World of X

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Die Erinnerung stirbt nie

von maggy_144

Kapitel 1

Sleep brings no joy to me,
Remembrance never dies;
My soul is given to misery
And lives in sighs.
(Emily Jane Bronte, November 1837)

Der Schlaf bringt mir keine Freude,
Die Erinnerung stirbt nie;
Meine Seele ist dem Elend hingegeben
Und lebt in Seufzern.



Ein silbrig glitzernder Regentropfen perlte über das Fenster des Speisesaals und hinterließ auf dem Glas eine kaum merkliche Spur, die bereits wieder verblasste und verschwand, als der Tropfen sich mit den Myriaden ähnlicher Regentropfen vermischt hatte, welche als winziger Sturzbach unablässig vom Fenstersims auf den Asphalt rannen.

Ironisch betrachtet repräsentiert dieser alltägliche Vorgang nichts Anderes als eine bedrückende Metapher für unsere gesamte Existenz. Unser Leben, all unser Streben und Trachten ist nicht dauerhafter als die flüchtige Spur des Regentropfens auf der Fensterscheibe; es versinkt in der Vergessenheit, kaum dass wir die Bühne des Lebens verlassen haben, wo alle Männer und Frauen nur Komödianten sind, Akteure in einem Stück, das uns als Tragödie erscheinen mag - in Wirklichkeit ist es eine Groteske, und zwar die absurdeste, die jemals geschrieben wurde.

Eigentlich gab sie sich nicht allzu häufig derartigen Gedanken hin, denn sie neigte dazu, alles unter rationalen Gesichtspunkten zu betrachten, um auf sachliche Art und Weise mit den unvermeidlichen Widrigkeiten zurechtzukommen. Sie sah die Erledigung mühseliger Aufgaben am liebsten als bloße Pflichterfüllung an, oder aber - was jedoch eindeutig seltener vorkam - sie suchte eine gewisse geistige Sammlung, einen ruhigen Moment im Gebet.

Doch hin und wieder gab es Tage, an denen sie es vorgezogen hätte, in hysterisches Gelächter auszubrechen, weil sie unvermittelt alles, einfach alles aberwitzig fand, weil sie die absurde Situation erkannt hatte, in der sie sich abstrampelte wie ein zahmer Hamster in seinem Tretrad, weil ihr klar geworden war, wie lächerlich deprimierend ihr Leben war. Am liebsten hätte sie an diesen Tagen laut und zynisch darüber gelacht, um danach sogleich erbitterte Tränen zu vergießen.

Obwohl heute ein solcher Tag war, tat sie selbstverständlich weder das Eine noch das andere. Dana Scully wäre der letzte Mensch gewesen, der diese Art von Wünschen wirklich in die Tat umgesetzt hätte. Stattdessen bestellte sie sich bei der Kellnerin des Cafés die zweite Tasse schwarzen Kaffee - „Vielleicht bin ich einfach übermüdet“, sagte sie sich -, und sie war schon bei der dritten, als ihr Partner, Agent Mulder, überraschend in ihre Mittagspause platzte.

„Ich habe hier etwas unglaublich Interessantes für Sie!“, verkündete er lauthals und ließ sich in den freien Stuhl ihr gegenüber plumpsen. Weder ihr gereizter Blick noch die sarkastische Bemerkung: „Was ist es denn diesmal, Mulder? Der Pudel in der Mikrowelle oder die Spinne in der Yucca-Palme?“, konnten seinen Enthusiasmus dämpfen, sodass sich Scully einen Moment lang schuldbewusst fragte, warum sie es darauf angelegt haben mochte, streitsüchtig zu sein.

Ihr lag inzwischen - nach über sechs Jahren der beinahe ununterbrochenen Arbeit bei den „X-Akten“ - mehr an diesen Fällen, als sie jemals laut zugeben würde, doch fühlte sie sich momentan einfach nicht in der Lage, mit einem begeisterten und gut gelaunten Mulder über spontane Selbstentzündung oder das „Channeling“ zu diskutieren. Also griff sie statt einer Antwort nach dem Aktenordner, den er auf den Tisch hatte fallen lassen, um diesen hastig durchzublättern. Offensichtlich ein Einbruchsdelikt - das Haus der 31-jährigen Teresa Summer war durchwühlt worden - es fehlten jedoch keinerlei Wertgegenstände - nur war Ms. Summer am nächsten Morgen tot aufgefunden worden - an dieser Stelle ließ Scully die Aktenmappe sinken und warf Mulder einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Mulder, das ist leider keine X-Akte!“, protestierte sie heftig. „Das ist nicht einmal ein Fall für das FBI, sondern einer für die Polizei von Annapolis. Es handelt sich eindeutig um einen versuchten Einbruchdiebstahl, bei dem die Inhaberin der Wohnung von dem Räuber überrascht worden ist, weshalb er sie getötet hat und danach überstürzt geflohen ist, ohne etwas zu stehlen.“

Scully hätte es jedoch besser wissen müssen, denn Mulders unterdrücktes Grinsen und der hartnäckige Ausdruck in seinen Augen, beides Anzeichen, die sie mittlerweile zu Genüge kannte, verrieten ihr, dass er sich wie so oft in eine seiner Theorien hineingesteigert hatte. Natürlich war dem auch so.

„Sie haben nicht fertig gelesen, Scully, doch genau das sollten Sie tun. Mich würde Ihre Meinung als Gerichtsmedizinerin zur Todesursache interessieren. An Ms. Summers Leiche wurde nämlich eine gründliche ‘Post Mortem’-Untersuchung durchgeführt, bei der keinerlei Anzeichen von Gewaltanwendung festgestellt werden konnten. Sie scheint einfach an Herzversagen gestorben zu sein.“

Nachdem Scully den Bericht des Pathologen von Annapolis genau studiert hatte, musste sie ihrem Partner widerwillig beipflichten. „Aber das heißt noch lange nicht, dass es sich um eine X-Akte handelt. Vielleicht hatte Ms. Summer ein schwaches Herz oder litt an einer Nervenkrankheit, sodass sie bei der Begegnung mit dem Einbrecher vor Schreck einen Herzanfall erlitten hat, und dieser ist in Panik geraten und abgehauen, ohne Hilfe für die Frau zu holen. Eine tragische Geschichte, aber immer noch kein Fall, mit dem wir uns beschäftigen müssten.“

Als sie Mulder betrachtete, beschlich sie das unangenehme Gefühl, dass sein Gesichtsausdruck aufs Haar dem eines Zauberkünstlers glich, der sich verschmitzt daran machte, das dritte Kaninchen aus seinem Hut zu holen. Daher beschwor sie ihn ungeduldig, sich die Würmer sozusagen nicht einzeln aus der Nase ziehen zu lassen.

„Also gut. Es *gibt* bereits eine derartige X-Akte“, räumte Mulder ein, um seinen gelinde ausgedrückt etwas vagen Verdacht zu rechtfertigen. „Im Jahre 1996 gab es einen ganz ähnlichen Fall, der damals an das FBI weitergeleitet worden ist. Nur hat damals das Opfer, ein gewisser Michael Piper, die Sache überlebt. Er war aber so verängstigt, dass er sich seitdem in psychiatrischer Behandlung befindet. Besser gesagt: Er leidet dermaßen unter emotionalen und geistigen Störungen, dass er niemals in der Lage war, exakt über den Tathergang zu berichten. Alles, was aus ihm ‘rauszukriegen war, war die Behauptung, er habe eine Art Nemesis heraufbeschworen, die gekommen sei, um ihn zu töten. Nicht gerade das, was sich die Polizei unter einer Täterbeschreibung vorstellt. Ich habe diesen Fall in einer der alten X-Akten entdeckt, die bei dem Brand nur leicht beschädigt worden sind und die ich inzwischen wieder ins Archiv eingeordnet habe.“

Bei seinen letzten Worten entspannte sich Scullys gestrenge Miene ein wenig, sodass sie sich ein flüchtiges Lächeln abringen konnte. Sie wusste nur zu gut, wie viel es ihm - und wie sie sich in schwachen Momenten eingestehen musste, auch ihr selbst - bedeutete, von den am besten erhaltenen Akten zu retten, was noch zu retten war, um sie zusammen mit den neuen Meldungen, nachdem sie vor ca. 11 Monaten erneut den X-Akten zugeteilt worden waren, fein säuberlich zu archivieren. Trotz der - wenngleich verborgenen - Hingabe an ihre Arbeit, zu der auch sie fähig war, hielt sie diesen speziellen Fall keineswegs für ein Ereignis, das mit dem Paranormalen in Verbindung stand und vor allem konnte sie keinen Zusammenhang mit dem Tod von Teresa Summer erkennen. Wie üblich widersprach Mulder ihr stante pedes.

„Sie haben die Akte immer noch nicht fertig gelesen, Scully!“, merkte er ironisch an. „Beide Male wurde am Tatort ein Zettel gefunden - mit der Aufschrift ‘Sleep brings no joy to me, remembrance never dies.’ Also besteht durchaus ein Zusammenhang zwischen den beiden Fällen, außer natürlich, das Hinterlassen von Botschaften ist die übliche Vorgehensweise bei einem Einbruchdiebstahl.“

„In Ordnung, Mulder, was werden wir machen? Nach Annapolis fahren, um uns bei der örtlichen Polizei zu erkundigen?“

„Nein, wir fliegen morgen früh nach Providence. Ich möchte mich gerne mit Michael Piper unterhalten.“

Nachdem Mulder das Café wieder verlassen hatte, saß Scully noch lange Zeit regungslos da und starrte in den trübseligen Winterregen hinaus, der sich seit drei Tagen auf Washington ergoss. Das graue, deprimierende Wetter passte sich ihrer derzeitigen Stimmung hervorragend an. Ihr war so lustlos zumute, dass sie sich sogar überlegt hatte, sich wegen einer erfundenen Grippe krankzumelden, was sie selbstverständlich nicht verwirklicht hatte. Immerhin wusste sie, dass mit ihrem Beruf als FBI-Agentin mehr Verantwortung verknüpft war als mit den meisten, vor allem mit ihrer Sonderstellung innerhalb des FBI selbst. Dennoch schien es ihr zurzeit, als sei diese Verantwortung eine zu schwere Last für ihre Schultern und als sei ihr Alltag trüb und dunkel, ohne ein freundliches Licht. Sie war sich im Klaren darüber, dass sie diese Verantwortung nicht einfach hinwerfen durfte - darüber hätten sich bestimmte Leute viel zu sehr gefreut -, aber sie fragte sich nun, ob die X-Akten das alles *wert* waren.

Solange sie einen gewissen Rückhalt im Glauben und in ihrer Familie gefunden hatte, hatte ihr diese Überzeugung Kraft gegeben, doch war ihre neu gewonnene Hinwendung zur Religion erst vor weniger als einem Vierteljahr während ihrer Erlebnisse in Afrika erschüttert worden, und ihre Familie - tja, ihre Familie war einer der Gründe für die Traurigkeit, die sie überkam. Kürzlich hatte ihr ältester Bruder Bill ihr massive Vorwürfe gemacht, weil sie nicht zu der Familienfeier anlässlich des zweiten Geburtstages seines Sohnes Matthew an Neujahr in San Diego gekommen war, obwohl fast die gesamte Verwandtschaft daran teilgenommen hatte.

„Du musstest arbeiten? Am *Silvesterabend*?“ Bills ungläubige und wütende Stimme am anderen Ende der Telefonleitung hallte als fernes Echo der Erinnerung in ihrem Gedächtnis wider. „Wie zum Teufel hast du eigentlich die Feiertage verbracht?“ Scully war schon versucht gewesen, ihm zu erwidern, dass sie an Silvester nach ‘Untoten’ gesucht und sich mit suizidgefährdeten Weltuntergangspropheten herumgeschlagen hatte, bevor sie den Jahreswechsel im Wartesaal einer Notaufnahme erleben durfte. Wenigstens existierte eine einzige angenehme Erinnerung an jenen Abend...

Bill hatte sie jedoch aus ihren Gedanken gerissen: „Dana, du nimmst deine Arbeit einfach viel zu wichtig und vernachlässigst die Dinge, die dir wirklich etwas bedeuten sollten. Deine Familie, deine Mitmenschen und so, ich meine, du solltest dich um Andere kümmern, anstatt dir Geschichten über kleine grüne Männchen vorfaseln zu lassen, an die du ja nicht mal glaubst.“ Bevor sie auch nur den Ansatz eines Versuchs hatte machen können, ihrem Bruder zu erklären, wie sie dazu gezwungen worden war, all ihre diesbezüglichen Ansichten eventuell in Frage zu stellen, hatte Bill weitergeredet. „Verdammt noch mal, deine Arbeit hat dich bereits mehrmals fast das Leben gekostet, während andere Frauen in deinem Alter seit Jahren glücklich verheiratet sind und Kinder ha-“

„Du weißt, dass ich keine Kinder bekommen kann, selbst wenn ich wollte“, hatte sie tonlos geflüstert und in dem unbehaglichen Schweigen ihres Bruders selbst das Wort ergriffen. „Und außerdem gefällt mir deine Einstellung nicht. Wenn du damit den Wert meiner Arbeit oder meine berufliche Kompetenz herabsetzen möchtest, bitte. Aber nur weil mein Lebensstil meinen Verwandten nicht passt, bin ich nicht dazu verpflichtet, mich mit dem nächst besten Ehekandidaten in die Wonnen von ‘Trautes Heim, Glück allein’ zu stürzen.“ Und sie hatte empört - und temperamentvoller als unbedingt nötig - den Hörer einhängt, in dem Bewusstsein, dass sie beide zu weit gegangen waren: Bill mit der betonten Zurschaustellung von längst überholten Ansichten und sie mit ihrer unsachlichen, hitzigen Antwort.

Und nun, einige Wochen nach diesem Telefongespräch, saß Scully in der Mittagspause im Café und fragte sich, warum sie die zweifelhafte Ehre hatte, die düsteren Seiten des Lebens kennen zu lernen, die allgegenwärtige Nacht, die unsere Gedanken verfinstert.

***

Das „Städtische Krankenhaus von Providence zur Behandlung von neurologischen und Nervenkrankheiten“ gab sich alle Mühe, das musste man ihnen lassen: tadellos geputzte Flure, helle, luftige Räume, eine ausreichende Menge an Personal, modernste Ausstattung und sogar eine dezente, euphemistische Bezeichnung, die es alle jedoch nicht zu verhindern vermochten, dass beim Besucher Erinnerungen an die schaurigen und sensationslüsternen Geschichten über diejenigen Anstalten wachgerufen wurden, die man einst abfällig als „Irrenhäuser“ zu bezeichnen pflegte. Aller Wahrscheinlichkeit nach lag die morbide Faszination jener Geschichten kaum an den grausigen Details, sondern vielmehr an der tief sitzenden Angst der Menschen vor der Hoffnungslosigkeit, die stets mit der Vorstellung einhergeht, nicht der körperlichen, sondern der geistigen Kräfte beraubt zu werden - der einzigen Eigenschaft, auf die wir unser Gefühl der Überlegenheit - ob nun berechtigt oder nicht - stützen können.

Eben diese Hoffnungslosigkeit hing auch in den Gängen des Krankenhauses von Providence, wie ein schwacher Geruch, der sich hinter dem nach Desinfektionsmitteln und Medikamenten verbarg. Natürlich waren die Aussichten nicht für alle Patienten hoffnungslos, denn einer nicht unerheblichen Anzahl gelang es, ihre psychischen Probleme zumindest halbwegs zu überwinden oder ihre Erkrankungen dank der heutigen Arzneien in den Griff zu kriegen, um wieder ein erstaunlich „normales“ Leben führen zu können. Andere hingegen hatten dieses Glück nicht, sodass sie auf immer Gefangene ihrer selbst bleiben mussten, Gefangene der eigenen Orientierungslosigkeit, ihrer eigenen inneren Welt, welche aus ihren Trieben bestand, ihren Träumen, ihren seelischen Zwängen und ihren Ängsten.

Der Patient Michael Piper gehörte offensichtlich zur letzteren Kategorie. Der Stationsarzt Dr. Jones versuchte Scully und Mulder in möglichst einfachen Worten zu erklären, dass er an massiven Angstzuständen litt, bis ihn Mulder ungeduldig unterbrach: „Wir wissen es ja wirklich zu schätzen, dass Sie uns geistig nicht überfordern möchten, doch wir sind auch keine blutigen Laien. Agent Scully hat sowohl einen Universitätsabschluss in Medizin als auch ein Praktikum in mehreren Kliniken hinter sich, und ich habe Psychologie studiert.“

Dr. Jones, ein unangenehmeres Exemplar der Gattung „Ärzte“, eines von jener schon ausgestorbenen Art der sprichwörtlichen Halbgötter in Weiß, raschelte geräuschvoll mit Michael Pipers Krankenakte in seiner Hand, hüstelte gekünstelt und fragte betont gelangweilt: „Ach ja? Wo denn?“ Sein Tonfall klang so, als erwarte er, dass die Antwort „Smalltown, Montana“ lauten würde.

„An der Universität von Oxford. Fühlen Sie sich *jetzt* in der Lage, uns zu erklären, was es mit Mr. Pipers Zustand auf sich hat?“

Der Arzt putzte einen nicht vorhandenen Fleck von seiner Brille, um seine plötzliche Verlegenheit zu überspielen und zeigte sich auf einmal äußerst liebenswürdig. Er erläuterte ausführlich, dass Michael Piper vor gut dreieinhalb Jahren mit einem schweren Schock hier eingeliefert worden war und dass sich seitdem das Krankheitsbild nicht wesentlich gebessert hatte. Es traten immer wieder visuelle und auditive Halluzinationen auf, anscheinend eine Art Paranoia, deren Ursache nicht zweifelsfrei ermittelt werden konnte. Daher blieb den behandelnden Ärzten bedauerlicherweise nichts weiter übrig, als ihn durch eine medikamentöse Therapie mit verschiedenen Sedativa ruhig zu stellen, um zu verhindern, dass er sich etwas antat...

„...wenn er sich wieder mal zu Tode ängstigt, der arme Kerl. Im Moment geht es ihm relativ gut. Er ist geistig ziemlich klar und zurzeit überraschend ausgeglichen, also können Sie gerne in Gegenwart einer Schwester kurz mit ihm reden. Aber regen Sie ihn bitte nicht auf und wundern Sie sich nicht, wenn Sie ihm keine besonders vernünftige Aussage entlocken können! Die Polizei hat ihn nach seiner Einlieferung ohnehin einmal befragt, das heißt, sie haben’s versucht. Warum ist denn das FBI nach über drei Jahren an der Sache interessiert?“

„Das war eine gute Frage, Mulder“, wandte Scully ein, während sie den Flur zu Michael Pipers Zimmer hinuntergingen. „Wie ist dieser Fall eigentlich bei den X-Akten gelandet, wo er doch nichts offensichtlich ‘Paranormales’ enthält?“

„Tja, irgendein Witzbold bei der Polizei von Providence, der früher beim FBI gearbeitet hat, hat ihn sozusagen zum Spaß an die Abteilung X-Akten weiterreichen lassen, nachdem sie ihn geschlossen hatten. Deshalb habe ich ihn damals nicht beachtet, aber nach dem Tod von Teresa Summer, von dem ich zufällig gehört habe, bin ich zu der Meinung gekommen, dass er wenigstens eine Untersuchung wert sein könnte. Sie sehen, es zahlt sich aus, einen Ruf zu haben.“

Scully unterdrückte einen Stoßseufzer. Mochte sie auch gelernt haben, sich auf Mulders erstaunlichen Instinkt zu verlassen, war sie in diesem Fall dennoch der Meinung, dass ihn sein Instinkt im Stich ließ. Mit nichts als dem fadenscheinigen Hinweis, dass bei beiden Fällen der gleiche Satz am Tatort hinterlassen worden war, eine Untersuchung durch das FBI in Gang zu bringen, war wohl ein ‘starkes Stück’, denn sollte sich diese Untersuchung als vollkommen nutzlos erweisen, war nicht nur der Ärger mit ihren Vorgesetzten unweigerlich vorprogrammiert, es standen darüber hinaus die X-Akten auf dem Spiel.

Sie beide durften die X-Akten erst seit einem Jahr wieder bearbeiten, und Scully hatte nicht vor, unter einem aufgesetzten Vorwand, den sie zu allem Übel selbst geliefert hatte, ein zweites Mal Routinebefragungen für das Landwirtschaftsministerium durchführen zu müssen. Im Gegensatz zu Mulder glaubte sie nicht, dass es sich auszahlte, einen „Ruf“ zu haben, doch hätte ihr Protest ohnehin keine Wirkung gezeigt: An Mulders nachdenklichem, geistesabwesendem Gesicht las sie ab, dass er gerade dabei war, eine Theorie zu dem „Fall“ auszuarbeiten, über die er später mit ihr reden würde.

Deshalb schwieg sie einfach und wartete auf die junge Krankenschwester, die herbeigeeilt kam, um die Agenten in Michael Pipers Zimmer zu begleiten. Er hatte sich entspannt auf dem Bett ausgestreckt, wo er in einer Auto- und Motorradzeitschrift blätterte, sodass er nicht im Geringsten den Eindruck erweckte, „verrückt“ zu sein - lediglich die aufgeschwemmten Gesichtszüge hinter dem struppigen Vollbart sowie die verengten Pupillen verrieten, dass er wie so oft unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln stand. Neugierig blickte er den unerwarteten Besuchern entgegen.

„Michael, das sind Agent, äh, Mulder und ... Scully vom ‘Federal Bureau of Investigation’. Sie möchten sich ein wenig mit Ihnen unterhalten.“

„Das FBI? Wieso das? Ich hab’ nichts mehr angestellt, ich kann das gar nich’, ich hocke seit mehr als drei Jahren hier drin!“

Da Scully die aufflackernde Furcht in den Augen des Mannes und das unverhohlene Misstrauen in seiner Stimme bekämpfen wollte, sprach sie so beruhigend und gleichzeitig sachlich wie möglich auf ihn ein. „Es geht nicht direkt um Sie persönlich, Mr. Piper, das heißt, in einem gewissen Sinne doch. Wir haben da nämlich einen Fall neu aufgerollt, und zwar den Einbruch in Ihrer Wohnung und den Überfall auf Sie, der stattgefunden hat, bevor Sie, äh, dazu gezwungen waren, diese Klinik aufzusuchen.“

„Könnten Sie uns möglicherweise sagen, an welche Details Sie sich denn noch erinnern?“, ergriff Mulder das Wort. „Haben Sie den Eindringling erkennen können?“ Zuerst folgte auf die Frage eine lastende Stille, in der allmählich zu hören war, wie sich die Atemzüge des Patienten vor Nervosität beschleunigten.

„Es war kein Mann, es war ‘ne Frau, aber sie ist nich’ eingebrochen, ich *selbst* hab’ sie eingelassen. Wenn ich *das* gewusst hätt’, hätt’ ich’s niemals gewagt -“ Ein scharfes Atemholen, ein bitteres Auflachen. „Und ob ich sie kenne? Sie kam aus dem Reich der Schatten zu mir, meine private Nemesis...“ Michael Piper verstummte, damit er mühsam Atem schöpfen konnte, denn alleine die Erinnerung an jenen Abend schien ihm beinahe körperliche Qualen zu bereiten.

Trotz der warnenden Blicke, die die Schwester Mulder zuwarf, fuhr der Agent fort: „Interessieren Sie sich eigentlich für Okkultismus und Spiritismus, Mr. Piper?“

„Ha’m die Bullen Ihnen das erzählt, ja? Na ja, früher schon, aber hier darf ich mich aus verständlichen Gründen nich’ damit beschäftigen. Warum fragen Sie mich das?“

„Weil ich den Ausdruck ‘Reich der Schatten’ für eine aufschlussreiche Bemerkung halte...“

„Da ist sie schließlich hergekommen, sozusagen, und sie hat die Schlangen mitgebracht...“

„Schlangen?“, entfuhr es Scully ungläubig, und sie verstand, warum die eindringlichen Blicke der Krankenpflegerin immer besorgter wurden. Für sie sah es ganz so aus, als ob die Halluzinationen des Patienten im Begriff waren, zurückzukehren, weil er die Unterhaltung nicht verkraften konnte.

„Schlangen,“ wisperte Piper wie ein heiseres Echo. „Sie waren überall, auf dem Teppich, auf dem Bett, in meinen Schuhen. Solche großen Schlangen, wissen Sie, wie - wie die unter meinem Stuhl! Tun Sie sie weg! Bitte, tun Sie die Schlange da weg! Und die andern auch, es sind so viele Schlangen, überall Schlangen, ICH WILL DIE GOTTVERDAMMTEN VIECHER NICHT MEHR SEHEN!!!“

Wimmernd barg er sein Gesicht in seinen Händen, während Scully - die seine Abscheu vor Schlangen wohl teilte, aber vor tatsächlich existierenden, nicht vor den Hirngespinsten eines verwirrten Geistes - peinlich berührt den leeren, blanken Zimmerboden betrachtete, auf dem sich in Pipers Augen Dutzende von glänzenden, geschuppten Leibern ringelten und blähten, als die Reptilien ihre spitzen Zähne in einem sardonischen Lächeln enthüllten und ihn aus kalt funkelnden, mitleidslosen Augen musterten.

Die Krankenschwester reagierte rasch, angesichts ihrer Jugend mit verblüffender Routine; sie drückte den Notruf und bugsierte zuallererst die Agenten aus dem Zimmer, wobei sie sie mit ihren Blicken förmlich erdolchte. Scully, die unter flüchtigen Entschuldigungen den Raum als Letzte verließ, hörte, wie Piper ihr winselnd nachrief: „Warum lassen Sie mich mit den Schlangen allein, Ma’am? Ich hab’ doch solche Angst vor ihnen! Bitte lassen Sie mich nicht allein...“

Obwohl Scully während ihres medizinischen Praktikums und ihrer Arbeit beim FBI mehr solcher Fälle von derartiger geistiger Verwirrtheit zu Gesicht bekommen hatte als ihr lieb sein mochte, ging es ihr jedes Mal aufs Neue nahe, einen Menschen sehen zu müssen, der von seinen eigenen Dämonen heimgesucht wurde. Der arme Teufel in diesem Zimmer litt unter einer ernsten Erkrankung, weshalb er zwar ihr Mitgefühl verdiente, doch bestimmt keine Ermittlung durch das FBI, was sie Mulder auch deutlich genug sagte. Ihr Partner verschränkte daraufhin abweisend die Arme vor der Brust und sah auf sie herunter.

„Aber ich habe da so eine Theorie...“, widersprach er ihr.

„Eine Theorie. Aha, und die wäre?“

„Ich finde es äußerst interessant, dass Michael Piper sich augenscheinlich mit okkulten Praktiken beschäftigt hat, während Teresa Summer, wie anhand der Tatortphotos, die die Einrichtung ihrer Wohnung zeigen, zu folgern ist, eine begeisterte Anhängerin von New Age, Esoterik und Spiritismus war. Deshalb glaube ich, dass sie beide vielleicht eine Art... Wesen heraufbeschworen haben, das den Einen in den Wahnsinn und die Andere in den Tod getrieben hat. Der rätselhafte Satz ‘Sleep brings no joy to me, remembrance never dies’ könnte in einem Zustand der Besessenheit durch dieses Wesen niedergeschrieben worden sein, oder er ist sogar ... nun ja, anderweitig entstanden.“

Scully schluckte und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an: „Mulder, versuchen Sie mir damit zu sagen, dass der Täter ein *Geist* sein soll? Vielleicht täten Sie besser daran, kurz hier zu bleiben und sich ein paar kleinen Untersuchungen zu unterziehen.“

„Aber, Scully, wir waren doch beide schon in einen Fall verwickelt, bei dem die Geistererscheinung des so genannten ‘Todesomens’ ebenfalls in Verbindung mit einer bestimmten Nachricht gebracht werden konnte. Sie haben damals diese Erscheinung selbst gesehen! Und übernatürliche Ereignisse und mysteriöse Botschaften werden bereits in der Bibel in einem Atemzug erwähnt - gerade Sie sollten doch die Geschichte von der Schrift an der Wand kennen, die am Hof von Bedings...“

„...Belsazar von dem Propheten Daniel gedeutet werden muss“, vervollständigte Scully seinen Satz. „Erstens halte ich Ihre Art der Exegese für ziemlich eigenwillig, zweitens bedeutet meine Haltung in diesem bestimmten Fall nicht, dass ich leugne, was ich vor drei Jahren gesehen zu haben glaube, nur dass ich nicht der Meinung bin, dass es sich diesmal um etwas Vergleichbares handelt, und drittens klingt Ihre Theorie so, als hätten Sie zu oft ‘Poltergeist’ oder ‘Amityville’ gesehen.“

„He, vielleicht sollten wir zusammen ‘mal einen Videoabend veranstalten, wie wär’s?“

„Solange sich das Programm auf klassische Horrorfilme beschränkt und Sie nicht darauf bestehen, den Rest Ihrer Videosammlung mit einzubeziehen. Aber im Ernst, Mulder, ich möchte Ihnen weder zu nahe treten, noch Sie kränken, doch halte ich Ihre Theorie für mehr als hanebüchern und denke, dass Sie heute im Gegensatz zu Ihrem sonstigen Handeln genau das getan haben, was Ihnen Ihre Gegner und die Spötter beim FBI am liebsten vorwerfen: ohne exakte Prüfung der vorliegenden Hinweise und *Beweise* eine Theorie entwickelt, die sich nicht nur... seltsam anhört, sondern außerdem auf tönernen Füßen steht.“ Bei ihren letzten Worten wurde Scullys gestrenger Ton ein bisschen milder, ja bittender. „Tun Sie um Himmels willen nicht das, wofür man sich sonst ungerechtfertigt über Sie lustig macht!“ Als sie sich abrupt umwandte und durch den Klinikflur davonging, blickte Mulder ihr mit gerunzelter Stirn nach und biss sich auf die Unterlippe, woran zu erkennen war, dass sie ihn damit tatsächlich gekränkt hatte.

***

Sie starb. Seltsamerweise regten sich in einem versteckten Winkel ihres Bewusstseins Bilder aus einer pseudowissenschaftlichen Fernsehsendung, die sie sich - vor unendlich langer Zeit, wie es ihr schien - angesehen hatte, Bilder von dem strahlenden Licht am Ende des Tunnels, dem typischen Kennzeichen einer Nahtoderfahrung, während der die Seelen der Sterbenden schwebend ihre leibliche Hülle verließen und sich in friedlicher, heiterer Stimmung dem blendenden Schein näherten.

Nun wünschte sie, sie würde diese Erfahrungen teilen, denn in ihrem bevorstehenden Tod konnte sie weder Frieden noch Heiterkeit erkennen, obwohl sie trotz allem ein kleines Gefühl der Erleichterung verspürte, weil bald alles vorbei sein würde. Die Schmerzen. Der Ekel. Die Angst. Insbesondere die Angst. Deshalb starrte sie mit weit aufgerissenen Augen in die undurchdringliche Schwärze, um auf den Lichtschein zu warten, den ihre brennenden, vom Weinen verquollenen Augen vergeblich in der Ferne auszumachen versuchten. Statt des ersehnten Lichtes, das sie trostreich einhüllen würde, wartete jedoch lediglich die Dunkelheit auf sie, die sich wie eine kalte, klamme Decke auf sie legte und ihr die Luft abschnürte.

„Ich werde gleich ersticken“, dachte sie leicht verwundert. „Ich verblute ja gar nicht, ich ersticke - es ist zu eng hier drin, so eng, so finster, ich kann nicht atmen, ich kann nicht at-“ Der Schrei, der sich ihrer Kehle entrang, erstarb als heiseres Röcheln, und ihre teils zerbissenen, teils aufgeplatzten Lippen begannen erneut zu bluten, sodass die bitter schmeckende, warme Flüssigkeit langsam ihren Gaumen hinunter kroch, um ihr das letzte Bisschen Atemluft zu rauben, welches ihr verblieben war. Zu ihrer eigenen Überraschung musste sie feststellen, dass sie momentan sogar noch atmen konnte, obwohl ihr Brustkorb nach den Tritten nicht aufhören wollte zu schmerzen. Sie war sich nicht vollkommen sicher, ob diese Feststellung sie beruhigte oder ihr zusätzliche Angst einjagte. Vielleicht würde sie nicht sterben, wenn sie nur nicht vergaß zu atmen, Atemzug um Atemzug der Aussicht auf Überleben entgegen...

Vielleicht würden sie aber zurückkommen, zusammen mit ihren Schnappmessern und den glühenden Zigarettenstummeln, um ihr unterbrochenes „Spielchen“ fortzusetzen, wie drei gierige Vampire, die sich an den körperlichen und seelischen Qualen ihres Opfers weideten. Vor allem an den seelischen, denn sie hatten ihr das angedroht, wovor sie sich am meisten fürchtete. Sie hier in der Dunkelheit alleine zu lassen, wo sie in ihrem eigenen Urin auf dem schimmeligen Teppich kauerte (sie hatte sich vor Angst buchstäblich in die Hose gemacht), wo sie unweigerlich verdursten musste, wo sie bei lebendigem Leibe begraben war...

Urplötzlich schossen ihr melodramatische Phrasen durch den Kopf, Floskeln wie „mein letzter Wunsch“, „als das Ende kam, war es nicht Tod, sondern Erlösung“, „sie war erst vierzehn, viel zu jung zum Sterben“. O ja, im Grunde genommen fühlte sie sich zu jung und gleichzeitig uralt, alt und müde. Sie würde also sterben - förmlich konnte sie es spüren, wie das überlaute Pochen ihres eigenen Herzens sich verlangsamte, wie sie einem unbekannten Ziel entgegen trieb, und mit einer Mischung aus blankem Entsetzen und staunender Ehrfurcht taumelte sie auf dem schmalen Grat zwischen dem ‘Hier’ und dem ‘Dort’, um der größten aller ihrer Ängste ins Angesicht zu blicken. Sie starb - und erwachte. Wie in jeder jener Nächte, in denen der Schlaf ihr weder Freude noch Vergessen bringen konnte.

Schweißgebadet stand sie auf ihrem Balkon, wo der eiskalte Wind für ihren überhitzten Körper nicht mehr als eine angenehm erfrischende Abkühlung darstellte. Und wie in jeder jener Nächte blickte sie auf das glitzernde Lichterband dreizehn Stockwerke unter ihr und fragte sich, ob sie in dieses Meer aus rot-grün-weiß funkelnden Juwelen hinabtauchen sollte. „Nein“, flüsterte sie. „Nicht jetzt, wo du endlich weißt, was du tun kannst, und das wirst du auch tun.“

Ganz bestimmt - in der ebenso verzweifelten wie vagen Hoffnung, danach zum ersten Mal seit Jahren ruhig schlafen zu können.

***

In Ermangelung eines eigenen Schreibtisches saß Scully an dem in Mulders Büro, wo sie ungeachtet der späten Stunde über einem Aktenstapel brütete. Selbst ihr Partner, ansonsten die Inkarnation des Wortes ‘arbeitswütig’, hatte sich nach der Rückkehr aus Providence sogleich auf dem Weg zu seinem eigenen Apartment in Alexandria gemacht, angeblich weil er vergessen hatte, den Videorecorder für den unentbehrlichen „B-Movie-Marathon“, sowie für das neueste Spiel der New York Knicks zu programmieren.

In Wirklichkeit, so argwöhnte sie, hatte er es ihr noch nicht verziehen, dass sie sämtliche Aspekte seiner ‘Theorie’ zu Teresa Summers Tod nirigoros abgelehnt hatte. Auf der Rückreise hatten sie hitzig darüber diskutiert, bis jeder schließlich auf seinem ursprünglichen Standpunkt und seiner vorgefassten Meinung beharrte. Da dies ihre erste ernsthafte Auseinandersetzung in der letzten Zeit gewesen war, bei der Scully immer stärker unter dem Gefühl gelitten hatte, nicht ernst genommen zu werden, hatte sie sich in Washington kurzerhand ins Auto gesetzt und sich sowohl die Akten über den Fall Michael Piper herausgesucht, als auch eine Kopie sämtlicher Unterlagen zum Tod von Teresa Summer von der zuständigen Polizeidienststelle ins „J. Edgar Hoover Building“ faxen lassen.

Seit mehreren Stunden blätterte sie darin und versuchte, brauchbare Hinweise auf einen möglichen Täter zu finden, die auf etwas Konkreteres hindeuteten als auf einen Astralleib, doch bis jetzt waren das auffällige Fehlen von Einbruchsspuren - aufgrund der furchtbaren Unordnung in den beiden Wohnungen hatte man es für einen Einbruch gehalten, und die Spurensicherung nahm an, dass der Täter einen gut gearbeiteten Dietrich oder einen nachgemachten Generalschlüssel benutzt haben musste - und die beiden Zettel mit der Aufschrift die einzigen Anormalitäten, die ihr aufgefallen waren.

Scully schob die Lesebrille beiseite, um sich die schmerzenden Augen reiben zu können, während sie sich fragte, warum um Gottes Willen sie nicht schnurstracks nach Hause gefahren war. Weil ohnehin bloß eine leere Wohnung auf sie wartete, in der ein heißes Schaumbad und ein gemütlicher Fernsehabend schon den äußersten Luxus darstellten? Weil sie verbissen daran arbeitete, Mulder zu beweisen, dass er sich in allen Punkten mehr als gründlich irrte? Weil sie ihren Partner davor bewahren wollte, sich durch seinen Anfall blinden Übereifers nach Strich und Faden zu blamieren, was zwar jedem einmal passieren durfte, aber nicht Agent ‘Spooky’ Mulder aus der Abteilung ‘X-Akten’?

Vermutlich eine Kombination aus allen drei Gründen. Seufzend griff sie von Neuem nach den Blättern auf dem Schreibtisch und versuchte mit einiger Mühe, die versengten Seiten ganz hinten in Michael Pipers Akte zu entziffern. Und stutzte verdutzt. Lag es im Bereich des Möglichen, dass der sonst so detailversessene Mulder auf diesen vergilbten, angebrannten Blättern schlicht und einfach etwas überlesen hatte? Denn bei dem mysteriösen Satz, den man auf Pipers Tisch entdeckt hatte, hatte es sich nicht - wie seiner fälschlichen Annahme zufolge - um eine handschriftliche Aufzeichnung gehandelt, sondern um die abgerissene Seite aus einem Gedichtband, dessen verschnörkelte, ‘künstlerische’ Schrift man aber beim ersten, ja, zweiten Blick auf die Aufnahmen vom Tatort durchaus für eine ordentliche Handschrift halten könnte.

„Soviel also zur Geisterbotschaft aus dem Jenseits“, murmelte Scully, während sie zum Telefon griff, um Mulder anzurufen, als ihr dieses durch sein schrilles Läuten zuvorkam. „Hier Agent Scully.“

„Gut, dass ich Sie noch erwische!“, erklang am anderen Ende der Leitung eine ebenfalls übernächtigte Frauenstimme. „Hier spricht Detective Catherine Shelter vom Annapolis Police Department.“

Der Unterton schien zu besagen, dass sie keine Ahnung hatte, warum das FBI in dieser belanglosen Angelegenheit ermittele und sie es dennoch auf sich genommen habe, um diese unchristliche Uhrzeit (vermutlich war Detective Shelter ohnehin für die Nachtschicht eingeteilt worden) nach Washington zu telefonieren. „Mein Kollege hat mir ausgerichtet, dass Sie ihn um einige weitere Informationen in der Sache Teresa Summer gebeten haben, weil Sie sich daraus Aufschlüsse über einen länger zurückliegenden Fall beim FBI erhoffen. Sie haben Glück - die Spurensicherung hat relativ flott gearbeitet. Die Handschrift auf dem Zettel, Sie wissen schon, dieser Spruch oder was auch immer, ist definitiv weder die von Teresa Summer noch die ihrer Schwester; zudem konnten wir auf dem Blatt einen verschmierten Fingerabdruck sichtbar machen, den einzigen, der keinem der anderen, zweifelsfrei identifizierten Abdrücke in der Wohnung zugeordnet werden konnte.“

„Und seit wann hinterlassen Gespenster Fingerabdrücke?“

„Wie bitte?“

„Nichts. - Reden Sie bitte weiter, ich wollte Sie keinesfalls unterbrechen, Detective!“

„Und hier wäre noch die letzte Auskunft, um die Sie gebeten haben: Laut ihrer Schwester und ihrem Hausarzt litt Ms. Summer an keiner Form einer Herz- oder Nervenkrankheit. Wie sie auch dem Bericht des Gerichtsmediziners entnehmen können, war sie organisch völlig gesund, und sie wurde uns im Allgemeinen als selbstbewusste Person beschrieben.“

Während besonders der zweite Hinweis Scullys Erwartungen entsprach, verwirrte Detective Shelters letzte Bemerkung sie aufs Neue. Woran war Teresa Summer demnach gestorben? Und existierte überhaupt ein Zusammenhang zum Fall ‘Michael Piper’? Wenn dem so war, musste man diesen Zusammenhang in der Vergangenheit der beiden Opfer - Opfer? War Teresa denn ermordet worden? - suchen.

Nachdem sie in den zwei X-Akten keinen Hinweis darauf gefunden hatte, dass ein unerwartetes Detail ans Tageslicht kommen würde, das beiden Fällen gemeinsam war, öffnete Scully, die mühsam ein ausgiebiges Gähnen unterdrückte, ihren Laptop und nahm via Internet - der modernen Technik sei’s gedankt, müsste sie hingegen wie früher bis zum nächsten Morgen mit dieser Recherche warten, könnte sie andererseits jetzt gemütlich im Bett liegen - Einsicht in Michael Pipers Strafregister, das auf eine erfolgreiche Laufbahn als Kleinkrimineller hindeutete.

Autodiebstahl, Körperverletzung, Erregung öffentlichen Ärgernisses (er war während eines Football-Spieles sternhagelvoll und splitternackt im Stadium herumgetanzt), Hehlerei, aber wider Erwarten weder Anzeichen von Drogenmissbrauch noch von regelmäßigem exzessiven Alkoholkonsum, was das unvermittelte Auftreten seiner Wahnvorstellungen bis zu einem gewissen Grad erklärt hätte. Sogar einige Jugendstrafen (‘Manche Leute fangen eben früh an’, kommentierte Scully in Gedanken diese Tatsache) wegen Ladendiebstahls, Vandalismus und schwerer Körperverletzung, Letzteres als einer der drei Angeklagten in seinem dritten Prozess vor dem Jugendgericht, zusammen mit einer gewissen Meg Myers sowie ... Teresa Summer.

Schlagartig verflog Scullys Müdigkeit, während sie genauere Informationen über das sechzehn Jahre zurückliegende Ereignis anforderte und diese aufmerksam studierte, wobei ein Teil ihres Mitleids mit Michael Piper einer Mischung aus Ernüchterung und leiser Abscheu wich. Obwohl sie im Laufe ihres Berufslebens Dutzende von scheußlichen Vergehen mit angesehen hatte - darunter etliche weitaus scheußlichere als jenes - erschreckte sie die Vorstellung, dass die Täter noch so erstaunlich jung gewesen waren.

Zwar sollte ein Blick über die Verbrechensstatistiken jeden eines Besseren belehren, wenn er glaubt, dass Jugend ein besserer Schutz vor Grausamkeit ist als Alter vor Torheit, doch kann selbst die fast ‘alltägliche Realität’ von Gewaltverbrechen, die von scheinbar ganz normalen Jugendlichen begangen werden, niemals diesen Schock mildern. Den Schock, den man verspürt, wenn halbe Kinder, junge Leute in einem Alter, das man automatisch und klischeehaft (und meist zu Unrecht) mit Sorglosigkeit assoziiert, mit der hoffnungsvollen Aussicht auf eine bessere Zukunft, sich so vollständig der Faszination der Gewalt ausliefern und das Machtgefühl genießen, mit dem Leben und den Gefühlen eines anderen Menschen zu spielen.

Wie es Michael Piper, Teresa Summer und Meg Myers getan hatten. Auch wenn sie keine Erklärung dafür hatte, wie Teresa Summer ums Leben gekommen war, oder ob das plötzliche Auftreten von Michael Pipers erstem Anfall etwas mit dem mutmaßlichen Eindringling in seiner Wohnung zu tun hatte, ahnte Scully, von wem der mysteriöse Fingerabdruck in Teresa Summers Wohnung stammen mochte. Das Warum hatte sie gefunden, bloß das Wie fehlte. „Welches Wie?“, wies sie sich selbst zurecht. „Wahrscheinlich gibt es überhaupt kein Wie, denn ich bin immer mehr der Meinung, dass gar kein Mord stattgefunden hat. Allerdings wird man trotzdem jemanden verhaften müssen. Auch unterlassene Hilfeleistung ist strafbar, falls der Eindringling die Wohnung noch nicht verlassen hatte, als Teresa Summer einen Anfall bekam.“

Es würde schwer, ja unmöglich sein, dies festzustellen, aber dennoch war sie gesetzlich dazu verpflichtet, eine unangenehme Aufgabe zu erledigen und die letzte Person zu befragen, die Teresa Summer lebend gesehen hatte. Sollte ihre Vermutung über den möglichen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen sich als richtig erweisen, gab es lediglich zwei Möglichkeiten. Sie rieb sich die schmerzenden Schläfen und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Beinahe zwei Uhr morgens. In einem Anflug von Galgenhumor überlegte sie sich, dass sie, wenn sie sowieso schon hier war, eigentlich der Herkunft des Zitats aus dem Gedichtband nachspüren konnte, um Mulders abstruser Theorie von der ‘Geisterbotschaft’ endgültig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Daher griff sie nach ihrem Schlüsselbund und machte sie auf den Weg Richtung Archiv und Bibliothek, wo sie sicher ein Zitatenlexikon oder ein ähnliches Nachschlagewerk finden würde. Es kam ihr in den Sinn, dass sie sich erneut dabei ertappt hatte, wie sie regelrecht versessen darauf war, die Meinung ihres Partners zu widerlegen. Da sie den Gedanken daran gleich wieder verdrängte, dachte sie nicht daran, dass sie möglicherweise den Frust der letzten Zeit, den Streit mit ihrer Familie und ihre unbestimmte Wut an der falschen Person ausließ.

Schwer bepackt verließ sie das Archiv, um in den Keller des FBI-Gebäudes zurückzukehren. Im trübe glimmenden Schein der Notbeleuchtung erstreckten sich die langen, leeren Korridore vor ihr, aus deren Ecken und Winkeln die Schatten krochen und sich mit ihren dunklen Spinnenfingern vorwärts tasteten, so wie auch Michael Pipers und Teresa Summers Schatten sie eingeholt hatten. Aus einem finsteren Winkel ihrer eigenen Vergangenheit war ihre Nemesis heraufgestiegen, die in harmlos anmutender Gestalt zu ihnen gekommen war, kein Gespenst, sondern vielmehr das personifizierte Gewissen.

Tat es *ihm* leid, was er damals einem hilflosen Mädchen angetan hatte? Hatte *sie* vor ihrem Tod bereut? Fühlte sich Meg Myers schuldig? Selbst wenn die Reue sie nicht erreicht hatte, so teilte wenigstens Michael Piper das Gefühl, das ihn laut den psychologischen Gutachten der Staatsanwaltschaft am meisten an seinem Opfer gereizt hatte: Angst. Todesangst. Was für eine Ironie des Schicksals, das für die sprichwörtliche ausgleichende Gerechtigkeit gesorgt zu haben schien.
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