Teller zusammenstellend, um sie in die Küche zu tragen.
„Für meinen Geschmack haben Sie heute schon genug in der Küche geholfen, wie wär’s, wenn Sie und Dana die Kinder für eine Weile mit nach draußen nehmen? Ganz in der Nähe gibt es einen schönen Rodelberg, und in der Garage steht noch ein Schlitten.“
Damit nahm sie Mulder das Geschirr ab und flüsterte verschwörerisch: „Ich will die Mädchen aus dem Haus haben, bevor die anderen wiederkommen. Sie bringen sicher noch ein paar späte Geschenke mit, die eingepackt und versteckt werden müssen, und beim Aufstellen des Baumes sind sie auch nur im Weg.“ Sie machte sich auf den Weg in die Küche und sprach über ihre Schulter, um die anderen in ihren Plan einzuweihen: „Nora, Lauren, ihr könnt schon mal eure Schneeanzüge anziehen, Fox und Dana werden mit euch und Matty zum Rodeln gehen. Missy, Beth, wir können solange noch ein paar Vorbereitungen treffen.“ Alles nickte – Weihnachten war die Zeit, zu der jedem Befehl Maggies blind Folge geleistet wurde; sie war schließlich dafür verantwortlich, dass die Feiertage mit einer Menge Menschen unter einem Dach ein Erfolg wurden, wer hätte ihr da widersprechen sollen?
Scully wechselte Matthews Windeln, während Beth und Mulder die Zwillinge anzogen. Beth bemerkte seinen verzweifelten Blick auf die identischen Mädchen und beschloss Erbarmen zu haben.
„Nora hat eine grüne Mütze auf, Lauren eine blaue. Solange Sie das im Kopf behalten, kann gar nichts passieren. Und ihr,“ sie wandte sich an die Mädchen, „untersteht euch, die Mützen zu tauschen. Ihr wisst, Santa sieht alles.“
„Ja, Mom.“ kam es aus zwei Mündern gleichzeitig. Fünf Minuten später waren auch Dana und Matthew angezogen, letzterer konnte sich kaum mehr bewegen, so dick war er eingepackt, aber da er sowieso noch nicht ausreichend laufen konnte, um sich im hohen Schnee fortzubewegen, störte ihn das nicht allzu sehr. Dana packte ihn auf den Schlitten und setzte einen der Zwillinge hinter ihn, um ihn festzuhalten, Mulder nahm das Seil und zog an, während Dana die schmollende Nora bei der behandschuhten Hand nahm und ihr versicherte, dass sie dafür auf dem Rückweg gezogen werden würde, was ihre Laune erheblich besserte. So kamen sie schließlich beim Rodelberg an, wo Mulder die nächste Stunde damit verbrachte, den Schlitten unzählige Male den Berg hinaufzuziehen und hinter den Zwillingen herzulaufen, die ihn jedesmal ungeduldig auf- und ab hüpfend unten erwarteten, damit der Aufstieg beginnen und sie von neuem abfahren konnten. Irgendwann konnte Scully die drei überzeugen, ihr und Matthew den Schlitten für ein paar Minuten zu überlassen, da der Kleine die ganze Zeit über neidisch hinter ihnen her geschaut hatte. Während sie und ihr Neffe gemeinsam von halber Höhe des Hügels abfuhren, beschäftigten die Zwillinge und etwa ein halbes Dutzend anderer Kinder Mulder, indem sie ihn in die höhere Kunst der Schneeballschlacht einweihten, bevor sie sich alle zusammentaten, um „den größten Schneemann der Welt“ zu bauen. Die Kinder waren so vertieft in ihr Spiel, dass sie die Rückkehr ihres Schlittens gar nicht bemerkten, und so ergriff Mulder die Gelegenheit und schlich sich davon, um Scully zu einer gemeinsamen Abfahrt zu überreden.
„Und wo soll ich Matty lassen?“ wehrte sie ab, doch Mulder hatte nicht vor, sich so schnell abweisen zu lassen, und bat ein ungefähr zwölfjähriges Mädchen, das mit einem Kleinkind Schnee-Engel machte, ein paar Minuten auf den Kleinen aufzupassen. Ihrer Ausrede beraubt, blieb Scully nichts anderes übrig, als sich hinter Mulder auf den Schlitten zu setzen und an ihm festzuklammern, als der Schlitten rasant abwärts schoss. Irgendwie wünschte sie, sie hätte nicht Mulder vorn sitzen und lenken lassen, doch da war es schon zu spät: Statt ruhig am Fuß des Hügels auf der Wiese auszulaufen, steuerte der Schlitten mitten in eine Schneewehe hinein und kippte um.
„Sagen Sie nichts.“ warnte Mulder, als er seiner zum zweiten Mal an diesem Tag weiß gepuderten Partnerin aufhalf und ihr den Schnee von Rücken klopfte. „Ich war noch nie gut im Rodeln.“
„Wieso haben Sie dann nicht mich lenken lassen?“ erkundigte sie sich mit mildem Amüsement in der Stimme.
„Sie haben nicht gesagt, dass Sie es wollen.“ gab Mulder mit Unschuldsmiene zurück, während sie nebeneinander den Berg hinaufstiegen und sich dem Gelächter der Kinder stellten, die ihren Unfall natürlich bemerkt hatten. Trotz des Spottes mussten sie beide zugeben, dass es ihnen Spaß gemacht hatte.
Da Matthew auch einige Schnee-Engel gemacht und von der Kälte schon ganz blaue Lippen bekommen hatte, mahnte Dana schließlich zum Aufbruch, was eine Welle von Protest bei Lauren und Nora auslöste.
„Wir frieren aber noch gar nicht, und außerdem macht es grade solchen Spaß!“ beschwerten sie sich im Chor. „Und der Schneemann ist auch noch nicht fertig.“
„Matty ist ganz durchgefroren, er muss sich umziehen, also werden wir leider gehen müssen.“ war die bedauernde Antwort Danas.
„Warum eigentlich?“ warf Mulder ein. „Sie gehen mit Matthew nach Hause und trocknen ihn, und ich bleibe noch ein wenig mit den Mädchen.“ schlug er vor. Scully warf ihm einen zweifelnden Blick zu.
„Sind Sie sicher? Sie wissen, wie frech die zwei sein können.“
„Hören Sie, ich bin mit Seeungeheuern und Moosmännern fertig geworden, was kann da schon passieren, wenn ich mit zwei kleinen Mädchen ein wenig im Schnee spiele.“
„Na gut. Aber in spätestens einer Stunde kommen Sie nach, egal was die Kinder sagen. Länger können sie wirklich nicht draußen bleiben, ohne sich zu erkälten, und außerdem wird es dann dunkel. Und ihr hört auf das, was Fox euch sagt, kapiert?“ wandte sie sich an die Zwillinge, deren Köpfe unter den Mützen eifrig im Takt nickten. Mit einem aufmunternden Klaps auf Mulders Schulter hob Scully den inzwischen greinenden Matthew hoch und machte sich auf den Heimweg. Das letzte, was sie sah, waren Mulder und Nora – perfekt an ihrer grünen Mütze zu erkennen - , die zusammen in rasender Fahrt den Hügel hinunterjagten. Sie drehte sich wieder um, da sie gar nicht wissen wollte, wo die beiden landen würden, und beeilte sich, nach Hause zu kommen.


**********

Es wunderte wirklich niemanden, am wenigsten Scully selbst, dass Mulder und die Mädchen nach über eineinhalb Stunden noch immer nicht zurück waren. „Ich hab dir gesagt, dass sie ihn um den Finger wickeln werden.“ hielt sie Beth vor, die ihr einen lachenden Blick zuwarf.
„Ach, komm schon. Er ist so süß mit ihnen, dass es kaum auffällt, wenn er sie ein wenig verwöhnt. Du hast wirklich Glück mit ihm.“
„Glück? Wieso?“ Scully war irritiert.
„Na, er wird mal ein wunderbarer Vater sein.“
„Moment mal... Was hat das mit mir zu tun?“
„Ach, seid ihr gar nicht zusammen?“ erkundigte sich ihre Schwägerin mit Unschuldsmiene, ganz so, als habe sie nicht den ganzen Tag auf eine Gelegenheit gewartet, eben diese Frage loszuwerden.
„Natürlich nicht! Wir arbeiten zusammen, und ich kann mir nicht vorstellen, was das mit Mulders Qualität als Vater zu tun haben könnte.“
„Na, eigentlich nichts. Ich hatte nur angenommen, dass da mehr sei. Aber wahrscheinlich hast du recht; so, wie er Missy ansieht...“
„Was ist mit mir?“ erkundigte sich Melissa, die in diesem Moment den Raum betrat.
„Nichts. Wir haben uns nur gefragt, wo du mit dem Baumschmuck bleibst.“ gab Beth zurück und tat so, als bemerke sie den schockierten Blick nicht, der sich bei der Erwähnung von Melissa auf Danas Gesicht gebildet hatte. Natürlich wusste sie, dass Mulder Missy den ganzen Tag nicht ein einziges Mal angesehen hatte, aber was konnte es schon schaden, wenn Dana ein wenig bewusst wurde, dass sie nicht die einzige Frau auf der Welt war? Vielleicht beeilte sie sich dadurch ja ein wenig damit, ihre Ansprüche auf ihren Partner geltend zu machen.
„Bin schon da!“ Melissa hatte genug Anstand, so zu tun, als habe sie nicht gelauscht.
„Beth, wo sind denn deine Mädchen? Wir wollten doch mit dem Schmücken auf sie warten.“
„Keine Ahnung, wo sie bleiben, sie sind noch mit Mulder unterwegs. Dana versichert mir, dass sie da in den besten Händen sind, auch wenn ich das bezweifle...“
„Ich bitte dich, sie befinden sich in der Obhut der Bundespolizei, was soll ihnen da schon passieren?“
„Könntet ihr mal eine Minute aufhören, auf Mulder herumzuhacken? Es mag zwar auf den ersten Blick nicht so aussehen, aber er ist sehr wohl in der Lage, auf zwei kleine Mädchen aufzupassen, ganz zu schweigen von sich selbst.“ Außer, man setzt ihn auf einen Schlitten, fügte Scully der Verteidigungsrede für ihren Partner im Stillen hinzu. Noch bevor jemand die Wahrheit ihrer Aussage anzweifeln konnte, hörten sie die Haustür und gleichzeitig ein lautes Protestgeschrei: „Ich will aber nicht mit rein! Ich will zurück, ich will meine Mommy!!“
Mulders Stimme drang kaum durch das Geschrei des Mädchens hindurch, aber wenn die Frauen, die inzwischen aus dem Wohnzimmer in den Flur gestürmt kamen, angestrengt lauschten, konnten sie ihn dennoch verstehen: „Nun hör mal, Lauren! Dana hat gesagt, dass wir nach einer Stunde nach Hause müssen, und nachdem ich dich fast eine halbe Stunde suchen musste, wird es allmählich wirklich Zeit. Ihr habt es schließlich beide versprochen.“
„Lass mich los! Ich will meine Mommyyyyyyyyy!!“ wiederholte das Kind noch eine Spur dringlicher und schriller. Dana war die erste, die den kleinen Tumult an der Eingangstür erreichte; sie kam gerade rechtzeitig, um zweierlei zu sehen: Mulder, der einem sich wie wild wehrenden Mädchen die blaue Mütze vom Kopf zog, und die hysterisch kichernde Nora, die das ganze von der Seite beobachtete. Unter der Mütze kamen wilde, braune Locken zum Vorschein. Beth, die ein Stück größer war als Dana und somit über ihre Schulter sehen konnte, schnappte nach Luft. Mulder, der noch immer mit dem Kind kämpfte, brauchte einen Moment länger als die anderen, um zu bemerken, dass etwas nicht stimmte. Melissa brach in schallendes Gelächter aus. „Er ist sehr wohl in der Lage, auf zwei kleine Mädchen aufzupassen, ja?“ brachte sie keuchend hervor, bevor sie erneut von einem Lachanfall gepackt wurde.
„Das ist alles andere als komisch!“ fuhr Beth sie an. „Wo ist meine Tochter?“ wollte sie von Mulder wissen.
„Wieso...“
„Mulder,“ unterbrach Dana ihren Partner, bevor dieser sich um Kopf und Kragen reden konnte. „Sie haben das falsche Mädchen mitgebracht. Das hier ist nicht Lauren. Wie... wie konnte das passieren?“ erkundigte sie sich fassungslos.
Das fragliche Mädchen hatte inzwischen wohl begriffen, dass es nicht entführt worden war, und sich ein wenig beruhigt. Sie schniefte nur noch leise vor sich hin und wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. Dana, ganz die krisengewohnte FBI- Agentin, beschloss, die Sache in die Hand zu nehmen. Energisch schob sie ihre Schwester aus dem Flur zurück ins Wohnzimmer, bevor sie sich an das fremde Mädchen wandte: „Ich bin Dana. Und wie heißt du?“ fragte sie freundlich.
„Ivy.“ kam die schüchterne Antwort.
„Wo ist meine Lauren?“ fuhr die verständlicherweise verstörte Beth von neuem dazwischen. Dana brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Eins nach dem anderen, okay? Also, Ivy, wie kommt es, dass du mit Mulder und Nora mitgegangen bist?“
Ivy zog hörbar die Nase hoch, bevor sie antwortete: „Ich hab mit Nora und Lauren gespielt, und dann wollte der Mann da,“ sie deutete auf Mulder, „der wollte sie holen. Da haben wir uns versteckt, weil sie nicht nach Hause wollten, aber er hat uns gefunden und gesagt, sie würden jetzt nach Hause gehen. Dann hat er mich und sie da an der Hand genommen und uns mitgenommen. Nora hat geschrien, sie will nicht nach Hause, und ich hatte Angst und hab geweint, aber er hat mich einfach mitgenommen.“
„Und du hast es nicht für nötig gehalten, Mulder zu sagen, dass er nicht deine Schwester, sondern ein fremdes Mädchen mitnimmt?“ wandte sich Dana an Nora, die unter ihrem strengen Blick sichtbar schrumpfte. „Na, ist ja auch egal, wir gehen jetzt Ivy zurückbringen; ihre Mutter macht sich sicher schon Sorgen, und holden die echte Lauren ab.“ Endlich wandte sie sich ihrer Schwägerin zu, die einem nervösen Zusammenbruch nahe schien, um sie abzulenken. „Kümmere dich schon mal um Nora. Mulder und ich holen Lauren.“ Noch während sie sprach, holte sie ihren Mantel aus dem Garderobenschrank und schlüpfte in ihre Stiefel, setzte Ivy die Mütze wieder auf und fasste nach ihrer Hand, um das Kind aus der Tür zu führen, einen betreten dreinblickenden Mulder im Kielwasser.
Auf dem Weg zum Rodelberg sprachen sie kein Wort miteinander, denn Scully versuchte alles, um Ivy vollends zu beruhigen, damit diese ihrer sicher sowieso schon verängstigten Mutter nicht gar zu verstört gegenübertreten musste. Sie fanden Ivys Mutter sofort; sie suchte beinahe hysterisch den ganzen Berg nach ihrer Tochter ab und war mehr als erleichtert, sie in Begleitung einer Erwachsenen zu sehen. Scully erklärte ihr den Vorfall, und nachdem sie erfahren hatte, dass Scully und Mulder vom FBI waren und ihre Tochter keine Sekunde in Gefahr geschwebt hatte, fand die Frau die ganze Situation beinahe komisch. „Wenn ich es mir recht überlege, hätte das meinem Mann auch passieren können.“ gestand sie und half den Agenten bei der Suche nach Lauren, die sie schließlich selbstvergessen eine Schneeburg bauend fanden. Sie hatte anscheinend nicht einmal realisiert, dass ihre Schwester und Mulder wirklich gegangen waren. Wenigstens ein Kind, das nicht unter dem Vorfall gelitten hat, dachte Scully, als sie ihre Nichte bei der Hand nahm und sie in Richtung Heimat führte. Noch immer trottete Mulder wie ein getretener Hund hinter ihr her; irgendwann bekam Scully Mitleid und fasste nach seiner Hand, um sie kurz zu drücken. „Mulder, es ist nicht Ihre Schuld. Zumindest nicht nur. Lauren hätte sofort mitkommen sollen, Nora hätte Ihnen sagen müssen, dass Sie das falsche Kind haben. Und Sie hätten ein wenig besser hinsehen sollen.“
„Ihre Familie hat allen Grund, mich jetzt zu hassen.“ brummte Mulder traurig. Scully konnte es nicht ertragen, ihren Partner so geschlagen zu sehen, und ließ seine Hand den Rest des Weges nicht mehr los, auch wenn sie nicht wusste, was sie sagen sollte, solange Lauren dabei war; sie nahm sich aber vor, mit Mulder zu reden, sobald das Kind sich sicher in der Obhut seiner Eltern befand.
Charly und Beth erwarteten sie schon an der Tür. Lauren wurde ihnen abgenommen und umarmt, dann nahm Beth sie mit in die Küche, wo Maggie inzwischen schon darüber informiert worden war, was passiert war, und heißen Kakao für alle kochte. Charly sah von seiner Schwester zu Mulder, dessen Hand sie noch immer festhielt.
„Okay, und jetzt sagt mir bitte mal, wie ihr es fertiggebracht habt, mein Kind zu verlieren.“ forderte er schließlich nicht unfreundlich, wie Dana zu ihrer Erleichterung feststellte. Das letzte, was Mulder jetzt brauchte, waren Vorwürfe des Scully- Bruders, der bisher keinen Groll gegen ihn hegte.
„Ich weiß nicht, wozu das noch wichtig ist!“ kam Bills Stimme aus dem Wohnzimmer. Es war offensichtlich, dass er nur darauf gewartet hatte, Mulder mit Vorhaltungen zu überschütten.
„Dieser Kerl bringt nur Unglück über unsere Familie. Durch ihn ist Dana diesem Job ausgesetzt, durch ihn hätten wir sie beinahe verloren; er dürfte gar nicht hier sein, das habe ich Mom von Anfang an gesagt. Und weil er doch hier ist, passieren solche Dinge.“
„Halt den Mund, Bill.“ Sowohl Dana als auch Mulder und Bill sahen erstaunt in Charlys Richtung.
„Aber...“ begann Bill zu protestieren.
„Ich sagte, halt den Mund. Das hier geht nur mich und Mulder was an, oder hat er etwa dein Kind verloren? Ich bin sicher, dass er es nicht absichtlich getan hat, und um das herauszufinden, würde ich gern mit ihm allein reden. Ich glaube nicht, dass ich dich davon abhalten kann, ihn weiterhin zu hassen, aber du tust ihm Unrecht, wenn du denkst, dass er Lauren oder Nora mit Absicht gefährdet hätte. Schieb auf ihn, was du willst, aber nur, wenn es dich persönlich betrifft. Und jetzt entschuldigt uns bitte, wir haben zu reden.“ Damit schob er den noch immer stummen Mulder an Dana und Bill vorbei ins Wohnzimmer. Bill sah ihnen nach; Dana konnte ihm ansehen, dass er vor Wut schäumte. Sie beschloss, es lieber ihrer Mutter zu überlassen, die Wogen zu glätten, da diese in solchen Dingen eindeutig besser war. Sie selbst war sich nicht sicher, ob sie Bill nicht seinen selbstgefälligen „Ich hab’s dir ja gleich gesagt“- Blick aus dem Gesicht gewischt hätte, wäre sie noch länger allein mit ihm geblieben. Deshalb ließ sie ihren älteren Bruder stehen und verschwand in der Küche, wo Tara, Maggie und Melissa sie mit Fragen darüber bestürmten, was denn nun eigentlich wirklich passiert war. Beth hatte die Mädchen nach oben gebracht, um ihnen einen Vortrag zum Thema Verantwortung zu halten, und stand somit nicht als Informationsquelle zur Verfügung, also musste Dana wohl oder übel erzählen, was sie wusste. Zumindest lenkte das ihre Gedanken von dem Geschehen im Wohnzimmer ab.
Eine halbe Stunde später betrat Charly die Küche und wurde sofort umringt und ausführlich befragt. Er schüttelte den Kopf und ging zu Dana hinüber, die am Tisch saß und ihn erwartungsvoll ansah. „Ich glaube, du solltest mal mit ihm reden.“ flüsterte er ihr zu. „Ich hab versucht, ihm zu erklären, dass diese Art Streich zum täglichen Repertoire unsrer Kinder gehört, aber er scheint zu glauben, dass er allein die Verantwortung für das trägt, was geschehen ist. Klar war ich zuerst sauer auf ihn, aber irgendwie kann ich verstehen, wie es dazu kommen konnte, ich kenne schließlich meine Töchter, und das wollte ich ihm auch erklären. Aber denkst du, er hätte mir zugehört?“ Dana schüttelte den Kopf. Sie selbst hatte mehr als einmal versuchen müssen, Mulder seine Schuldgefühle auszureden, und wusste daher, dass dies ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen war, noch mehr, wenn man ihn nicht kannte. Sie erhob sich und wollte in Richtung Wohnzimmer gehen, aber Charly schüttelte den Kopf. „Er ist nach oben gegangen. Ich werd Bill davon abhalten, ihn auseinanderzunehmen, aber du musst mit ihm sprechen.“
Scully nickte dankbar und stieg die Treppe hinauf zu dem Zimmer, das sie mit Mulder teilte. Sie klopfte kurz, um ihm die Gelegenheit zu geben, sich auf ihr Eintreten vorzubereiten, bevor sie durch die Tür schlüpfte und sie hinter sich schloss. Mulder saß auf ihrem Bett und starrte aus dem Fenster. Neben ihm stand seine offene Tasche, die jedoch noch immer leer war, wie Scully erleichtert feststellte. Stumm setzte sie sich neben ihn auf die Matratze und sah ihn in der Hoffnung an, er würde ihr sagen, was ihm durch den Kopf ging. Er tat es nicht, und so brach schließlich sie das Schweigen: „Mulder, Charly hat mir erzählt, was er von der Sache hält und was er auch Ihnen schon gesagt hat. Uns allen geht es wie ihm; im Nachhinein ist die ganze Angelegenheit doch eher komisch, und niemand ist Ihnen böse.“
„Bill hat recht.“
„Was?“ Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber es waren ganz sicher nicht diese Worte gewesen.
„Er hat recht. Die Mädchen waren mir anvertraut, und ich habe es nicht einmal fertiggebracht, sie heil wieder nach Hause zu bringen. Wie können Sie überhaupt so ruhig bleiben? Ich habe eine Ihrer Nichten verloren.“
„Ich kann mir zwar nicht vorstellen, wie das passieren konnte, aber eines weiß ich mit Sicherheit: Sie haben das nicht absichtlich getan. Ich würde es gern verstehen, aber dazu müssen Sie mir schon Ihre Version erzählen. Reden Sie mit mir, anstatt sich selbst Vorwürfe zu machen, die Ihnen sonst niemand macht. Gibt es Ihnen denn gar nicht zu denken, dass sogar Laurens Eltern Ihnen nicht böse sind?“
„Das verstehe ich ja gerade nicht. Wenn jemand mein Kind verlieren würde, wäre ich außer mir.“
„Natürlich, wer wäre das nicht? Aber es ist nichts passiert, Lauren ist heil und gesund wieder hier, und wie oft muss ich noch wiederholen, dass hier niemand glaubt, Sie hätten das mit Absicht getan?“
Sie sah ihren Partner frustriert an. „Allmählich wird das ermüdend. Warum erzählen Sie mir nicht einfach, was passiert ist?“
Mulders müdes Lächeln über ihren schwachen Versuch eines Scherzes gab ihr Hoffnung, und sie wartete schweigend auf seine Antwort.
„Es waren die Mützen.“ begann Mulder schließlich. „Beth hatte gesagt, ich müsse nur auf die Mützen der Mädchen achten; Nora sollte eine grüne tragen, Lauren eine blaue, das sollte ich mir merken, um sie nicht dauernd zu verwechseln. Als Sie weg waren, haben sie die ganze Zeit über versucht, mich zu verwirren, aber nach einer Weile hatte ich den Dreh raus. Und als es dann Zeit zu gehen war, hab ich sie überall suchen müssen; ich nehme an, sie haben sich versteckt, um noch bleiben zu dürfen. Schließlich hatte ich sie gefunden; sie haben mit ein paar anderen Kindern gespielt. Nachdem ich sagte, wir würden jetzt nach Hause gehen, hat Nora Theater gemacht und sich in den Schnee geworfen, also habe ich mir die Mädchen mit der grünen und der blauen Mütze geschnappt und sie mitgenommen. Ich dachte, Lauren sei bloß sauer, weil sie nach Hause musste, und über Noras Kichern habe ich mir einfach keine Gedanken gemacht. Wie sollte ich denn ahnen, dass sie mir nicht sagen würden, dass ich mich geirrt hatte? Die Kinder draußen am Berg sahen alle so ähnlich aus; man konnte doch kaum was von ihren Gesichtern und Haaren sehen zwischen Schal und Mütze, und dieses andere Mädchen war genauso angezogen wie Lauren, sie hatte sogar die gleiche blaue Mütze auf.“
Scully biss sich auf die Lippe, um nicht loszulachen. Das war mal wieder typisch Mulder!
„Wissen Sie was? Sie werden wohl öfter herkommen und auf die Kinder aufpassen müssen.“
„Warum? Ich denke nicht, dass mir jetzt nochmal jemand sein Kind anvertraut.“
„Wetten? Charly und Beth stellen die Zwillinge sicher zu weiteren Übungszwecken zur Verfügung. Und genau das brauchen Sie: Übung. So etwas wäre Ihnen nicht passiert, wenn Sie mehr Erfahrung im Umgang mit Kindern hätten. Und deshalb sollten wir jetzt auch wieder runtergehen. Ich bin sicher, die anderen schmücken schon den Baum. Das werde ich unter keinen Umständen verpassen, und Sie auch nicht.“
„Meinen Sie wirklich?“
Energisch nickend stand Scully auf und schob die Reisetasche wieder unter das Bett, froh, dass Mulder nicht ernsthaft vorgehabt hatte, nach dem Zwischenfall mit Lauren einfach seine Sachen zu packen und zu verschwinden. Sie zog ihn vom Bett hoch und lächelte: „Los, kommen Sie schon. Oder wollen Sie versäumen, wie sich Missy und Mom über die perfekte Dekoration eines Weihnachtsbaums streiten? Und sollte Bill auch nur ein einziges Wort sagen, werde ich höchstpersönlich einige Griffe aus dem Nahkampftraining für Agenten an ihm demonstrieren. Okay?“
„Ich wusste ja nicht, dass Sie so kämpferisch werden, wenn es darum geht, mich zu verteidigen.“
„Dann wird es Zeit, dass Sie es herausfinden, meinen Sie nicht?“ Mit diesen Worten schob sie Mulder die Treppe hinunter und ins Wohnzimmer, wo er von der gesamten Familie Scully (mit einer Ausnahme) fröhlich aufgenommen und in die Tradition des Baumschmückens mit einbezogen wurde.

Zwei Stunden und einige kleinere Katastrophen später stand die ganze Familie Scully staunend vor dem gemeinsam geschmückten Baum, der in seiner Ecke funkelte und strahlte. Mulder hielt sich etwas abseits, denn nach dem Zwischenfall am Nachmittag war er sich nicht mehr sicher, ob er noch willkommen war. Als habe sie seine Gedanken gelesen, kam Scully auf ihn zu, um ihn in den Kreis der Familie zu ziehen. Im selben Moment kam auch Missy mit dem gleichen Ziel auf ihn zu, aber ihre Schwester war schneller. Sie fasste Mulder bei der Hand und flüsterte ihm zu: „Kommen Sie schon, ich will endlich, dass Bill mit diesem selbstgefälligen Grinsen aufhört.“ Sie zog eine Grimasse, um anzudeuten, dass ihre Bemerkung scherzhaft gemeint war, und zog an Mulders Hand. In diesem Moment sah Charly von den blonden Schöpfen seiner Töchter auf, die er mit einem gewissen väterlichen Stolz dabei beobachtet hatte, wie sie einige letzte Fäden Lametta ordneten.
„Hey, ihr steht genau unter dem Mistelzweig!“ rief er begeistert, worauf sich sämtliche Köpfe in Richtung Dana und Mulder drehten. Diese sahen irritiert zur Decke. Es war nicht möglich, dass Charly recht hatte; sie beide hatten bereits bei ihrer Ankunft unauffällig den Mistelzweig im Wohnzimmer lokalisiert und sich seitdem von ihm ferngehalten, um sich selbst und einander peinliche Situationen wie die zu ersparen, in der sie sich soeben wiederfanden. Denn Charly hatte die Wahrheit gesagt: Genau über ihren Köpfen hing die verhängnisvolle Pflanze, auch wenn sich keiner von ihnen erklären konnte, wie sie von der anderen Seite des Raumes hierher gekommen war. Offenbar waren die anderen Scullys ebenso erstaunt, was sie aber nicht davon abhielt, eindringlich den traditionellen Kuss einzufordern. Da sie wusste, dass es nichts nützen würde, sich zu weigern, stellte sich Dana auf die Zehenspitzen und streifte Mulders Wange mit den Lippen in einem Versuch, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. „Wange gilt nicht!“ protestierte im nächsten Augenblick Lauren, und Nora stimmte ihr eifrig zu. „Genau, du musst ihn auf den Mund küssen!“
Um den peinlichen Moment nicht unnötig in die Länge zu ziehen, beugte sich Mulder hinunter und plazierte einen sanften, freundschaftlichen Kuss auf die Lippen seiner Partnerin, die ihn mit angehaltenem Atem aus großen Augen ansah. Dann zog er an ihrer Hand, die noch immer in seiner lag, und beförderte sie vom Mistelzweig weg und in Richtung Weihnachtsbaum, um aus der allgemeinen Aufmerksamkeit herauszukommen. Maggie rettete ihn und ihre jüngste Tochter, indem sie ankündigte, der Tee sei fertig und bereit, in der Küche zusammen mit einigen Plätzchen vernichtet zu werden. Sofort stürzten sich die Zwillinge in die genannte Richtung, dicht gefolgt von ihrem Vater und Onkel, den dieser am Arm mit sich zog – Charly hatte nicht vor, seinen Bruder in Mulders Nähe zu lassen, nachdem dieser gerade seine kleine Schwester geküsst hatte. Maggie, Mulder und Dana folgten, aber bevor auch Melissa verschwinden konnte, wurde sie von Beth zurückgehalten. Charlys Frau zog ihre Schwägerin in eine Ecke neben dem Baum und begann: „Das mit dem umgehängten Mistelzweig wäre eine sehr gute Idee gewesen, wäre ich mir nicht sicher, dass du es nicht für Dana getan hast.“
„Wie bitte?“ erkundigte sich Missy unschuldig. „Ich hab den Zweig bloß weggehängt, weil er im Weg war, als die Jungs den Baum aufgestellt haben. Ich hatte keine Ahnung, dass sich Dana drunterstellen würde.“
„Aber als du Mulder dort hast stehen sehen, wolltest du zu ihm gehen, oder nicht?“
Missy wurde rot. „Vielleicht wollte ich das wirklich. Und wenn? Ich finde ihn süß.“
„Das ist er auch. Aber für Dana ist er mehr als das. Du weißt genau, dass sie sich sofort zurückziehen wird, wenn sie merkt, dass du Interesse hast. Ich glaube nicht, dass eine von uns das Recht hat, ihr Glück zu gefährden, nur weil sie ihn süß findet. Ich finde ihn auch süß, aber Liebe ist was anderes. Hör auf, mit ihm zu flirten, oder rede mit Dana.“
„Das kann ich nicht.“ Missy sah auf den Boden und biss sich auf die Lippen, bevor sie weitersprach: „Hör mal, Beth, Mulder ist mit Abstand der tollste Mann, der mir je begegnet ist. Er benimmt sich wie ein Gentleman, ohne chauvinistisch zu sein, er hört zu, kann mit Kindern umgehen und hilft in der Küche, und er sieht höllisch gut aus. Ich fürchte, ich habe mich in ihn verliebt.“
Beth sog scharf die Luft ein. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte erwartet, dass ihre kleine Standpauke Melissa den Kopf zurechtsetzen und sie dazu bringen würde, Mulder in Ruhe zu lassen, aber offenbar hatte sie ihre Gefühle unterschätzt. Sie legte Missy ihren Arm um die Schultern und erkundigte sich: „Wie ernst ist es?“
„Woher soll ich das wissen? Ich kenne ihn doch kaum, und schon habe ich Herzklopfen, wenn ich ihn sehe. Aber keine Angst, ich weiß, dass er für Dana bestimmt ist. Das wusste ich die ganze Zeit, und ich werde die Finger von ihm lassen. Aber ein wenig Spaß will ich trotzdem haben.“
Erleichtert fiel Beth in ihr Lachen ein. Melissa war schon in Ordnung. Sie würde niemals etwas gegen die Bestimmung unternehmen, die sie in ihren sogenannten kosmischen Schwingungen zu sehen glaubte, selbst wenn es bedeutete, einen Mann, in den sie sich verliebt hatte, mit ihrer eigenen Schwester zu verkuppeln. Eines der Dinge, die sie immer wieder an ihrer Schwägerin bewunderte, war ihre Fähigkeit, jedesmal auf den Füßen zu landen, egal wie tief sie fallen mochte. Sie verliebte sich unsterblich, flirtete mit jedem erreichbaren Mann, wurde aber ebenso schnell wieder vernünftig und konnte mit ihrem Leben weitermachen, ohne zu tiefe Wunden davonzutragen. Dana war da ganz anders. Sie ließ kaum Gefühle zu, und wenn sie es tat, dann waren diese tief und endgültig. Beth selbst hatte sehr lange gebraucht, Danas Freundschaft zu gewinnen, auch wenn diese nie unfreundlich oder kühl ihr gegenüber gewesen war. Sie hatte sich einfach distanziert und war freundlich gewesen, ohne wirklich herzlich zu sein, bis sie irgendwann offenbar beschlossen hatte, Beth trauen zu können, und seitdem waren die beiden sich sehr nah, auch wenn sie sich selten trafen. Beth vermutete, dass es bei Mulder genauso war: Dana hatte nicht zugelassen, sich zu verlieben, bis sie es nicht mehr verhindern konnte, und dementsprechend waren ihre Gefühle tief und würden ihr das Herz brechen, sollten sie zurückgewiesen werden. Und dass das nicht geschah, dafür würde Beth sorgen, denn sie erkannte auf den ersten Blick, dass es Mulder ebenso ging. Bevor sie ein weiteres Wort sagen konnte, steckte Charly den Kopf durch die Tür, um die beiden Nachzüglerinnen an den Küchentisch zu verfrachten, wo seiner Aussage nach alle nur auf ihr Erscheinen warteten, damit sie endlich anfangen konnten. Beth warf Melissa einen fragenden Blick zu, um sich zu vergewissern, dass sie okay war, und als diese nickte, hakte sie sich bei ihr und Charly unter, um sich zu den anderen zu gesellen.


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