World of X

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November Rain

von Cat

Kapitel 1

Der Schwache kann nicht verzeihen.
Verzeihen ist eine Eigenschaft des Starken.
(Gandhi)


Eiskalter Novemberregen peitschte sintflutartig auf die Straßen, durchnässte in Sekunden die vereinzelt vorbeieilenden Passanten trotz ihres Regenschutzes. Der Himmel war dunkel und wolkenverhangen. Regenwasser strömte einer Sturzflut gleich den Straßenbelag hinunter und ergoss sich laut plätschernd in die überlastete Kanalisation. Selbst die herumlungernden Punks, die diese Ecke sonst rund um die Uhr belagerten, hatten in einem naheliegenden Cafe Unterschlupf gesucht. Hart prasselte der Regen gegen die große Sichtscheibe und rann in dichten Bächen das Glas hinunter. Die wenigen Gäste, die hier Zuflucht gefunden hatten, saßen weit verstreut an kleinen Tischen und mussten gegen das Trommeln des Wassers anreden. Eine grauhaarige, zierliche Frau balancierte drei Kuchenteller und eine Kaffeekanne geschickt durch den engen Gang und servierte diese ihren Gästen. Das wettergegerbte Gesicht war starr auf die Straße gerichtet, selbst die grünen Augen schienen bewegungslos zu sein. Dann zuckte sie unmerklich zusammen und begab sich wieder hinter den Tresen.

Ein lautes Tosen ließ sie plötzlich aufblicken. Ein großgewachsener und schlaksiger Mann betrat geduckt das Cafe. Trotz seiner Eile war es ihm nicht möglich, die Wassermassen am Eindringen zu hindern. Eine mittelgroße Pfütze hatte sich bereits im Eingangsbereich gebildet. Während er sich seinen Weg durch das Cafe bahnte, hinterließ sein tropfender Mantel eine feuchte Spur auf dem gelben Linoleumboden. Zielsicher steuerte er einen kleinen Ecktisch an, an dem bereits eine Frau auf ihn zu warten schien. Ihr Gesicht erhellte sich kurz und kaum merklich bei seinem Gruß. Dann jedoch formten ihre Lippen eine schmale Linie und sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Stück Apfelkuchen auf ihrem Teller zu, in dem sie seit zwanzig Minuten unablässig herumstocherte. Stumm betrachtete der Mann sein Gegenüber, ein melancholischer Film legte sich über seine Augen.

Eine Speisekarte ergreifend, trat Carol Scott auf das faszinierende Paar zu. Auch wenn sie nicht miteinander redeten, so schienen ihre Blicke und Gesten mehr als Worte zu sagen. Ein schönes Paar, wie sie fand. Seine haselnussfarbenen Augen konnten sich nicht von dem schön geschnittenen und blassen Gesicht der rothaarigen Frau losreißen. Nur mit einem kurzen Räuspern konnte Carol den Fremden auf sich aufmerksam machen.
„Wissen Sie schon, was Sie wollen, oder brauchen Sie die Karte?“
„Ich...“, sein Blick glitt zum Teller der Frau. „Bitte bringen Sie mir dasselbe. Und einen Cappuccino. Scully, trinkst du auch noch etwas?“, erkundigte er sich. Scully nannte er die Frau. Hatte sie sich so sehr geirrt? Waren diese Beiden womöglich doch kein Paar?
„Gerne, Sir. Ma’am?“ Erst jetzt reagierte die junge Frau mit einem erschrockenen Zusammenzucken. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie es war, die angesprochen wurde.

„Nein, danke. Ich habe nicht viel Zeit.“ Ihre Stimme war sanft und leise.
Carol nickte nur knapp und entfernte sich vom Tisch. Doch konnte sie ihre Augen nicht ganz von dem merkwürdigen Paar abwenden. Während sie den Cappuccino zubereitete und den Apfelkuchen auf einen Teller gab, kehrte ihr Blick immer wieder zum Ecktisch zurück. Der Mann schien mittlerweile penetrant auf die zierliche Frau einzureden.

Wenig später trat sie leise an die Gäste heran, um ihre Unterhaltung nicht zu unterbrechen. Und obwohl sie sich bemühte, das Gesagte zu überhören, die Stimmen auszublenden, konnte sie die gereizte Antwort der Rothaarigen nicht ignorieren.
„Mulder! Mir geht es gut! Ich bin zufrieden mit meinem Leben. Ich habe weitergemacht. Und das solltest du auch tun.“ Ihr nervöser Blick fiel auf ihre goldene Armbanduhr.
„Mein Flug geht in zwei Stunden. Ich weiß nicht, warum ich dich angerufen habe. Vielleicht war es keine gute Idee. Aber ich wollte dich wiedersehen.“ Verlegen senkte sich ihr Blick.
„Ich wollte dich auch wiedersehen“, beteuerte der dunkelhaarige Mann mit einem Blick, der selbst Eisberge zum Schmelzen bringen würde.
„Es sind zwei Jahre verstrichen. Zwei lange Jahre. Jahre, in denen ich dich vermisst habe“, gab er ihr zu bedenken.

Carol riss sich aus ihrer Starre und platzierte den dampfenden Cappuccino vor ihrem Gast, ebenso den Kuchenteller. Mit einem leichten Lächeln, das jedoch nicht seine Augen erreichte, bedankte er sich bei ihr.
Die rothaarige Frau reagierte auf Carols Anwesenheit nicht im geringsten. Ihr Blick ging in die Ferne, schien nichts um sich herum wahrzunehmen. Schleier hatten die intensiven blauen Augen verhangen. Ihre Mundwinkel zuckten kurz, dann erstarrte ihr feines Gesicht wieder. Schnell entfernte sich Carol vom Tisch.

Die elektrisierte Atmosphäre um diese seltsamen Fremden raubte ihr beinahe den Atem. Nach Luft schnappend, erreichte sie die sichere Zuflucht ihrer kleinen Theke. Sie wusste nicht, was es mit jenen Gästen auf sich hatte, ahnte nicht, was diese Beiden verband und auch gleichzeitig auseinander zu reißen schien, doch spürte sie den untrennbaren Bund, eine Verbindung, wie auch sie und Josef ihn gehabt hatten. Der Gedanke an ihren verstorbenen Mann trieb Carol Tränen in die Augen, die sie mit einer fahrigen Geste wegzuwischen versuchte. Sein Verlust schmerzte noch immer mit der gleichen Intensität der ersten Sekunde. All die aufkeimenden Gedanken aus ihrem Bewusstsein drängend, machte sich die rüstige alte Dame mit geschickten Händen daran, die Arbeitsfläche, die kaum einen Krümel aufwies, zu reinigen.

Doch diese Tätigkeit konnte sie nicht ausfüllen, ihren agilen Geist nicht am Denken hindern, also wanderten ihre Augen unaufhörlich zwischen der Frau und dem Mann in der Nische hin und her. Wussten sie, dass sie füreinander bestimmt waren? Wussten sie von der Fügung des Schicksals, die ihrer beider Leben eng miteinander verwebt hatte? Schon immer hatte Carol die Gabe besessen, zwischen den Zeilen zu lesen, die einzelnen Puzzleteile des Seins zu einem sinnvollen Bild zusammenzusetzen. Nein, sie konnte weder in die Zukunft schauen, noch hatte sie besondere geistige oder körperliche Fähigkeiten, doch vermochte sie Dinge zu sehen, die vielen Menschen verborgen zu sein schienen, die sie jedoch mit einer sich aufdrängenden Intensität wahrnahm. Sie spürte mit jeder Faser ihres Körpers den Bund, den die Seelen dieser jungen Menschen geschlossen hatten, auch wenn sie selbst sich dieser Tatsache scheinbar nicht sicher waren. Carol Scott hatte selten eine solch intensive Bindung in ihrem langen und bewegten Dasein gesehen, sich selbst und ihren Josef ausgeschlossen.

Drei junge Männer in Designeranzügen winkten ihr zu und schweren Herzens brach die alte Frau die Beobachtungen ab und kam ihrer Aufgabe nach. Freundlich und mit einem kleinen Scherz auf den Lippen verabschiedete sie ihre Gäste und räumte den Tisch ab. Abermals wurde ihr Augenmerk magisch von Mulder und Scully angezogen. Just in diesem Moment signalisierte der großgewachsene Mann ihr, eine erneute Bestellung aufzunehmen. Tief durchatmend, kam sie langsam auf das Paar zu. Ihre Anwesenheit hatte die Unterhaltung nicht unterbrochen.

„...Mulder, bitte. Du reißt nur alte Wunden wieder auf, die frisch verheilt sind. Lass uns wie die vernünftigen und erwachsenen Individuen, die wir sind, damit umgehen.“ Scullys Stimme zitterte leicht, sie hatte Schwierigkeiten, dem Mann ihr gegenüber in die Augen zu blicken.
„Die Vogel-Strauß-Methode nennst du vernünftig?“, ein leichter Anflug an Humor hing diesen Worten an. Doch Scully konnte darüber nicht lachen, nicht einmal ein Lächeln legte sich auf ihre vollen Lippen. Augenblicklich wurde Mulder wieder ernst.
„Glaubst du wirklich, dass all die Dinge, die wir miteinander erlebt haben, die wir überlebt haben, dass unsere Freundschaft und Gefühle zueinander, es nicht wert sind? Vielleicht sind unsere Wunden verheilt, vernarbt, aber sie sind entzündet. Und eine entzündete Verletzung muss wieder aufgerissen werden, um sie zu heilen. Das solltest du wissen, Dr. Scully.“ Carol bewunderte die Bestimmtheit, mit der Mulder seine Gefühle zum Ausdruck brachte, sich nicht vom bohrenden und drohenden Blick der zierlichen Frau an seinem Tisch einschüchtern ließ.

„Sir, darf ich Ihnen noch etwas bringen? Ma’am?“ Schnell wechselte ihr Blick zwischen beiden Gästen hin und her.
„Ja, einen Kaffee für mich bitte.“
„Gerne.“ Auffordernd schweifte Carols Blick zu Scully ab. Sie rechnete eigentlich nicht damit, dass die junge Frau noch etwas zu sich nehmen wollte, vielmehr mit einem abermaligen Hinweis auf ihren baldigen Flug. Doch zu ihrer und Mulders Verwunderung nickte sie nur kaum merklich.
„Einen Tee, bitte, keinen schwarzen“, bestellte sie mit seidenweicher Stimme.
„Sehr gerne, kommt sofort!“, bestätigte Carol fröhlich und verschwand abermals in ihrer Nische, um die Getränke zuzubereiten. Sie drängte sich zur Eile. Ein Schamgefühl machte sich in ihr breit. Es entsprach nicht dem Anstand, ein Gespräch zwischen zwei Gästen zu belauschen, und doch war sie zu fasziniert von dem Gehörten, als dass sie sich jetzt noch uninteressiert abwenden konnte. Langsam näherte sie sich der Ecke erneut.

„Ich habe hart daran gearbeitet, mir ein neues Leben aufzubauen, einen erfüllenden Job zu finden und über die Geschehnisse zwischen uns hinwegzukommen. Es waren keine leichten zwei Jahre, Mulder. Bei weitem nicht. Doch ich habe es geschafft, ich bin zufrieden mit den Dingen, wie sie nun sind. Ich fühle mich in San Diego wohl“, trotzig verschränkte Scully ihre Arme vor der Brust, signalisierte ganz klar eine Abwehrhaltung.
„Das freut mich, wirklich, Scully...Dana.“ Die persönliche Ansprache ließ die blauen Augen der Frau zornige Funken versprühen. Mulder rutschte verlegen tiefer in die Bank. Jetzt war es an ihm, Blickkontakt zu meiden.
„Wie dem auch sei. Es war gut, dass ich dich angerufen habe. Diese Sache stand zwischen uns und das hat mich belastet. Ich bin froh, dass wir nach dem, was du getan hast, zivilisiert miteinander umgehen können.“
Nun erwachte er aus seiner stummen Resignation und richtete sich augenblicklich zu seiner vollen Größe auf.

Wortlos stellte Carol die Tassen vor ihren Gästen ab und kehrte ihnen sofort wieder den Rücken zu. Hier zog sich gerade ein Orkan zusammen, und sie wollte sich nicht zwischen den Sturmfronten gefangen sehen. Eilig begann sie, die umliegenden Tische mit einem sauberen Tuch abzuwischen, jedoch jedes einzelne Wort des Paares in sich einsaugend.

„Ich war also schuld?“, bestürzt, fast schon anklagend klang der dunkelhaarige Mann.
Verwundert blickte die Frau auf, zog eine perfekte Augenbraue in die Höhe.
„Zu einem Streit und einer Trennung gehören immer noch zwei, Scully.“ Den Satz unnatürlich in die Länge ziehend, wurde Mulder lauter.
„Das bestreite ich auch nicht. Du kannst aber nicht leugnen, dass du es warst, der mich von dir weg gestoßen hat. Immer häufiger hast du waghalsige Alleingänge unternommen, ohne mir ein Sterbenswort davon zu sagen. Das tat weh, Mulder. Nicht nur als deine Partnerin, sondern auch, und gerade als deine Freundin.“ Traurig wurde Scullys Stimme immer dünner. Die letzten Worte verloren an Substanz, während die rothaarige Frau vorsichtig an ihrem Tee nippte. Ihre gesamte Körperhaltung erinnerte an ein in die Enge getriebenes Tier.
„Ich wollte dich nie in Gefahr bringen, ich wollte dich schützen“, beteuerte Mulder.
„Nennst du anlügen, rausschleichen und dein Leben aufs Spiel setzen, jemanden schützen? Tut mir leid, Mulder, da unterscheidet sich meine Definition bedeutend von deiner. Aber weißt du, was das Schlimmste war?“ Diese Frage hing unheilverkündend in der Luft, einer dunklen Gewitterwolke gleich, die sich mit voller Gewalt zu entladen drohte.
Als der Mann weiterhin schwieg, ergriff Scully abermals das Wort. Ihre Stimme war so leise, dass Carol gebannt in ihren Bewegungen innehielt, um alles zu verstehen.

„Du hast mich hintergangen.“ Mulder musste deutlich schlucken, was seinen Adamsapfel tanzen ließ. Kurz schloss der Mann die Lider, scheinbar um sich zu sammeln, dann jedoch blickte er seiner Ex-Freundin direkt in die Augen. Abermals war die Spannung, die von den beiden Gästen ausging, für Carol Scott nur zu deutlich spürbar.
„Ich habe dich nicht hintergangen. Ich wollte nur, dass du sicher bist. Ich konnte den
Gedanken nicht ertragen, dass ich dich vielleicht verlieren könnte.“
„Zu spät. Und wie, wenn nicht hintergehen, nennst du es, wenn ich von Skinner erfahren musste, dass mich mein Partner und Senioragent ohne mein Wissen versetzen lassen wollte? Nichts hast du mir gesagt, gar nichts.“ Vorwurfsvolle Worte mit einem Hauch von Bedauern ausgesprochen. Eine erdrückende Stille legte sich über das Paar, einzig von dem lautstarken Prasseln des Regens untermalt.

„Ich wollte es dir noch sagen. Nur fehlte es mir an Zeit und Gelegenheit. Dana, unser letzter gemeinsamer Fall war knapp. Zu knapp. Hast du den Hauch einer Ahnung, wie es sich anfühlt, die Frau, die man liebt, schwer verletzt in den Armen zu halten, zu beten, dass der verdammte Rettungshubschrauber eintrifft, bevor sie zu viel Blut verloren hat, bevor sie durch meinen Fehler stirbt?“ Mulders Stimme brach und befangen krallten sich seine feingliedrigen Finger um seine Kaffeetasse. Diese ergreifenden Worte verfehlten ihr Ziel nicht, erfassten die junge Frau mit einem merkbaren Schaudern.
„Mulder, Fox… es war ein Hinterhalt und keinesfalls lag die Schuld daran bei dir. Ich habe den Beruf einer FBI-Agentin bewusst gewählt, kenne alle Gefahren und Konsequenzen, weiß um die Möglichkeit, mein Leben im Einsatz zu verlieren. Und doch ist es meine Wahl, war niemals deine und wird es auch niemals sein. Wir waren Partner, Mulder, beruflich und privat, und ich hatte das Gefühl, dass du, ausgerechnet der Mann, dem ich am meisten auf dieser Welt vertraue, mir in den Rücken gefallen ist.“

Merkte Dana Scully, dass sie nicht in der Vergangenheit gesprochen hatte? Dass sie ihm noch immer vertraute? Ja, das Verhältnis der Agenten war sichtlich gestört, doch der Schaden schien keinesfalls irreparabel. Würde es den beiden gelingen, die Vergangenheit aufzuarbeiten und hinter sich zu bringen? Carol wünschte es sich. Ein so starker Bund, durch Zusammenhalt und Liebe gestärkt, und doch durch die Banalität der menschlichen Schwächen erheblich geschädigt, durfte nicht zerstört werden. Zu selten hatte sie wahre Liebe in der immer kälter und selbstverliebter werdenden Gesellschaft, in der sie lebte, gesehen.

Tisch für Tisch arbeitete sich Carol vor, das Paar nie ganz aus den Augen lassend. Das wenige Gehörte machte diese beiden Menschen in ihren Augen nur um so stärker. Unauffällig musterte sie die attraktiven jungen Leute. FBI-Agenten hatte sie sich immer anders vorgestellt. Vor allem die Zierlichkeit der Frau täuschte über die Tatsache hinweg, dass sie durchaus in der Lage zu sein schien, eine Waffe zu halten und auch damit umzugehen. Abermals wurde ihr bewusst, wie sehr ein erster Eindruck und die Wirklichkeit voneinander entfernt liegen konnten. In all den Jahren, in denen sie hier gearbeitet und ihre niedrige Rente aufgebessert hatte, hatte sie sich in den langen Nächte, in denen nur wenige Gäste den Weg hierher gefunden hatte, die Zeit damit vertrieben, die Anhaltspunkte über die Lebensumstände ihrer Mitmenschen geschickt miteinander zu kombinieren. Oftmals musste sie sich in der Rolle des stummen Beobachters üben, in anderen Fällen hatten Männer und Frauen bereitwillig selbst Auskunft gegeben, ihre Ratschläge nahezu gesucht. Die unterschiedlichsten Menschen, verschiedener Herkunft, Konfession und Persönlichkeit. Schicksale, die sie verblüfften, zum Schmunzeln brachten oder gar erschreckten. Doch nicht viele hatten auch nur eine ähnliche Faszination auf sie ausgeübt, wie es Mulder und Scully taten.

„Dana, wenn ich die Möglichkeit hätte, diesen Fehler ungeschehen zu machen, es gäbe nichts, was ich lieber tun würde. Doch selbst für dich kann ich die Vergangenheit nicht ändern. Die Sorge um dich, deine persönlichen Verluste, die dir durch mich und die X-Akten widerfahren sind, machten mich wahnsinnig. Nichts Neues, ich weiß.“ Kurz grinste er, sprach dann aber mit der gleichen emotionsgeladenen Stimme weiter, die nicht nur Dana, sondern auch Carol zutiefst berührte. „Ich wollte, nein, ich musste dich aus der Reichweite der X-Akten bringen. Die Art und Weise, wie ich es getan habe, ist nicht entschuldbar. Wenn ich dich als Partner verloren hätte, dann wäre wohl auch meine Karriere beim FBI beendet gewesen. Du kennst mich und weißt, wie ich damit umgegangen wäre... Doch dich als Dana Scully zu verlieren, als die Frau, die ich liebe, hätte mich nicht nur aus der Bahn geworfen, es hätte mich vernichtet. Allein der bloße Gedanke daran bereitet mir Albträume.“ Einen kurzen Moment hielt er inne, scheinbar, um die passenden Worte zu finden.

„Ich möchte dich um etwas bitten.“ Noch ehe die rothaarige Frau Protest einlegen oder gar auf sein Geständnis reagieren konnte, beschwichtigte Mulder sie mit einer einhaltenden Geste. Schnell und hastig brachte er das, was so schwer auf seinem Herzen zu lasten schien, über seine Lippen. Er klang atemlos, wie ein unsicherer Schüler, der eine unangenehme Frage seines Lehrers hinter sich bringen wollte.
„Flieg noch nicht nach San Diego zurück.“ Verwunderung stand in Danas Gesicht geschrieben. Nervös und unsicher nippte sie an ihrem Tee. Mulder hingegen versuchte, mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Carol erkannte Angst in den ausdrucksstarken Augen, die unablässig die Frau ihm gegenüber musterten, Blickkontakt jedoch mieden. Angst vor Zurückweisung, Angst davor, Dana Scully ein zweites Mal zu verlieren.
„Das geht nicht, ich habe Termine. Ich... ich hätte nicht herkommen dürfen.“ Erkennen flackerte in Mulders Augen auf. Er war nicht der einzige, der Furcht empfand.
„Du hast Angst“, stellte er nüchtern fest. Keine Zurechtweisung oder Schadenfreude, vielmehr Verständnis für eine durchaus nachvollziehbare und menschliche Reaktion.
Nicht die Kraft findend, dies einzugestehen, schob Scully lediglich ihren Teller mit dem Apfelkuchen, der mehr an Apfelmus erinnerte, von sich fort.

Der männliche Agent nickte nur schwach.
„Ich habe auch Angst.“ Ein Zugeständnis, und doch vermochte das Wort Angst es nicht, all die Dimensionen aufzuzeigen, die es umfasste. Es schien nicht richtig zu sein, klang einfach falsch. Carol kannte diese Art von Angst. Sie selbst wäre von dieser Emotion, die bei Josefs Tod in gigantischen und grollenden Wellen auf sie zugeschossen kam, beinahe verschlungen worden. Es war keine einfache Angst gewesen, wie vor einer hohen Achterbahnfahrt, nein, es war eine elementare, markerschütternde und atemraubende Panik. Unweigerlich erfasste ein Schaudern ihren Leib. Auch der Mann am Ecktisch schauderte, als wüsste er um ihre Qualen, als wären die seinen zugleich auch ihre. Ruckartig hob Mulder seinen Kopf, starrte die alte Frau mit einem merkwürdigen, nahezu wissenden Blick an. Hastig drehte er sich zur Seite, unterbrach somit den Blickkontakt. Unterbrach die Flut an Gefühlen und Emotionen, die rasend schnell durch Carols Geist jagten. Eindrücke und Bilder, die zu ordnen und katalogisieren Carol Scott wohl eine Ewigkeit brauchen würde.

Scully in Mulders Armen auf dem Boden liegend – überall Blut – ein schwacher, kaum fühlbarer Puls – Blut, zu viel Blut – Hilfe, warum hilft denn niemand?

Scully mit eingefallenen Wangen, totenbleich in einem Krankenbett – Gehirntumor – inoperabel – so zierlich, so zerbrechlich – Ich kann nicht ohne dich weiterleben.

Zwei große Männerhände, zwei kleine Frauenhände – Ein Baseball-Schläger – Körperkontakt – der Duft ihrer frischgewaschenen Haare – glücklich!

Zwei nackte Körper im Einklang miteinander – zärtliche Liebkosungen – Küsse – Ich liebe dich, Fox! – Ekstase!


Völlig gefangen versuchte Carol die Erinnerungen, die so lebendig und vertraut schienen, jedoch auch völlig fremd und überwältigend waren, abzuschütteln. Teilte Mulder jetzt auch ihre Gefühle? Ein prüfender Blick auf das Paar am Ecktisch verriet ihr, dass der großgewachsene Mann entweder nicht die selbe Intensität dieses Kontaktes spürte, oder aber einen Weg gefunden hatte, die Erinnerungsfetzen aus Carols Leben zu verdrängen. Seine Gesichtszüge wirkten angespannt, als mahlte er unaufhörlich die Zähne aufeinander. Doch wusste sie nicht, ob nicht vielleicht auch seine Unterhaltung mit Dana Scully der Grund dafür war.

„...Sache aus der Welt schaffen. Dana, der Gedanke, weiterhin kein Wort mit dir zu wechseln, dich zu vermissen, ist nicht zu ertragen. Diese zwei Jahre waren die Hölle. Jedes Mal, wenn ich dachte, über dich hinweg zu sein, holte mich die Vergangenheit schlagartig wieder ein. Du bist nicht nur die Frau, die ich liebe, du bist auch meine beste Freundin. Die wichtigste Person in meinem Leben.“ Mit rauer und belegter Stimme versuchte Mulder, Dana zu überzeugen, sie zurückzugewinnen. Ein erleichtertes Lächeln umspielte Carols schmale Lippen, als sie die einsame Träne, die sich die Wange der hellhäutigen Frau hinunterbahnte, wahrnahm. Weitere folgten ihrer Spur, andere Tränen verfingen sich in den langen Wimpern, die Dana wegzublinzeln versuchte. Vergebens.

Sie hob eine perfekt manikürte Hand und versuchte, die Nässe aus ihrem Gesicht zu wischen. Beinahe benommen verfolgte Mulder jede noch so kleine Bewegung.
„Warum jetzt? Warum ausgerechnet jetzt, wo es mir wieder etwas besser geht?“ Mit tränenerstickter Stimme versuchte Scully, über all diese Emotionen und Schmerzen Herr zu werden. Nach einer Antwort suchend, hefteten sich ihre ausdrucksstarken blauen Augen auf Mulder.

„Dana, es ist nicht meine Absicht, dir weh zu tun. Gott bewahre. Aber dieses Gespräch war überfällig...“ Der Agent wirkte, als wolle er noch etwas hinzufügen, etwas Bedeutendes, doch kein weiteres Wort kam über seine Lippen.
„Was genau willst du von mir?“ Dana Scullys Stimme hatte einen schrillen Ton angenommen, was einige Gäste dazu brachte, sich neugierig nach dem streitenden Paar umzublicken. Verlegen rutschte sie tiefer in die Bank.
„Ich will Alles. Alles, was du mir geben kannst. Ich sage nicht, dass ich dort weitermachen möchte, wo wir aufgehört haben – ich spreche von einem Neuanfang.“

Carol konnte den Kampfgeist dieses Mannes nur bewundern. Sie verspürte das drängende Gefühl, an den Tisch zu gehen, Dana Scully zu schütteln und ihr vor Augen zu halten, wie sehr Fox Mulder sie liebte. Wie selten eine derartige Liebe war. Doch Carol erkannte an der Körperhaltung der jungen Frau, dass diese sich von Mulders Ausbruch in die Defensive gedrängt fühlte. Unwillkürlich richtete sie ihren zierlichen Körper zu voller Größe auf.

„So einfach ist das nicht. Und von den persönlichen Problemen einmal abgesehen, gibt es einfach zu viele andere Schwierigkeiten. Du lebst in DC, ich in San Diego – um nur eine zu nennen.“ Traurig klang sie jetzt, beinahe resignierend. Doch Mulder und Carol erkannten, dass Dana nur noch ein winziger Anstoß zu fehlen schien, um Fox eine zweite Chance einzugestehen. Doch bevor der männliche Agent auch nur ein Wort sagen konnte, legten sich zwei Finger über seine Lippen.

„Fox, ich brauche etwas Zeit. Es ist einfach zu viel auf einmal. Bitte, versteh’ das.“ Ein flehender Ausdruck legte sich auf Scullys Gesicht.
„Natürlich verstehe ich das. Ich… ich bin froh, dass du es in Betracht ziehst, darüber nachzudenken. Und egal, zu welcher Entscheidung du kommen wirst, ich werde sie akzeptieren. Alles, was ich möchte, ist, dich in meinem Leben zu haben. Als was, das entscheidest du. Ich liebe dich.“ Dieses Mal kämpfte Fox gegen seine Tränen an, die sich ihren Weg an die Oberfläche zu bahnen schienen.
“Ich... ich denke, ich werde dich jetzt alleine lassen, damit du in Ruhe nachdenken kannst. Meine Nummer hat sich nicht geändert. Ich werde auf deinen Anruf warten.“ Aus seiner Brieftasche zog er eine 10-Dollar-Note und ließ diese auf dem Tisch liegen. Langsam erhob sich Mulder. Unsicher sah er abermals zu der Frau hinab, die alles auf der Welt für ihn bedeutete. Nervös verringerte er die Distanz und griff nach Danas Hand. Verwunderung stand in ihrem Gesicht geschrieben, doch wehrte sie seine Berührung nicht ab. Zärtlich verband er seine Finger mit den ihren, übte einen kurzen Druck aus und brachte dann ihren Handrücken an seine Lippen. Zart hauchte er einen Kuss auf ihre Haut.

Carol nahm ein Schaudern der rothaarigen Frau wahr. Dieser kleine und vollkommen harmlose Kuss brannte vor Intensität, spülte all die verdrängten Gefühle an die Oberfläche, machte ein greifbares Verlangen nach Liebe sichtbar. Dann ließ Mulder Danas Hand sinken, lächelte sie zum Abschied noch ein letztes Mal liebevoll an. Von Emotionen überrannt, schloss diese hilflos ihre Augen, versuchte all die Empfindungen in ihrem Innersten zu ordnen. Völlig gefesselt verfolgte die alte Frau jeden Schritt, den der Mann auf den Ausgang zu tat. Ein letztes Mal drehte sich Fox Mulder um, blickte Carol direkt in die Augen. Die Gefühle, die jetzt von ihr Besitz ergriffen, verdrängten alles andere aus ihrem Bewusstsein. Es waren keine einzelnen Fetzen wie beim letzten Mal, nein, jetzt gab es nur noch einen beherrschenden Gedanken.

Bedingungslose und unendliche Liebe der Frau gegenüber, die noch immer mit geschlossenen Augen am Ecktisch saß. Als ihre Knie nachgaben, ließ sich Carol erschrocken auf eine der gepolsterten Bänke fallen, verzweifelt krallte sie sich am Rand des Tisches fest. Agent Mulders Gedanken raubten ihr den Atem, ließen die grauhaarige Frau leise keuchen und nach Luft schnappen.
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