World of X

Das älteste Archiv für deutsche Akte-X Fanfiction

Spiel des Lebens

von Stefan Rackow

Kapitel 15

[ 8 ]

„Das Lächeln einer Katze“



Blitze zuckten gen Decke, elektrisch erzeugte Energie, abgesondert von zwei gigantischen Elektroden, welche majestätisch auf einer metallenen Maschine prangten, die in der Mitte des riesigen Raumes stand und unaufhörlich vor sich hin surrte. Um die Maschine standen mehrere Gerätschaften, die Hochleistungscomputern glichen, allesamt mit Kabeln und Drähten verbunden mit der riesigen Apparatur inmitten des Raumes, scheinbar die Haupteinheit.

Die Gerätschaften, zwölf an der Zahl, zeigten auf großen TFT – Schirmen sich stetig ändernde Datenströme an; dünne gelbe Linien, deren Gradlinigkeit hier und da durch einen Ausschlag zum oberen Rand des Monitors unterbrochen wurde. Die dabei auftretenden Geräusche erschufen den Eindruck, man befände sich in einem Krankenhaus, in der Nähe eines EKG – Gerätes, und nicht in einem meterhohen Raum, irgendwo in Amerika. Reyes fühlte sich an eben ein solches Gerät angeschlossen, denn ihr Herz pochte bis zum Hals, schnelle Schläge, und das Piepen hier in dem Raum war nichts anderes als ein Ausdruck ihrer Fassungslosigkeit. Nichts anderes als ihr Herzschlag...

Doggett blickte um sich und musste die Augen mehrmals öffnen und schließen, denn Derartiges hatte er noch nie zuvor gesehen. Sein Verstand verzog sich für einen kurzen Augenblick in die hinterste Ecke in seinem Kopf, versteckte sich in der Dunkelheit und harrte aus.

Immer wieder schossen Blitze aus den Elektroden und verschwanden im Nichts, als hätten die Gesetze der Logik hier in diesem Augenblick keine Gültigkeit mehr.



Steve Mac Finn fühlte sich seltsam. Er fühlte sich leicht, so als wäre ihm eine schwere Last genommen worden, eine Belastung, die ihn all die Jahre mehr als nur erheblich beeinträchtig hatte und die nun im Nirgendwo verschwunden war. Er versuchte sie in seinen Gedanken zu benennen, ihr einen Namen zu geben, doch er war außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Nur einer Sache war er sich bewusst: er war glücklich; zum ersten Mal in seinem Leben war die Anspannung verschwunden.



„Das, meine Damen und Herren, ist das Herzstück.“



Die drei Personen wurden durch Rob Hermes’ Worte unsanft aus ihren Gedanken gerissen. Der Entführer stand nicht unweit der riesigen Maschine in der Mitte und deutete mit den Fingern auf etwas. „Sie mögen glauben, diese Apparatur hier ist das, was ich vorhin immer als Herzstück betitelt hatte“, warf er in den Raum, und seine Worte hallten gespenstisch wider, als sie sich mit dem Surren und mechanischen Brummen vermischten und von der gegenüberliegenden weißen Wand reflektiert wurden. „Sie glauben in diesem Fall falsch... denn das hier ist nicht viel mehr als eine Erweiterung, die im Laufe der technischen Verbesserung der Möglichkeiten hinzugefügt wurde. Man könnte es als Upgrade bezeichnen.“

„Das ist nur die Hülle...“, bemerkte Reyes plötzlich und wunderte sich, dass ihr dieser Gedanke gekommen war. „Das hier ist nicht viel mehr als eine Ummantelung des eigentlichen Herzstücks!“ – Sie stockte und blickte zu Doggett, dessen Augen sie gar nicht ansahen, sondern in den Weiten dieses Raumes nach etwas, das man nicht fassen, geschweige denn greifen konnte, zu suchen schienen – nach der Möglichkeit des Glaubens.

Die Agentin schloss kurz die Augen, um die aufkommende Unsicherheit zu unterdrücken. Nein, dachte sie, noch kann ich ihm bei der Suche nicht helfen. Noch nicht. Vorher wollte sie sehen, erkennen, die Fassungslosigkeit wegen des jetzt noch so unglaublich Klingenden in abrufbare Bilder umwandeln – Bilder, die sie zuvor mit eigenen Augen gesehen hatte. Erst dann wollte sie sich zwischen Glauben und nicht glauben entscheiden. Erst dann. „Das wahre Herzstück befindet sich dort“, sagte sie schließlich und deutete an Hermes vorbei, welcher ihrem Fingerzeig mit den Augen folgte und, als er am Ziel ankam, anfing zu lächeln. Doch es war kein freundliches Lächeln. Es war das Lächeln einer Katze, die der Maus mit der rechten Tatze die Freundschaft anbot, während die linke Tatze hinter dem Rücken langsam die Krallen ausfuhr, um die Maus blitzschnell und völlig unerwartet festzunageln. Das Lächeln über einen nahenden Triumph lag auf Hermes’ Lippen, und Reyes musste unweigerlich einen dicken Kloß in ihrem Hals herunterschlucken.

„Agent Reyes, wenn Ihr manchmal doch so kluger Verstand nur etwas auf die Übrigen abfärben würde“, erwiderte Hermes, und augenblicklich verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht, als er zu Mac Finn und Doggett blickte. „Wenn Sie mir bitte folgen würden...“

Mit diesen Worten schob er Reyes vor sich her und positionierte sie vor dem, auf das sie vor wenigen Sekunden noch gezeigt hatte. „Stellen Sie sich neben Agent Reyes, meine Herren und sehen Sie, denn das hier ist die Haupteinheit, wie Agent Reyes schon richtig erkannt hat. Wenn Sie sich jemals gefragt haben sollten, warum dieser Baum so grün, dieser Vogel so bunt oder der Himmel so blau ist – hier ist die Antwort. Die Antwort auf all Ihre Fragen.“ - Er machte eine kurze Pause und wischte sich das linke Auge - „Mein Gott, ich bin jedes Mal wieder aufs Neue überwältigt, wenn ich nur daran denke.“ – Hermes sagte danach nichts mehr, sondern sah, genauso wie die drei Anderen, auf das kleine unscheinbare Stück Metall, den Ursprung allen irdischen Lebens, der im Laufe der Zeit mit anderen Maschinen verbunden worden war, um die Möglichkeit seiner Leistung ins nahezu Unendliche zu steigern. Ein Deus ex machina, von Menschenhand perfektioniert und vielleicht gerade deshalb eine tickende Zeitbombe, in den Deckmantel der „guten Sache“ gehüllt. Eine Vermutung, eine Frage, auf die die Maschine ausnahmsweise keinerlei Antwort geben konnte.



*



J. Edgar Hoover Buildung, Washington, D.C., Kellergeschoss



Mulder saß auf dem Schreibtischstuhl und lehnte seinen Kopf an die Kopfstütze, während seine Füße auf dem Schreibtisch ruhten. „Normalerweise hatte ich immer einen genialen Einfall, wenn ich damals so da saß und über einen Fall nachgedacht habe“, sagte er etwas flapsig und versuchte zu lächeln. „Aber es scheint, dass mir diese Gabe mit der Kündigung genommen wurde.“

„Der Fall macht einen fertig, das ist der Grund“, erklärte Scully, deren Stimme schwach und kraftlos klang. Die Ärztin lehnte an einem Aktenschrank, in der rechten Hand einen heißen Becher Kaffee haltend. „Wenn man nicht weiß, was man als nächstes zu tun hat, dann fühlt man sich leer. Und aus dem Nichts können keine Geistesblitze erwachsen.“

„Mich wundert, dass ich unten eingelassen wurde. Ich dachte eigentlich, dass man froh wäre, mich endlich los zu sein.“

Scully lächelte. „Die Spitze im FBI, die uns Vorgesetzen – alle haben natürlich mitbekommen, dass zwei ihrer Agenten vermisst werden. Und in der Not besinnt man sich auf das, was man früher mal hatte. Und du kannst es drehen und wenden, wie du willst: du warst eines der besten Pferde im Stall, auch wenn es dir niemand direkt ins Gesicht sagen würde. Vielleicht hat ja auch der ein oder andere etwas nachgeholfen...“

„Du meinst...?“

„Ich meine gar nichts“, entgegnete Scully rasch und trank einen Schluck Kaffee. „Ich meine, dass wir etwas tun müssen.“

„Fassen wir noch mal zusammen“, begann Mulder nachdenklich und blickte zur Decke, in der mehrere Bleistifte steckten, „Doggett, Reyes und ein Professor mit sehr seltsamen Vorstellungen sind entführt worden. Doch die Entführer gingen unvorsichtig vor und hinterließen einen Hinweis, der uns auf die Spur eines Mannes namens Rob Hermes brachte, welcher vor zwei Jahren unter mysteriösen Umständen aus seiner Wohnung verschleppt wurde.“ –Mulder überlegte – „Ich vermute ja immer noch, dass von vornherein geplant war, Hermes zu entführen. Ebenso muss schon damals festgestanden haben, dass diese Person Doggett und Reyes entführen sollte. Irgendjemand hat da seit vielen Jahren an einem ausgeklügeltem Plan gefeilt, der jetzt nach und nach in die Tat umgesetzt wird. Und dieser Jemand bezweckt etwas damit. Die Frage ist nur, was?“

„Du meinst also, dieser Hermes hat nicht aus Eigeninitiative gehandelt, sondern hat gehandelt, weil er handeln sollte?“ – Scully trank einen weiteren Schluck.

„Hm... im Prinzip ja. Ich denke, er musste handeln, da er nicht anders konnte.“

„Du glaubst immer noch an Gehirnwäsche, oder?“

„Es liegt nahe, daran zu glauben“, bemerkte Mulder und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. „Was hatte der alte Mann gesagt? Rob hätte so etwas nie getan bzw. hätte tun können. Und der alte Mann wirkte nicht irgendwie senil...“

Scully seufzte. „Was auch immer... wir wissen immer noch nicht, was wir tun können und ob Doggett, Reyes und Mac Finn überhaupt noch am Leben sind. Ich ... ich fände, das Schrecklichste, was uns widerfahren könnte, wäre, die drei letztlich tot zu finden. Der Gedanke, dass man das hätte verhindern können, aber aufgrund von Ratlosigkeit nicht wusste, was zu tun war, würde an einem nagen, bis es einen völlig zerfrisst.“

„Noch leben sie...“, sagte Mulder leise und nahm die Füße vom Schreibtisch. „Noch sind sie am Leben, denn wenn sie wirklich schon tot sein sollten, hätten die Entführer es uns längst wissen lassen. Als Drohung, Warnung ... was auch immer.“ - Er knetete seine Unterlippe mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand – „ich bin mir ganz sicher, dass sie noch leben.“

Scully stellte den Becher ab und nahm auf einem unbequemen Holzstuhl Platz.

„Dein Wort in Gottes Ohr“, hauchte sie leise und ließ ihren Gefühlen freien Lauf.





[ 9 ]

„Ein denkwürdiger Tag“



„Das ist absolut verrückt...“, stammelte Reyes und musste an sich halten, nicht die Nerven zu verlieren. Mit vor Erstaunen weit aufgerissenen Augen blickte die Agentin auf das kleine Metallstück, welches mittels eines komplizierten Mechanismus’ mit der imposanten Maschine verbunden war; ein Meer von Kabeln und Drähten - die zum Leben erwachte kranke Perversion eines Visionärs - das vormals so Unbegreifliche, welches nun begreiflich geworden war - bot sich den Augen der vier Personen dar. Jede Vorstellung, jeder Gedanke zog sich in diesem Augenblick zurück, machte Platz für die Wahrnehmung, schuf Raum für die Bilder, welche die Augen der Personen aufnahmen.

„Man erscheint klein, wenn man es anstarrt, nicht?“ – Rob Hermes wandte seinen Blick nicht ab, sondern sprach in Richtung des Metallstücks, so als ob ein Abwenden das Artefakt betrüben könnte. Dem jungen Mann schien nichts ferner zu liegen... – „Wenn man hier so steht und auf es herabstarrt, dann ist es so, als ob man zu ihm heraufschaut. Ein gedanklicher, metaphorischer Perspektivwechsel...“

„Ja“, sagte Reyes leise, beinahe in Trance, denn von dem Stück Metall ging eine gewisse Magie aus, eine Faszination, derer sie sich nicht entziehen konnte. Sie konnte diese Faszination in dem Moment noch nicht in Worte fassen, geschweige denn sich begreiflich machen, warum sie den Blick nicht abwenden konnte. Erst kurz darauf erkannte sie, dass der Grund wohl der war, dass hier vor ihr das lag, was ihre Arbeit sinnlos erscheinen ließ. Alles, wofür sie gearbeitet hatte, führte zu diesem Artefakt aus grauer Vorzeit zurück; jeder Tag war verknüpft mit der außerirdischen Scherbe, die nun Teil war eines nicht in Worte zu fassenden mächtigen Ganzen. Das Stück war alles. Und nun stand sie davor und kam sich vor, als wäre sie am Ende einer Sackgasse angelangt. Wo sollte sie noch hin? Was konnte sie noch erreichen, wo sich doch nun alles vor ihr darbot?



*

Der Beobachter vor den PC – Monitoren sah die Fassungslosigkeit in den Augen der Personen. Er meinte sogar, ihre Anspannung greifen zu können, derart stark schien sie sich in jedem Einzelnen manifestiert zu haben.

Der geheimnisvolle Mann im Hintergrund streckte für einen kurzen Moment die Hand zum Bildschirm aus, um etwas zu fassen, was nicht da war, und zog sie plötzlich wieder ruckartig zurück. Sein Herz raste. Er hatte gelogen, als er meinte, dass es jetzt noch zu früh wäre, Schlüsse aus dem Verhalten der Gefangenen zu ziehen. Nein, er erwartete es. Er rechnete fest damit, sehnte es regelrecht herbei. Nur war er sich der Sache bewusst, dass er diese Einstellung niemals nach außen hin zeigen durfte. Zu gefährlich wären die Folgen, da nicht abzusehen. Er sah noch einmal auf den Bildschirm, auf Reyes’ weit aufgerissene Augen. Unmerklich öffnete der geheimnisvolle Mann die geradeeben noch zum Bildschirm ausgestreckte Hand, so als ob er hoffte, die Entscheidung der Personen aus dem Bildschirm gezogen zu haben.

Doch die Hand war und blieb leer.



*



20 Minuten später



Das Weiß der Zelle wirkte für Reyes schwarz. Sie war von wirbelnden Gedanken umgeben, die um sie kreisten. Wort für Wort, Silbe für Silbe. Und sie versagte jedes Mal kläglich, als sie versuchte, dem ganzen einen Sinn zu geben. Sie stieß einen stummen Schrei aus; doch auch dieser verscheuchte die Gedanken nicht.

Die Agentin hatte gar nicht richtig mitbekommen, wie sie zur Zelle zurückgeleitet worden war. Ihre Augen sahen nicht mehr das, was sie sehen sollten, ihre Ohren versagten ihr den Dienst und wiederholten nur ein ums andere Mal einen Satz.







Irgendwo in der Ferne hörte sie jemanden ihren Namen rufen. Sie kannte sie Stimme, konnte sie aber nicht einordnen.

Das Netz aus Gedanken umgab sie weiter.



*



„Monica!“



Doggett saß neben Reyes in der weißen Zelle und hatte beide Hände auf ihre Schultern gelegt. „Monica, komm’ wieder zu dir!“

Seit sie in der Halle standen, war sie weggetreten, schien in ihrer eigenen kleinen Welt zu leben. Er schüttelte sie noch einmal fest, so dass ihre Haare wild durcheinander flogen.

„Monica, verdammt noch mal. Sprich mit mir!“



*



Irgendetwas durchbrach in diesem Moment das Netz. Es waren Worte. Worte, die ihr vertraut vorkamen. Sie fühlte sich seltsamerweise geborgen in diesem kurzen Augenblick, sah das schwarze Weiß allmählich zurückziehen und erkannte die Umrisse einer Person, die sich unmittelbar vor ihr befand. Die Person war in gleißend weißes Licht getaucht, wirkte für sie wie das personifizierte Licht am Ende des Tunnels, doch Reyes’ Gedanken waren schon wieder so klar, dass sie merkte, dass dies Einbildung sein musste. Die Agentin zwinkerte einmal, und die Umrisse wurden zunehmend klarer.



*



Doggett sah Reyes zwinkern und hörte auf, auf sie einzureden. „Monica“, flüsterte er leise und strich ihr durchs Haar, „Monica, ich bin’s...“

„John“, erwiderte sie leicht schläfrig und schüttelte einmal den Kopf, um wieder einen klaren Kopf zu erhalten. „John, ich ... ich muss weggetreten sein...“

„Mehr als das ... du warst gar nicht mehr hier.“

„Wie ... wie meinst du das?“

„Du wirkest wie in Trance. Als ob du in einem Gedanken gefangen warst, aus dem es kein Entrinnen gab.“

„Das war ich auch...“, murmelte sie monoton und versuchte aufzustehen. „Ich ... ich muss in Gedanken gewesen sein und dabei alles um mich herum vergessen haben.“

Doggett half ihr behutsam auf. „Du erinnerst dich an nichts mehr?“, fragte er vorsichtig, als ob er befürchtete, er könnte sie unnötig aufregen. „Ich meine, erinnerst du dich noch an ...“ – Er stockte – „... die Sache?“

„Das Artefakt?“

Er machte große Augen. „Ja. Genau.“

„Mehr als an alles Andere, wenn du es genau wissen möchtest, John. Mehr als an alles Andere.“ – Sie schloss kurz die Augen und atmete tief aus, bevor sie weitersprach. „Ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen.“

„Ich auch nicht...“, erwiderte Doggett und warf einen flüchtigen Blick über die Schulter. Seine Augen erhaschten eine kleine Kamera, die fast unsichtbar in einer finsteren Ecke zwischen Decke und Seitenwand hing. Zu hoch, um sich ihrer wie auch immer zu entledigen. „Wir sollen uns entscheiden, Monica“, begann er plötzlich leiser als zuvor und gebot Reyes, sich dicht neben ihn zu knien. „Mir scheint, die haben hier überall Wanzen und Kameras versteckt, deshalb hör’ mir einfach zu...“, flüsterte er.

„Entscheiden ... jetzt verstehe ich die Worte, die ich andauernd in meinem Kopf gehört habe. Hermes will, dass wir uns entscheiden, ob wir mitmachen oder uns einer Gehirnwäsche unterziehen, nach der wir uns wieder unserem normalen Dasein hingeben...“ – Sie machte große Augen.

Doggett nickte.

„Ja, aber das ist nicht der Punkt, Monica. Es geht nicht um die Entscheidung. Gut, für Hermes schon, aber was wir erst mal für uns entscheiden müssen, ist, ob an der ganzen Sache überhaupt was dran ist...“ – Er senkte seine Stimme weiter und sprach nun fast lautlos – „Ich hege ernsthafte Zweifel...“

Reyes wollte etwas sagen, doch Doggett schnitt ihr das Wort ab.

„Die Sache ist zu perfekt, zu ausgeklügelt. Und alleine deshalb kann sie nicht stimmen. Kein Projekt ist makellos. Aber diese Sache ist es. Sie ist perfekt, um genau zu sein. Eine von Menschenhand geschaffene Perfektion. Dabei sollte das eine das andere eigentlich ausschließen...“

„Du glaubst nicht dran? Aber ... aber du hast es gesehen!“

Er zog sie näher zu sich heran.

„Sehen kann man vieles. Auch der Blinde sieht in seiner Vorstellung das, was man ihm erzählt. Er macht sich seine eigenen Bilder, und genauso komme ich mir im Moment vor: wie ein Blinder, der sich von einem Menschen erzählen lässt, wie schön die Welt ist. Aber wie die Realität aussieht, das bleibt für ihn immer im Dunkeln, weil er nie die Möglichkeit hat, die Wahrheit zu sehen.“

Reyes wich etwas zurück. „Du meinst also...?“

„Ich denke, wir sollen glauben, dass dies die Wahrheit ist und dadurch die Möglichkeit außen vor lassen, dass alles nur gestellt, inszeniert ... was auch immer ist. Denn das ist die einzige Wahrheit: alles ist gestellt...“

„Das kann nicht sein“, entgegnete Reyes barsch, aber immer noch in gedämpftem Tonfall. Ihre Augen funkelten. „Hast du gesehen, wie überzeugt Hermes war? Dieser Mann glaubte wirklich! Dann müsste er ja auch getäuscht worden sein...“

„Das denke ich ja gerade ... dass er benutzt wurde, um uns auf die falsche Fährte zu locken. Um von der Wahrheit abzulenken!“ – Doggett warf einen weiteren kurzen Blick über die Schulter. Die Kamera hatte sie beide immer noch erfasst – „Bitte zeig’ jetzt keine Bestürzung, Aufregung oder sonstigen Gefühle, die die hinter der Kamera missdeuten könnten, Monica“, bat er sie inständig, und sie bemerkte, dass er es ernst meinte. „Die sollen glauben, dass wir uns beratschlagen ob der Entscheidung. Wir dürfen denen keinen Grund geben, dass sie zweifeln. Verstehst du?“

Die Agentin nickte, konnte aber nicht verhindern, dass ihr ein dicker Kloß im Hals stecken blieb. „Ja...“

„Gut ... Hermes scheint genauso Opfer zu sein wie wir. Nur weiß er das nicht“, sprach Doggett weiter und griff plötzlich in seine Hosentasche. „Diese Tatsache könnte uns entscheidend weiterhelfen...“ – Der Agent zog sie näher an sich heran und flüsterte ihr unauffällig ins Ohr. „Greif’ in meine rechte Hosentasche. Unauffällig. Ich werde das Jackett ein wenig darüber schlagen.“

„Ich soll was...?“

Er blickte zur Kamera und zog Reyes noch näher an sich heran, um für die Beobachter hinter der Kamera den Eindruck zu erwecken, er wolle sie trösten.

„Tu’ s einfach, Monica. Aber unauffällig.“

Nicht so ganz verstehend, was das bezwecken sollte, griff die Agentin unauffällig in die rechte Hosentasche ihres Partners ...



... und spürte Kälte. Eiseskälte. Erschrocken blickte sie Doggett ins Gesicht. Doch er lächelte nur. „Es wird alles gut“, flüsterte er ihr zu. „Damit werde ich beweisen, dass meine Vermutung stimmt. Und jetzt tu so, als ob du dich ein wenig ausruhst.“



Reyes befolgte Doggetts Anweisung und lehnte ihren Kopf an seine linke Schulter, die Augen geschlossen. Was er, Doggett, auch vorhatte, was er auch geplant haben wollte, sie vertraute ihm, auch wenn ein, zwei Gedanken in ihrem Kopf sich noch immer um das Artefakt drehten. So zwiegespalten lag sie da und sehnte den Moment herbei, an dem das Ganze endlich ein Ende finden würde.

Die Kamera, die nach Doggetts Vorstellung das verlängerte dritte Auge von Rob Hermes war – welcher sich jetzt bestimmt fragte, wie sie sich entscheiden würden - surrte leise und stellte die Szenerie scharf.



*



Doggett irrte in Bezug auf die Kamera. Rob Hermes wusste nicht einmal, dass sie existierte. Anstatt seiner Person, wie Doggett vermutete, saß der geheimnisvolle Fremde dahinter, der mit regelrechter Genugtuung registriert hatte, wie angeregt Doggett und Reyes miteinander sprachen. In diesem Moment ärgerte es ihn einerseits, dass er keine Wanzen in der Zelle versteckt hatte, andererseits steigerte dies die Vorfreude auf das bevorstehende Ereignis: die Entscheidung, so dass der Ärger allmählich wieder verschwand. Er würde die Entscheidung live erleben. Von der ersten bis zur letzten Minute. Würden sich Doggett und Reyes so entscheiden, wie er es hoffte, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis das ganze FBI, einschließlich aller dort Beschäftigten, an die Sache glauben würden. Ursache und Wirkung. Der faule Apfel im Korb, der nach und nach alle anderen Äpfel verfaulen lässt.

Der Mann hätte gelogen, wenn er gesagt hätte, dass ihn die Wartezeit nicht mitnahm – sowohl seelisch als auch körperlich. Nein, er war sichtlich erregt, ergriffen davon, dass das, wofür er so viel Zeit investiert hatte, heute endlich Früchte abwerfen könnte. Es war ein denkwürdiger Tag, so oder so, dessen war er sich bewusst. Abhängig davon, wie die Entscheidung ausfallen würde. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass besagte Entscheidung allmählich in greifbare Nähe rückte.







[ 10 ]

„Der Entschluss“



30 Minuten später



Als sich die schwere Tür zur Zelle von Doggett und Reyes quietschend öffnete, kehrte sie langsam zurück: die Aufregung. Die Ungewissheit über das nun Folgende ergriff Besitz von jeder Person, eingeschlossen die Entführer. Deren Augen, allen voran die von Rob Hermes, waren tief dunkel, so als ob jeder Funke, der sie zu halbwegs normalen Menschen machte, sich zurückgezogen hatte. Man konnte die Anspannung förmlich riechen, und Reyes rümpfte unbewusst die Nase.

„Agent Doggett, Agent Reyes ... die Bedenkzeit ist um. Ich hoffe, Sie haben eine Entscheidung treffen können?“

Doggett erhob sich und sagte: „Ja, das haben wir“, wobei er Hermes und dessen Komplizen nicht in die Augen sah. Reyes verharrte still und nickte nur.

„Ausgezeichnet. Dann seien Sie so nett und folgen Sie uns wieder in die Halle. Mein Boss, Mister Packer, und Mac Finn wartet schon dort.“ – Die übertriebene Freundlichkeit Hermes’ trieb Doggett zur Weißglut, so dass er dem jungen Mann am liebsten an die Gurgel gesprungen wäre, um das Gehabe ein- für allemal zu beenden. Doch er besann sich eines Besseren und erinnerte sich an seine Vermutung bezüglich Hermes’ Opferposition, die ihm (Hermes) bisher noch verschlossen geblieben war. Alle waren gewissermaßen Opfer. Auch Hermes’ Boss, der widerliche Alvin Packer.

Gezwungenermaßen folgten Reyes und Doggett dem Entführer, einen grobschlächtigen Klotz von Mensch mit Maschinengewehr hinter ihnen hermarschierend.



*



Der Weg zum Herzstück, wie es Hermes immer genannt hatte, kam den beiden Gefangenen unendlich lang vor. Die Zeit schien hier in diesen Gängen und Räumen nicht mehr zu gelten. Jede Bewegung zerrte an Doggetts und Reyes’ Kräften, als ob eine zentnerschwere Last auf ihren beiden Schultern lagern würde. Eine Last, die mit jedem Schritt noch ein wenig schwerer wurde.

Endlich, nach einer halben Ewigkeit, erreichten die vier Personen die riesenhafte Halle, in deren Mitte schon Steve Mac Finn und Alvin Packer warteten. Letzterer kam den Ankömmlingen langsam entgegen.

„Agents, so sieht man sich wieder...“, sagte er eine Spur zu theatralisch und verzog das Gesicht zu einem gemeinen Grinsen, das dem des Jokerface aus Batman in nichts nachstand. „Ich hoffe, Sie sehen es mir nach, dass nicht ich selber Ihnen die Geschichte hinter all dem hier erzählt, sondern meinen Assistenten Rob Hermes damit beauftragt habe. Er kann besser erzählen...“ – Er lachte, und das Echo hallte gespenstisch wider. Reyes, Doggett und Mac Finn zuckten zusammen.

„Wir ... haben uns ... bestens unterhalten gefühlt“, entgegnete Doggett zynisch und bedachte Packer mit einem bösen Blick. Die Qualen, die er dank ihm hatte erleiden müssen, waren noch nicht vergessen.

„Nun“, begann der Boss, „wie Sie sich wohl denken können, sind wir heute hier zusammengekommen, um eine Entscheidung zu treffen.“ - Er klatschte zweimal in die Hände, woraufhin der grobschlächtige Kerl, der zuvor das Maschinengewehr gehalten hatte, zu der Tür der Halle rannte und selbige mit einem lauten Krachen schloss. „Nicht, dass Sie noch auf dumme Gedanken kommen und versuchen sollten, abzuhauen.“

„Das haben wir nicht vor“, erklärte Reyes monoton und blickte zu Doggett. Er nickte bejahend. „Ja, wir haben uns entschieden und werden einen Teufel tun, uns davonzustehlen!“

Steve Mac Finn nickte nur. Er schien das Ausmaß des Ganzen noch nicht realisiert zu haben.

„Gut.“

Alvin Packers Neugier war geweckt. „Dann spannen Sie uns nicht weiter auf die Folter. Bedenken Sie aber dabei, dass jede Entscheidung Folgen nach sich zieht, seien es positive, seien es negative.“

„Das wissen wir“, erwiderte Doggett und biss sich auf die Unterlippe, um die aufkommende Nervosität zu unterdrücken.

„Gut“, wiederholte sich der Boss und nickte seinem Assistenten Hermes zu. Dieser verschwand daraufhin kurz hinter der gigantischen Maschine und erschien bald darauf wieder mit einem silbernen Koffer.

„Falls Sie sich gegen die Sache entschieden haben sollten oder dies vorhaben zu tun“ – Hermes öffnete den Koffer und gab den Blick frei auf eine große metallene Spritze, neben der sich in kleinen Ampullen, welche in roten Samtvorrichtungen lagerten, eine seltsam grünliche Flüssigkeit befand – „dann sehen wir uns leider gezwungen, Ihnen das hier zu verabreichen. Sie wissen danach nichts mehr und werden wieder Ihrem alltäglichen normalen Leben nachgehen...“

„Das glauben Sie doch wohl selbst nicht!“, warf Doggett ein. „Woher sollen wir wissen, dass dieses Zeug uns nicht in Wirklichkeit umbringen soll?“

Hermes grinste.

„Treffen Sie die richtige Entscheidung, und Sie müssen es nie erfahren...“

„Das heißt doch im Grunde, dass wir gar keine andere Alternative haben...“, sagte Reyes aufgebracht.

„Das ganze Leben ist ein Spiel, Agent Reyes, also machen Sie Ihren Zug...“



Es fiel ihr schwer, das nun Folgende zu sagen, und sie blickte Doggett mit nachdenklichen Augen an. Er erwiderte nichts, sondern nickte nur, was ungefähr so viel hieß wie „Du machst schon das Richtige“ und „Ich vertraue dir“.

Reyes’ Mund öffnete sich.



*



Der Beobachter erhöhte die Lautstärke der Lautsprecher vor ihm auf den Tisch und harrte gespannt der nun zu folgen scheinenden Worte aus dem Munde der Agentin. Er wartete. Er horchte.



*



„Agent Doggett soll für uns beide entscheiden“, sagte Reyes da plötzlich, und urplötzlich schwang die Atmosphäre in dem Raum um. Hermes, der eine andere Antwort erwartet zu haben schien – sein Gesichtsausdruck bestätigte diese Vermutung – drehte seinen Kopf in Richtung seines Chefs, der mit einer solchen Reaktion seitens Reyes auch nicht gerechnet hatte.

„Sie ... wollen ... sich bei dieser wichtigen Entscheidung vertreten lassen?“ – Hermes schüttelte den Kopf – „Aber ... nun gut, es ist Ihre Entscheidung...“

„Wenn man einander vertraut, dann ist es, als antworte man selber, auch wenn man selber gar nicht den Mund aufmacht, sondern den ... Partner entscheiden lässt. Grenzenloses Vertrauen ist der Schlüssel zu alledem.“

„Wenn Sie meinen...“

„... und damit ist diese – meine – Entscheidung auch die Agent Doggetts.“

„Ich muss gestehen, dass es mir schleierhaft bleibt“, warf Alvin Packer ein, „warum Sie nicht selber diese Entscheidung treffen wollen, Agent Reyes. Wir stehen hier an einem wichtigen Punkt für Ihr Leben – für ihr weiteres Leben, und Sie wollen allen Ernstes jemand anderes antworten lassen?“

Reyes nickte bejahend und sah zu Doggett. „Sie mögen das nicht verstehen, Mr. Packer, weil Ihnen die Bedeutung des Wortes Vertrauen durch die Macht, die Sie innehaben, verschleiert wurde. Denn derjenige, der Macht hat, vertraut nicht einer anderen Person, sondern nur sich selbst.“

„Ihre Worte ehren mich“, erwiderte Packer kühl, so als ob er den Sinn hinter Reyes’ Worten gar nicht verstanden hatte und sie als Kompliment auffasste. Er trat neben Doggett und legte ihm die Hand auf die rechte Schulter. „Agent Doggett, dann kommen Sie Ihrer Aufgabe nach und antworten Sie.“

„Das werde ich tun...“ – Sein Blick war starr geradeaus gerichtet, während die rechte Hand – verborgen unter dem Jackett - unauffällig in seine rechte Hosentasche glitt.

Langsam trat er Rob Hermes und der gigantischen Maschine entgegen, immer einen Schritt vor den anderen setzend. Die in ihm vorherrschende Unruhe hatte schon längst ihren Zenit überschritten, die Unsicherheit brodelte in ihm wie die Lava in einem Vulkan.

Auf halber Strecke drehte er sich noch mal um.


>>Ich weiß nicht, wie es um mein Schicksal steht, und dennoch stehe ich hier – jetzt – an dieser Stelle - und blicke in ihre Augen.>Ich sehe, dass sie mir vertraut, ich sehe Freundschaft. Nein, es ist mehr als das. Ihre Augen funkeln. Ich mag mich auch täuschen, denn es ist ziemlich dunkel in diesem Raum. Aber ich bin mir sicher – sie weiß, dass ich das Richtige tun werde.>Sind das hier die Gedanken eines armen Irren, der sich in etwas hereingesteigert hat und jetzt nur noch Augen für das Angepeilte hat, so dass man ihm alles hätte einreden können und er es geglaubt hätte? Ist es wirklich schon so weit gekommen?>>



Während sich das Rad der Zeit wieder in Gang setzte, verwarf Doggett den letzten Gedanken und schickte ihn hinab in die Tiefe, aus der es kein Entkommen mehr geben würde.



>>Zeugen diese Selbstzweifel, zeugt dieses Vorhandensein einer leichten Unsicherheit nicht gerade von einem gesunden Menschenverstand? Ja, das muss es sein. Nur derjenige, der bei seinem Tun noch Zweifel hegt, wird im Endeffekt richtig handeln, da er sich immer noch anders entscheiden kann. Ein Irrer hat lediglich einen kranken Plan und setzt ihn ohne viel Überlegens in die Tat um.

Nein, ich bin nicht verrückt. Ich kann nicht verrückt sein. Nicht ich. Ich weiß, dass ich es tun muss, ich weiß es.>>



Zum Entsetzen aller zog der Agent plötzlich ein Messer aus seiner rechten Hosentasche hervor, das Hermes sofort als den Brieföffner identifizierte, der in dem weißen Raum auf seinem Schreibtisch gelegen hatte. Doggett musste ihn blitzschnell ergriffen haben, als er – Hermes – das Glas Wasser verschüttet hatte und einen kurzen Moment unachtsam war.



Zwei Stunden in der Vergangenheit



„Scheiße“, murmelte er [Hermes], senkte kurz den Blick, bückte sich und holte ein Taschentuch aus seiner rechten Jackentasche hervor, mit dem er die Nässe notdürftig aufwischte. Dann blickte er kurz zu Doggett, welcher in genau diesem Augenblick seinen Anzug geraderückte und sagte: „Und das zeugt von Unsicherheit und Schusseligkeit, werter Rob.“





Gegenwart



„Agent Doggett, machen Sie keinen Fehler!“ – Hermes erwartete wohl jeden Moment, dass Doggett das Messer gen Handgelenk richten und sich die Pulsadern aufschneiden würde. Doch der Agent tat nichts ... noch nicht. Sein Blick war durch und durch kalt. Dennoch war er innerlich konzentriert und warf die letzte Unsicherheit über Bord.







Es musste sein!







„Agent Doggett“, hörte er die hallende Stimme Alvin Packers, „selbst wenn Sie vorhaben sollten, Ihrem Leben hier ein vorzeitiges Ende zu setzen – in diesem Raum stehen Sie unter dem direkten Einfluss des Artefakts. Das heißt, das Leben ist hier in jedem Quadratmillimeter vorhanden. Es wacht über uns. Über mich. Über Sie. Und es wird nicht zulassen, dass Sie sich umbringen. Es wird Sie heilen, wenn Sie sich verwunden!“

Doggett schüttelte da plötzlich den Kopf und stellte sich breitbeinig hin. „Nein“, brüllte er, „nein, das wird es nicht! Weil alles gestellt ist. Alles! Sie wissen es nur nicht, da Sie es nicht wissen dürfen.“

„Sie reden wirr!“

„Nein, das tue ich nicht. Und ich werde es Ihnen beweisen!“



*



Der Beobachter wollte nicht glauben, was sich vor seinem verlängerten Auge abspielte. „Was zum Teufel...!“, stammelte er vor sich hin, während er Doggett mit einer Kamera anvisierte und den sich dort abspielenden Wahnsinn in seiner aberwitzigen Form vergrößerte.



*



Das Messer streifte Hermes, der neben Reyes stand, an der rechten Schulter und ließ den Mann blutend zu Boden gehen. Roter Lebenssaft umsäumte den Körper des Verwundeten, welcher zusammengekrümmt dalag und bitterlich schrie. Entgeisterte Blicke von allen Seiten.









[ 11 ]

„Das Los der Getäuschten“





„Was, zum Teufel, haben Sie getan, Sie Irrer?“



Alvin Packer kniete neben Hermes nieder und hob dessen linken Arm, welchen er schützend über die Wunde gelegt hatte, unter wehleidigem Schreien in die Höhe, um einen Blick zu erhaschen. Seine Augen spiegelten plötzlich pures Entsetzen wider. „Es ... es hört nicht auf zu bluten. Es hört einfach nicht auf! Dabei sollte, es müsste, wegen dem Artefakt...!“ Erst langsam sammelte er sich wieder. „Ich verstehe das nicht! Die Wunde hätte längst geheilt werden müssen! Wir stehen im direkten Wirkungsbereich des Artefakts!“

Doggett kam näher. „Auch ich blute“, sagte er monoton, während er die rechte Hand hob, „und ich bin dem Artefakt noch viel näher. Kommen Ihnen jetzt nicht langsam Zweifel, Packer? Wenn nicht: Sie sollten zweifeln!“

„Das, das muss ein Fehler sein...“

„Der einzige Fehler, der hier existiert, ist das Artefakt, welches keins ist!“ – Doggett zog Packer an sich heran – „Verstehen Sie doch endlich! Sie wurden getäuscht, um uns von einer Wahrheit zu überzeugen, die eine einzige Lüge ist! Und dass im Umkehrschluss das, was nach der Erzählung Hermes’ eine Lüge sein sollte, in Wirklichkeit die einzige echte Wahrheit ist, war und bleibt – ja, das sollte Ihnen verborgen bleiben...“

„Wir wurden ... getäuscht?!“

„Wie erklären Sie es sich sonst?“ – Reyes kniete neben Hermes nieder und begutachtete seine Wunde. „Die Verletzung ist nur oberflächlich ... aber ich bin keine Ärztin.“ Ihr Blick traf Doggett. „Das war unverantwortlich! Wenn du ihn im Bauchbereich erwischt hättest...!“

„Ich habe jahrelang Dart gespielt...“, lautete sein kühler Kommentar. Und an Hermes gewandt: „Gleich wird Ihnen geholfen, da bin ich mir sicher.“

„Wer sollte ihm denn jetzt helfen?“, fragte Reyes entrüstet. „Hier ist doch sonst niemand.“ Und leise hintendran: „Wenn du es genau wissen willst, John: ich vertraue dir immer noch, und ich verstehe jetzt auch deine Zweifel. Ich ... ich habe mich blenden lassen von dem so Offensichtlichen, dass ich nur die Lüge sah und nicht die Wahrheit.“

„Das weiß ich doch.“

„John, ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sage, aber hier und jetzt liebe ich den Skeptiker in dir.“

„Das ist meine Natur.“

„...aber wer sollte Hermes hier jetzt helfen?“

Doggett blickte kurz um sich. „Erinnerst du dich an die Kameras überall? In unserer Zelle?“

„Ja.“

„Ich möchte wetten, dass irgendwo nicht unweit von hier jemand vor einem Bildschirm sitzt. Jemand, der alles beobachtet hat. Derjenige, der all das hier inszeniert hat.“



Alvin Packer schüttelte den Kopf. „In Ihrer Zelle wurde keine Kamera installiert. Lediglich hier und in den Konferenzräumen ... oh scheiße...“

„Eben“, erwiderte Doggett leise und drehte sich einmal im Kreis. „Sie haben sich nie gefragt, was diese Kameras bezwecken, gehe ich richtig in der Annahme?“

Packer nickte fassungslos. „Oh mein Gott ... wir wurden die ganze Zeit observiert. Wie Versuchstiere gehalten!“

„Sie haben sich nie gefragt, was diese Kameras bezwecken, da Sie nur Augen für das hier“ – Der Agent trat vor die Maschine und entriss dieser plötzlich das Artefakt – „haben sollten.“

„Was tun Sie??!!“

„Sehen Sie, was passiert, Alvin. Sehen Sie es mit eigenen Augen“, sagte Reyes und schob den Boss in Richtung auf Doggett zu. „Sehen Sie, dass sich nichts ändert. Die Apparatur arbeitet weiter, ohne mit der mechanischen Wimper zu zucken.“ – Sie nahm von ihrem Partner das Stück Metall entgegen – „Das hier soll das Leben sein, welches alles zusammenhält? Nein, Alvin, nein. Es ist nichts weiter als wertloser Müll.“



Das Metallstück landete unsanft vor Reyes’ Füßen.



„Aber...? Nur ein ... Schwindel?!“ – Packers Augen weiteten sich. „Ich kann das nicht glauben!“

„Verständlich“, gab Doggett von sich und legte Packer die Hand auf die Schulter. „Denn Sie sollten ja auch nur an das glauben.“ Er deutete auf das Metallstück vor Reyes’ Füßen. „Um uns und damit alle zu täuschen. Nicht wir sind die wirklichen Opfer, Alvin. Das Opfer sind Sie! Ihre Schergen. Alle, die glaubten, für das Richtige zu kämpfen. Und deshalb kann man Ihnen auch keinen Vorwurf machen, was ich auch nicht mehr tue. Denn ich habe erkannt, dass die Grenze zwischen Täuschendem und Getäuschtem minimalistisch klein ist, so dass die Waagschale jederzeit zur anderen Seite kippen kann.“

„Aber ... warum das alles?“

„Das verstehen Sie ebenso wenig wie Professor Finn, Alvin“, antwortete Reyes und trat neben den Professor, der in diesem Augenblick an einem anderen Ort zu sein schien und lediglich seinen Körper als leere Hülle zurückgelassen hatte. „Professor, es tut mir leid, aber das, was sie hiermit glaubten, ein für allemal bewiesen zu haben, ist nur eine Farce.“ – Sie versuchte zu lächeln – „Dennoch liest sich ihr Buch mehr als unterhaltsam...“

„Sie verstehen das nicht“, entgegnete Mac Finn leise, „ich habe immer anders als die anderen gedacht. Ich wollte beweisen, dass alle anderen zu starrsinnig sind, um zu erkennen, was die Erde wirklich ist.“ – Er seufzte und blickte Reyes mit kleinen müden Augen an – „Und vom heutigen Tage an muss ich mich zu eben jenen Menschen zählen lassen, deren Sichtweise der Dinge ich so sehr verabscheue; - was für ein Verhalten erwarten Sie also von mir?!“

„Ich erwarte gar nichts.“

„Doch. Sie erwarten, dass ich das hier einfach so als gegeben hinnehme.“

„Nein, das denken Sie nur. Ich will nur, dass Sie uns vertrauen.“



Der Professor erwiderte nichts mehr. Man konnte fast sehen, wie die Anspannung aus seinem Körper entwich. Er blickte nach oben, so als ob er dort die Wahrheit zu finden erhoffte, die es nicht gab, und sagte: „Sie müssen mich jetzt für furchtbar engstirnig halten, Agent Reyes, oder?“

„Nein, das tu’ ich nicht. Ebenso wenig Agent Doggett. Er weiß - genauso wie Sie - wie es ist, wenn das, für das man jahrelang sein Herzblut opferte, einfach wie eine Seifenblase zerplatzt und für ewig verschwunden bleibt.“ – Reyes sah zu Doggett, welcher einfach nur in Richtung des Professors nickte – „Sie sind nicht engstirnig in Ihrer Ansicht, Professor. Nie gewesen. Jeder glaubt an etwas Anderes; ich würde sagen, Sie sind lediglich enttäuscht...“

Mac Finn überlegte kurz und nickte dann.

„Ja, so kann man sagen. Enttäuscht. Und Verwirrt.“

„Verwirrt sind wir alle“, sagte Packer da plötzlich und half Hermes beim Aufstehen. Die Wunde hatte schon wieder aufgehört zu bluten, doch langsam verkrustendes Blut an dem Schnitt erinnerte noch an das Vorgefallene. „Denn wenn wir wirklich alle nur Marionetten in einem Spiel waren, bleibt die Frage, was mit uns nun geschieht! Sie haben es ... die ganze Sache ... aufgedeckt, Agent Doggett, und somit sind wir im Prinzip nutzlos geworden ... für wen auch immer.“



Der Agent schien von dieser Aussage nicht sonderlich überrascht gewesen zu sein, denn er veränderte keine Miene, sondern blickte stattdessen zurück auf das gigantische Konstrukt, die erbaute große Lüge einer noch größeren Idee, die dahinter steckte.

Dass er die Lüge als solche entlarvt hatte – das war es, was ihn überraschte. Er hatte sich von Gefühlen leiten lassen, von Vorahnungen und Vermutungen, die sich nachher derart aufgestaut hatten, dass sie sich letztlich in dem Messerwurf manifestierten. Er hätte gar nicht anders handeln können, bemerkte er erst jetzt. Sein Handeln war gewissermaßen vorbestimmt gewesen; seit dem Erwachen auf dem Bett, gefesselt – seit diesem Moment begannen die Vermutungen sich anzuhäufen und im Geheimen schon das Ende festzulegen! Bei Beginn des ganzen Abenteuers war das Ende schon präsent gewesen. Es trat nur eben erst jetzt in Erscheinung...

„Die werden wissen, was zu tun ist“, beendete er das Schweigen und schloss die Augen. „Sie müssen den Fehler beseitigen, den wir aufgedeckt haben.“

Reyes sah ihn erschrocken an.

„Du meinst, Sie werden uns töten?“

„Ich weiß nur, dass die handeln müssen.“

„Das heißt, dass du es nicht ausschließt.“

„Aber auch, dass es nicht so sein muss.“



*



Derjenige, der getäuscht hatte, saß kopfschüttelnd vor seinem TFT – Monitor und verfolgte das Geschehen mit angespannter Miene. „Ich habe mich in dir getäuscht“, murmelte er, als die Kamera Doggett erfasste und ihn anvisierte. „Ich habe mich in dir getäuscht...“ – Der alte Mann drückte einen roten Knopf, der unter der Tischplatte montiert war, woraufhin kurz darauf der Andere eintrat, der zuvor rausgeschickt worden war.

„Sir?“, sagte er und nahm auf einem Stuhl dicht neben der Tür Platz. Der Mann war unruhig, weshalb er andauernd mit seinen Finger spielte.

„Al, ich nehme an, Sie haben gesehen, was sich ereignet hat?“

Al nickte. „Ja, Sir, ja. Und es erfüllt mich nicht gerade mit Stolz...“

„Verständlich“, erwiderte der Alte und zog eine Schachtel Zigaretten aus seinem Jackett. „Sie auch?“

„Danke. Meine Nerven spielen ganz schön verrückt.“ – Er nahm die Zigarette entgegen und steckte sie sich in den Mund – „Ich kann nicht nachvollziehen, wie sie so ruhig sein können in Anbetracht der gegebenen Umstände...“ – Das Feuerzeug in seiner Hand zitterte – „Ich meine...“

„Ich verstehe Sie schon, Al“, entgegnete der Alte und zündete sich seine Zigarette mit einem Streichholz an. Kräuselnder Dampf stieg zur Decke und umspielte die hochgewachsene Statur des Mannes. Ein alles verschleiernder Nebel. „Ich verstehe Sie voll und ganz. Doch ist Ihre Besorgnis fehl am Platze, denn wir haben nichts verloren, sondern vielmehr etwas gewonnen.“

Al nahm einen tiefen Zug, bevor er antwortete. Seine Stimme zitterte. „Sir, erlauben Sie mir eine Bemerkung: es hat Jahre gedauert, alles auszuarbeiten. Bis die Idee stand, verging fast ein Jahrzehnt! Dazu kamen noch die Entführungen von Rob Hermes, Alvin Packer und ihren beiden Gehilfen, anschließend das Verschwindenlassen aller Daten, die auf die Spur der Entführten hätten führen können, die darauffolgende monatelange Gehirnwäsche der Entführten, das Arrangieren der nun folgenden Ereignisse wie die Schrift in der chemischen Substanz...“

„Ich bin mit dem Projekt vertraut, Al, und ich weiß, wie zeitintensiv es war. Vor allem das Arrangieren der Ereignisse. Die perfekte Täuschung eben.“ – Ein langer, intensiver Zug an der Zigarette – „Wir wollten etwas vorspiegeln und haben uns dabei mehr als einmal auf den Zufall verlassen. Und Zufall war es letztlich, der zum Scheitern führte.“ - Er lächelte, sofern man das im Dunkel des Raumes ausmachen konnte – „Wir haben versucht, eine Lüge zu erschaffen, was uns nicht gelang, weil ich eine Person“ – Der Mann blickte auf den Monitor, der immer noch Doggett zeigte – „unterschätzt habe. Das ist kein Scheitern im normalen Sinn gewesen, Al. Es war nicht einmal ein Scheitern. Vielmehr war es das Spiel des Lebens, das eben diesen Schachzug vorgesehen hatte.“

„Das Spiel des Lebens?“

„Ja. Die Welt ist nicht mehr als ein Spielbrett im übertragenen Sinne. Wir bewegen uns darauf und werden hin und wieder vom Schicksal in eine andere Richtung geleitet. Diese Richtungen sind vier: Erfolg – Hoffnung – Aufgabe – Niederlage. Al, wo stehen wir?“

„Niederlage.“

Der Alte nickte. „Genau. Und von dort ist es aber nicht weit bis zum Erfolg, was lediglich davon abhängt, wie uns das Schicksal voranzieht.“

„Das haben Sie sich gerade doch ausgedacht, Sir, oder?“ – Der andere Mann lächelte etwas.

„Sie werden staunen: nein, das habe ich nicht. Dies sind die Theorien eines Professors aus Pennsylvania. Und auch, wenn ich Theorien sonst eher skeptisch gegenüber stehe, so bin ich in diesem Fall überzeugt, dass alles stimmt.“

„Jede Niederlage formt einen neuen Erfolg, der noch in der Zukunft liegt – wollen Sie das damit sagen?“

Der Alte nickte wieder. „Wir mögen zwar eine Niederlage eingesteckt haben, aber das war das allgemeine Lebensrisiko. Wir sind um Erfahrungen reicher, und das kann man durchaus als Erfolg verbuchen.“

Al erwiderte darauf nichts, blies etwas Rauch der Zigarette aus und massierte seine Stirn mit den Fingern der linken Hand.

„Und wie verfahren wir nun weiter?“, fragte er schließlich.

Der Alte schloss die Augen.

„Schicken Sie Ihre Leute in die Halle. Sie sollen vorgehen, wie wir es für den Notfall in Erwägung gezogen haben. Machen Sie schnell.“

„In Ordnung, Sir. Es wird nicht lange dauern.“

„Davon gehe ich aus.“



Al war schon fast aus der Tür verschwunden, als der Alte ihm noch hinterrief: „Al, übrigens: Sie haben gute Arbeit geleistet. Ich glaube, ich habe Ihnen das nie direkt gesagt...“

Der andere Mann lächelte etwas und dann schloss die Tür hinter sich.



Die Morley – Zigarette in der Hand, betrachtete der Raucher den Bildschirm, nun merklich ruhiger als noch am Anfang. Er war bereit für die Fortsetzung vom Spiel des Lebens, auf jeden weiteren Zug vorbereitet. Und auch wenn er es niemandem eingestehen würde, so war er doch eine Spur glücklich, wenn auch nur im Verborgenen. Glücklich, weil er erkannte, dass auch er nicht unfehlbar war, was Einschätzungen anbelangte. Auch er konnte sich irren, und das machte ihn – trotz der Macht, die er zweifelsohne innehatte – menschlich. Und Erkenntnisse über einen selbst konnten hilfreich sein, wie die nahende Zukunft vielleicht zeigen würde. Bis dahin würde er ausharren im Verborgenen, jeden Spielzug verfolgen und dann, wenn es die Zeit gebot, mit aller Macht zuschlagen. Lautlos und doch intensiv.

Der Raucher verzog das Gesicht zu einem Lächeln und drückte die Zigarette in einem Aschenbecher aus.



*



„Etwas ist passiert!“, sagte Scully und zog Mulder an sich heran. „Es ist etwas geschehen, ich spüre es!“



*



Die mechanische Lüge arbeitete ungestört weiter und übertönte fast vollständig das Öffnen der schweren Eingangstür wenige Minuten später, vor der die Gruppe aus Getäuschten der Dinge ausharrte, die da kommen würden.

Die drei eintretenden Gestalten waren allesamt in schwarze Ledersachen gekleidet, vor den Gesichtern Schutzmasken, als ob sie glaubten, sich vor der im Raum vorherrschenden Unruhe schützen zu müssen.

Sie feuerten insgesamt fünfmal.







[ 12 ]

„Wissen und Nichtwissen“



Kennewick General Hospital, Washington



Die Krankenschwester, die im Erdgeschoss hinter einer Art Tresen saß und Daten in einem Computer mit denen einer Karte aus der Patientenkartei verglich, sah nach einer Weile auf.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie die beiden Personen vor dem Schalter freundlich. Ihr Schild wies sie als Schwester Maggie Lang aus; das jugendliche Auftreten und ihr freundliches unverkrampftes Lächeln ließen darauf schließen, dass sie noch nicht allzu lange hier arbeitete.

„Agent Scully vom Federal Bureau of Investigation“, sagte die weibliche Person und zog einen Ausweis aus ihrem Mantel hervor. „Das hier ist mein Partner Agent Mulder. Unser Vorgesetzter hat uns davon in Kenntnis gesetzt, dass 5 Personen vor knapp einer Stunde eingeliefert wurden, von denen drei der Vermisstenbeschreibung entsprachen, die wir haben anfertigen lassen.“

„Agent Scully ... Ihr Vorgesetzter meinte, dass Sie vorbei kommen würden. Sie haben Recht. Vor knapp einer Stunde wurden 5 Personen eingeliefert, von denen zwei anhand ihrer Dienstausweise zweifelsfrei als die vermissten Personen identifiziert werden konnten.“

„Wie ist ihr Zustand?“, fragte Mulder rasch, denn er hoffte, dass sie beide nicht zu spät gekommen waren.

„Ich kann Sie beruhigen. Agent Doggett und Agent Reyes geht es den Umständen entsprechend gut. Sie haben beide einen leichten Schock davon getragen, so dass wir sie noch für einige Tage zur Untersuchung hier behalten müssen.“ – Sie stockte – „Professor Mac Finn wies starke Schnittwunden an beiden Handgelenken auf, als er hier her gebracht wurde. Ich habe es mit eigenen Augen sehen können. Es ist fraglich, ob er die Nacht überstehen wird...“

„Und die beiden anderen Personen?“

„Dazu kann ich Ihnen nichts sagen, tut mir leid“, antwortete die Schwester. „Dr. Klein, der behandelnde Arzt, wird Ihnen da aber bestimmt weiterhelfen können. Erster Stock, zweite Tür links, Zimmer 104.

„Haben Sie vielen Dank“, sagte Scully, die schon auf halbem Wege zum Fahrstuhl war.

Eine zentnerschwere Last war ihr soeben vom Herzen gefallen, hatte sie doch endlich Gewissheit, dass Doggett und Reyes lebten. Was aber immer noch ungewiss blieb, war die Frage, was genau mit ihnen, mit Professor Mac Finn und den beiden anderen Personen – ihr Gefühl sagte ihr, dass Rob Hermes unter diesen sein würde – vorgefallen war.

Die Fahrstuhltür öffnete sich, und Mulder und Scully traten ein.



*



Erster Stock, Zimmer 104, Chefarzt Dr. Malcom Klein



Dr. Klein war ein hochgewachsener junger Mann, Mitte 30, mit breiten Schultern und muskulösen Oberarmen, die den Eindruck erweckten, er hätte sich im Beruf geirrt und sollte jetzt eigentlich im Boxring stehen. Sein Gesicht zeichnete sich durch ein markantes Kinn aus, das wie die Nase eines Rennboliden nach vorne ragte. Der Arzt lächelte, als Mulder und Scully den Raum betraten, und erhob sich aus seinem Ledersessel hinter dem Schreibtisch. „Treten Sie ein“, sagte er freundlich und streckte die rechte Hand zur Begrüßung aus. „Sie müssen Agent Scully sein.“

„Guten Tag, Dr. Klein“, entgegnete Scully und erwiderte den Händedruck. „Das ist mein Partner Agent Mulder.“

„Sehr erfreut.“ – Auch Mulder bekam einen festen schmerzhaften Händedruck – „Nehmen Sie doch Platz.“



Die Ausstattung in dem Zimmer war karg. Ein weißer Schreibtisch stand vor einem Fenster mit weißen Gardienen, durch die das Sonnenlicht nur mühsam Einlass gewährt bekam, so dass es in dem Raum eher dunkel als hell war. Vor dem weißen Schreibtisch zwei Stühle, deren Lehnen und Sitzfläche allesamt mit schwarzem Leder überzogen waren – ein visuelles Spiel der Gegensätze.

Mulder und Scully nahmen auf den beiden Stühlen Platz, während Dr. Klein vor das Fenster trat, den beiden den Rücken zugewandt.

„Ich nehme an, Sie wissen bereits von dem Zustand ihrer beiden Kollegen?“

„Ja ... wir wurden in Kenntnis gesetzt.“ – Scully schlug ein Bein über das andere – „Wissen Sie schon, was mit den beiden genau vorgefallen ist?“

Dr. Klein drehte sich um.

„Alle 5 Personen waren bewusstlos, als sie gefunden wurden. Eine erste toxikologische Untersuchung zeigte, dass sich in ihrem Blut ein starkes Betäubungsmittel befand, das scheinbar mit einer Art Pfeil injiziert wurde. Jedenfalls wiesen alle Körper am Hals eine leichte Entzündung auf, was auf eine solche „Behandlung“ schließen lässt.“

„Sie wurden betäubt?“

„Ja ... sogar sehr stark. Zwei der anderen Personen werden daraus wohl nicht mehr aufwachen. Ihr Kreislauf ist aufgrund der vorangegangenen Malträtierung zu sehr geschwächt, als dass er halbwegs in der Lage wäre, den Körper wieder in einen Wachzustand zu befördern.“

„Die Personen ... wurden ... misshandelt?“ – Scullys Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an und Bilder von den grausamsten Entstellungen schwirrten vor ihrem geistigen Auge umher.

Dr. Klein nickte. „Ja, zumindest drei der 5 Personen. Eine Person – der Professor - hat schwerste Verletzungen an beiden Handgelenken davon getragen, so als ob jemand versucht hat, ihm die Pulsadern aufzuschneiden.“

Oder er hat es selbst getan, dachte Mulder im Stillen und veränderte keine Miene.

„Und bei den beiden anderen Eingelieferten wurden bei einer genaueren Untersuchung Schnittwunden am Hinterkopf entdeckt“, fuhr Dr. Klein fort. „Die anschließende routinemäßige Untersuchung der Gehirnströme förderte zutage, dass das Gehirn nur noch 2/3 der eigentlichen Menge an Strömen ausschickte, also eine deutliche Diskrepanz zwischen normalem und jetzigem Zustand vorliegt.“ – Der Doktor atmete einmal tief aus – „Ich habe so etwas noch nicht gesehen ... es ist fast so, als ob den Menschen ihr Gehirn verändert wurde ... als ob von ihrem Gehirn nur noch das Nötigste ausgehen sollte!“

„Gehirnwäsche“, entgegnete Scully monoton, „das systematische Verändern der Erinnerung.“

Dr. Klein nickte besorgt. „Ja, darauf habe ich dann auch geschlossen. Abscheulich. Diese Personen werden wohl nie wieder einen Sonnenaufgang sehen.“

So war es anscheinend auch geplant, dachte Mulder und bemitleidete die Unschuldigen, die das, was sie getan haben, nur taten, weil sie darauf programmiert worden waren. Gleichzeitig verfluchte er die Verantwortlichen hinter dem Ganzen, die Männer im Dunkel, die Schattenmänner, die es vorzogen, unerkannt zu operieren.

„Wurde bei unseren Kollegen ähnliches gefunden?“, fragte Scully vorsichtig und machte sich gedanklich schon auf die die Hoffnung zerstörende Antwort gefasst, die nun wohl folgen würde. Lieber Gott, bitte lass es ihnen gut gehen...



Doch sie kam nicht.



„Nein“, antwortete Dr. Klein leise, „nein, wir haben ihre Körper genauestens untersucht, sind aber auf nichts gestoßen. Ihre Kollegen scheinen von alledem verschont geblieben zu sein.“

Gott sei Dank.

„Können wir zu ihnen?“

„Sie sind noch sehr geschwächt, Agent Scully, von daher würde ich es begrüßen, wenn nur einer von Ihnen mit ihnen spricht, ich hoffe, Sie verstehen das...“ – Dr. Klein erweckte den Eindruck, als glaubte er, er müsse sich bei Mulder und Scully für diese Auskunft entschuldigen. Betreten senkte er den Kopf etwas und versuchte zu lächeln.

„Das verstehen wir“, entgegnete Scully freundlich und blickte zu Mulder. „Ich denke, du solltest mit ihnen reden.“

„Du willst nicht selber...?“

„Die ganze Angelegenheit ist eher was für dich gewesen. Ich befürchte, ich könnte vor lauter Freude über das Wiedersehen etwas überreagieren. Und das können die beiden in ihrem geschwächten Zustand am allerwenigsten gebrauchen.“ – Sie grinste verschmitzt, und Mulder lächelte.

„Dr. Klein, wo genau finde ich Agent Doggett und Agent Reyes?“

Der Doktor nickte.

„Ich zeige Ihnen das Zimmer, Agent Mulder. Wenn Sie mir bitte folgen würden...“ – Und an Scully gewandt: „Wollen Sie hier auf Ihren Partner warten? Es wird nicht allzu lange dauern, da Ihre Kollegen wie gesagt nicht zu sehr überbeansprucht werden dürfen, von daher...“

Scully erhob sich aus ihrem Stuhl und reichte Dr. Klein freundlich die Hand. „Haben Sie vielen Dank, Dr. Klein, aber ich warte lieber draußen. So habe ich es immer gehandhabt.“ Und sie rief sich einige Ereignisse zurück ins Gedächtnis.



*



Das Krankenzimmer war klein, so dass nicht mehr als zwei Rollbetten in ihm Platz hatten. Neben jedem Bett stand ein kleiner Beistelltisch, auf dem sich jeweils eine kleine Lampe und ein Glas nebst Wasserflasche befand. An den Wänden hingen Kunstdrucke berühmter Gemälde, die dem kargen, sterilen Flair, das von dem Raum ausging, ein wenig Abhilfe schufen, indem sie sich wohlwollend vom tristen Weiß der Wände abhoben.

Doggett hatte die Augen geschlossen, als Mulder eintrat, und doch schien er genau zu wissen, wer gerade den Raum betreten hatte. „Komm näher, mein Sohn“, sagte er leise und mit einer feinen Prise von Ironie angereichert. Er öffnete die Augen. „Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich damit gerechnet habe, Sie hier anzutreffen. Doch ihr Besuch freut mich somit umso mehr...“ – Er lächelte etwas. Die Strapazen der letzten Tage waren ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

„Die Blumen habe ich vergessen“, witzelte Mulder und setzte sich auf die Bettkante. „Ich bin froh, dass es Ihnen gut geht, John. Wir alle sind froh, dass es Ihnen und“ – Er blickte zum Bett auf der gegenüberliegenden Seite, auf dem Reyes lag und schlief – „Agent Reyes gut geht.“

„Sie ist noch sehr erschöpft von allem“, erklärte Doggett leise und versuchte, sich etwas aufzurichten.

„Das sind wir alle...“, gab Mulder zu und biss sich ein wenig auf seine Unterlippe. Ihm brannte etwas auf der Zunge, was auch Doggett nicht entging.

„Sie wollen wissen, was vorgefallen ist, richtig?“

„Merkt man mir das an?“

„Nein, aber Sie wollen es wissen, oder?“

„Verübeln Sie mir das?“

„Nicht im Geringsten.“ – Er verzog das Gesicht zu einem Grinsen – „Wie habe ich den Tag herbeigesehnt, an dem ich Ihnen einmal Antworten geben kann, Agent Mulder.“

„Sie haben nichts von Ihrem Sarkasmus verloren, John“, entgegnete Mulder lachend. Und hintendran: „Wurden Sie, Agent Reyes, der Professor und die beiden anderen entführt?“

„Ja... wie geht es den anderen?“

„Schlecht, die Ärzte meinen, sie überstehen aufgrund der Misshandlung wahrscheinlich die Nacht nicht...“

Doggetts Augen weiteten sich.

„Sprechen Sie von den Folgen einer Gehirnwäsche?“

„Ja, bei zweien.“

Also habe ich doch Recht gehabt, dachte Doggett. „Wie geht es dem Professor?“, fragte er schließlich mit ernster Stimme.

„Sein Zustand ist mehr als bedenklich. Jemand scheint vorgehabt zu haben, ihm die Pulsadern aufzuschneiden.“

„Niemand hat das vorgehabt, Agent Mulder“, erklärte John besorgt, „das war er selber...“

„Er hat sich selber die Pulsadern aufgeschnitten?“

„Es ist das letzte Detail, woran ich mich erinnere, bevor auf uns geschossen wurde mit den Betäubungspfeilen. Mac Finn hat plötzlich ein am Boden liegendes Splitterstück ergriffen und sich sowohl ins rechte als auch linke Handgelenk geschnitten...“

„Aber ... warum?!“

Doggett schloss die Augen.

„Weil das, was er nun endlich glaubte, bewiesen zu haben, sich als großer Schwindel herausgestellt hat... der Mann war verzweifelt, Agent Mulder, und ich kann es ihm nachfühlen.“

Mulders Augen weiteten sich. „... - glaubte, bewiesen zu haben? – Was genau haben Sie dort, wo Sie waren, gesehen, Agent Doggett?“

Doggett atmete einmal tief aus und öffnete die Augen wieder.

„Nichts, nur eine Lüge. Man wollte uns etwas glauben machen, was es gar nicht gab. Und als ich das entdeckte, da mussten die Verantwortlichen – wer auch immer das war – zugreifen ... und deshalb liegen wir 5 hier.“

„Mit dem Unterschied, dass Sie und Reyes mit dem Leben davon gekommen sind“, gab Mulder monoton von sich und dachte nach. „Ich frage mich, warum Sie von den Leuten am Leben gelassen wurden, nachdem Sie ihr ... wie soll ich sagen? ... Projekt entlarvt haben.“

Doggett dachte kurz nach und sagte dann: „Ich glaube, die Verantwortlichen brauchen uns noch. Irgendwie. Das sagt mir ein Gefühl. So schlimm das auch klingt, aber Alvin Packer und Rob Hermes – die beiden anderen, die mit uns gefunden wurden – scheinen für die ersetzbar gewesen zu sein. Nur sind wir es nicht... ich glaube, Sie verstehen, was ich meine, Agent Mulder...“

Mulder nickte.

„In der Tat. Mir hat jemand auch schon so was in der Art gesagt. Damals habe ich das Ausmaß noch nicht verstanden, aber jetzt sehe ich klar.“

„Vielleicht war es ja ein und dieselbe Person ... damals und jetzt.“

„Das kann eigentlich nicht sein, denn die Person ist heute tot...“, entgegnete Mulder und blickte auf, als sich die Tür öffnete und Dr. Klein eintrat. „Ich komme gleich“, sagte der ehemalige Agent leise.

Doggett sackte erschöpft in das Kissen zurück. „Wissen Sie wirklich, dass er tot ist? Oder sollen Sie vielleicht nur glauben, dass er tot ist?“ – Er lächelte – „Ich habe in den letzten Stunden einiges übers Täuschen gelernt...“

„Wenn Sie wieder auf den Beinen sind, müssen Sie mir unbedingt die ganze Geschichte erzählen, denn so verstehe ich so gut wie gar nichts. Und glauben Sie mir: normalerweise verstehe ich schnell!“

„Ich weiß.“

„Werden Sie und Reyes erst mal wieder richtig gesund. Das ist die Hauptsache.“



Mit diesen Worten erhob sich Mulder von dem Bett und ging an Dr. Klein vorbei aus dem Zimmer heraus. Der Doktor warf noch einen Blick auf die beiden Patienten, lächelte kurz und schloss dann die Tür des Zimmers.
Rezensionen