World of X

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Spiel des Lebens

von Stefan Rackow

Kapitel 1

~Für meine Eltern~



*





-Prolog-



Er wusste nicht, warum er da saß. Es schien sinnlos. So sehr er auch versuchte, den Sinn hinter alledem zu finden, er konnte ihn einfach nicht finden. Lustlos und reichlich gelangweilt blickte Marty Grant auf das gläserne Gefäß vor ihm auf den Tisch. In ihm waberte eine Substanz sachte umher und bildete feine, lange Schlieren in der speziellen Aufbewahrungsflüssigkeit. Geschmeidig und geheimnisvoll formten sich die seltsamsten Gebilde vor den Augen des Wissenschaftlers. Gebilde der Phantasie, Gebilde, die nur in seinem Kopf entstanden, denn er wusste, dass das, was er da sah, lediglich Spuren einer chemischen Reaktion waren, die bewusst herbei geführt wurde, um etwas zu entdecken.

Marty wusste, dass in der Chemie vieles, wenn nicht gar alles, geheimnisvoll sein konnte, wenn man sich denn intensivst damit beschäftigte. Der einfachste Vorgang warf plötzlich weitgreifendere Fragen auf, als man es jemals für möglich erachtet hätte. Daher verstand er auch den Wissensdurst seines Kollegen, der, gelinde gesagt, von den einen als wegweisend, von den anderen jedoch als bloßer Schwachsinn abgetan wurde. Es stand außer Frage, dass es jedem Wissenschaftler erlaubt war, Theorien zu erstellen, die alles in einem anderen Lichte erscheinen ließen. Hatte man dann noch Beweise dafür, war die Sensation perfekt. Alles wäre in bester Ordnung, selbst bei der jetzigen Untersuchung – wenn es einen triftigen Grund dafür geben würde! Die Veränderung einer Substanz zu beobachten und genauestens Buch zu führen über jedwede Kleinigkeit war nicht nur hirnrissig, sondern einfach nur Unsinn! Marty atmete einmal tief aus, bevor er sich noch einmal vergewisserte, ob die Kamera auch wirklich jede Millisekunde auf das Gefäß gerichtet war. Etwas Gutes hatte die Sache wenigstens: in knapp zwei Stunden war seine Schicht hier zu Ende und er konnte endlich nach Hause zu seiner Frau fahren und von Schlieren, Gas und seltsamen Wissenschaftlern träumen, deren Ziele er und alle anderen Menschen auf der Welt wohl niemals verstehen würden.

Er lächelte etwas und zog das Aufnahmegerät hervor.



„Sonntag, 31. August 2002 ... es ist jetzt -“ Er sah auf seine Armbanduhr - „...genau 22 Uhr und 3 Minuten. Die Substanz, was auch immer sie sein mag, hat keine bemerkenswerten Fortschritte gemacht. Ein paar Schlieren, ja, das war alles. Das einzige...“ – Er rieb sich die Augen – „Das einzige, was sich gravierend verändert hat, ist der Zustand meiner Augen, wenn es Sie denn interessiert, Steve. Ich scheine hier langsam regelrecht festzuwachsen. Wenn ich also morgen nicht zur Arbeit erscheinen sollte, dann kann es unter anderem daran liegen, dass ich ganz langsam auf dem Sessel zu Staub zerfallen bin. Ach, bevor ich Sie noch mit Ihrem schwachen Herz aufrege, höre ich lieber auf, auf der Mitleidsschiene zu fahren. Es macht Spaß, oh ja, es ist ein toller Job. Es ... es war schon immer mein Traum von Kindesbeinen an, einmal hier zu sitzen und auf ein...“ Marty schluckte. „... ein Scheißglas zu starren, das eine noch beschissenere Substanz enthält, deren Formveränderung mir im Grunde so was von gegen den Strich geht, dass ich am liebsten alles hier hinschmeißen würde und das Institut verlassen würde!“



Er fühlte sich nun besser, hielt es aber für das beste, den letzten Teil zu löschen. Mit einem beherzten Druck auf die Rücklauftaste spulte er die Kassette zurück und drückte auf Play.

„... keine bemerkenswerten Fortschritte gemacht. Ein paar Schlieren, ja, das war alles.“ – Marty drückte die Stopptaste und war im Begriff, die Löschtaste zu drücken, als er plötzlich aufsah. In seinem Augenwinkel hatte er eine Veränderung wahrgenommen. Irgendwas hatte sich verändert. Es kam überraschend und ließ den jungen Wissenschaftler zusammenzucken. Mit großen Augen blickte er auf das gläserne Gefäß und war außerstande, seine Beobachtung auf Band zu sprechen. Das konnte nicht sein!



*



22:05



Steve Mac Finn war gerade über Notizen für sein neuestes Buch gebeugt, als das Telefon klingelte. Sofort ließ er alles stehen und liegen und nahm, merklich unruhig, den Hörer ab.

„Ja?“, fragte er mit zittriger Stimme.

„Steve, ich bin’s, Marty!“

Voller Neugier zog der Wissenschaftler einen Stuhl heran und setzte sich.

„Marty, ich hatte damit gerechnet, dass Sie mich zurückrufen würden. Ist irgendetwas unklar in Bezug auf das, was ich Ihnen aufgetragen hatte?“

Marty hätte dies zu gerne bejaht, jedoch war ihm im Moment anderes wichtiger. „Nein“, log er daher und holte einmal tief Luft. „Es hat mit der Substanz zu tun!“

„Hat sie sich verändert?!“ – Steve wurde zunehmend ungeduldiger und kaute an seinen Fingernägeln. „Wenn nichts unklar ist, dann muss sich doch irgendwas getan haben. Ansonsten verstehe ich nicht, warum Sie mich jetzt anrufen, Marty.“

„Es hat sich was verändert, gewissermaßen andauernd“, gab der junge Mann bekannt und warf noch einmal einen Blick auf das Gefäß. „Erst waren es nur Schlieren, dann wurden sie intensiver und...“

„Und?!“

„Ich ... ich glaub das einfach nicht!“, stammelte Marty mit zittriger Stimme und wischte sich die Stirn. „Ich ... ich kann es sogar lesen!“

„Herrgott, Marty, nun spannen Sie mich nicht auf die Folter: was hat sich getan?“

Was folgte, waren mehrere Sekunden des Schweigens, nur hier und da unterbrochen durch das beiderseitige tiefe Atmen der miteinander Kommunizierenden. Erst nach einer endlos lang erscheinenden Pause schaffte es Marty, die richtigen Worte zu finden. Es waren Worte, die keiner im Moment richtig begreifen konnte. Marty konnte es nicht verstehen, und Steve wollte es nicht wahrhaben, dass er dem, dem er nun schon so lange auf der Spur war, endlich ein Stück näher gekommen war – wenn es denn stimmte!

Aber im Augenblick gab es nur die Worte, die etwas beschrieben, das so merkwürdig erschien, dass es schon wieder wahr sein konnte. Worte voller Faszination, voller Zauber. Weise Worte.



„Die heilige Schrift! Ich habe die heilige Schrift in der Substanz gesehen...! Es ist unglaublich!“



*



22:30



Steve Mac Finn erreichte das Institut, das nahe des Zentrums der Stadt Washingtons errichtet worden war und steig aus dem Wagen. Zeit, um den Wagen abzuschließen hatte er keine, zu wichtig war es für ihn, es mit eigenen Augen zu sehen, beziehungsweise die Filmaufnahmen, die rund um die Uhr gemacht wurden.

Der Leiter der Forschungsabteilung hetzte durch die dunklen Gänge des Traktes, hin zu einem Bereich, der mit einer Glastür von dem des übrigen Gebäudes isoliert war. Hastig zog er eine ID- Card hervor und schob sie durch den Kartenleser, woraufhin ein metallenes Piepen zu hören war. Es klackte kurz, und schon öffnete sich die Tür, indem sie mit einem Zischen in der Wand verschwand.

Mac Finn vergewisserte sich, dass der Mechanismus die Tür wieder zurückfahren ließ, nachdem er eingetreten war und eilte anschließend davon, in Richtung einer weiteren Tür, welche die Aufschrift



„RESTRICTED AREA – Authorized personnel only!“



trug. Zu seiner Verwunderung fand der Wissenschaftler selbige nicht verschlossen vor. Stattdessen klaffte ein kleiner Spalt zwischen der Tür und dem Rahmen. Steve schüttelte den Kopf, da er seinen Gehilfen Marty jedes Mal darauf aufmerksam gemacht hatte, dass es unerlässlich sei, die Türe geschlossen zu halten. Reichlich wütend öffnete er die Tür und blickte umher.



„Marty?“



Keine Antwort.



„Marty, wo stecken Sie?“



Die Worte hallten zurück, als keine Antwort zu verzeichnen war. Verwundert sah sich Mac Finn in der Forschungsabteilung um, konnte aber seinen Gehilfen nicht auffinden. Mit einem durch und durch schlechten Gefühl in der Magengegend begab sich der Wissenschaftler zu dem Objekt seiner Begierde, dem Gefäß mit der seltsamen Flüssigkeit. Doch es war leer! Die Flüssigkeit war entnommen worden! An einen schlechten Scherz und daran glaubend, dass sich Marty bestimmt einen Scherz erlaubt hatte, sah sich Mac Finn noch einmal in dem Labor um.



„Marty, jetzt lassen Sie die Spielchen! Sie bekommen großen Ärger, wenn Sie mich nur aufgrund eines Scherzes...!“



Und da registrierten seine Augenwinkel gerade noch, wie ein schwarzer Schatten, von der Statur der eines Gorillas gleich, hinter ihm aus der Tür huschte und selbige mit einem lauten Knall zuzog. Instinktiv wandte der Wissenschaftler sich um und sah zu seinem Entsetzen, dass neben der Flüssigkeit nun auch noch die Kamera fehlte, welche zuvor unentwegt auf die Substanz gerichtet war. Jemand war die ganze Zeit hier gewesen!

Er hastete zu der Tür, zog sie auf und blickte nach rechts, wo er gerade noch die schwarze Gestalt wahrnahm, wie sie aus der Tür des Institutes huschte, gefolgt vom Aufröhren eines Automotors. „Mein Wagen...!“, murmelte Steve entsetzt und rannte in Richtung der Glastür, welche sich, seinem Eindruck nach, viel zu langsam öffnete. Als auch dies endlich geschah, wusste er im Grunde schon, dass es zu spät war, jedoch sprintete er dennoch zum Eingangsbereich, durch die Wartehalle, und stand schließlich, schwitzend und außer Atem, draußen auf der beleuchteten Straße.

Allein. Verlassen.

Und von Marty Grant war weit und breit keine Spur zu sehen. War er der Fremde gewesen? Aber warum hatte er dann vorher noch bei ihm angerufen? Wollte er ihm etwa auflauern? Wenn ja, warum hatte er die Chance nicht genutzt?



Was vorgefallen war, konnte Marty Grant in diesem Augenblick auch nicht sagen. Er wusste nur, dass er verschleppt worden war. Von irgendwem. Gewaltsam. Kaltherzig. Sein Kopf schmerzte fürchterlich, und das grelle Licht, welches von der Decke direkt in seine Augen strahlte, zwang den jungen Mann, die Augen ein ums andere Mal zusammenzukneifen. Ein Summen dröhnte mit mörderischer Intensität in seinen Ohren, als ob ein ganzer Wespenschwarm darin Zuflucht gefunden hatte. Zudem war es kalt. Sehr kalt. Erst jetzt registrierte der Mann, dass er nackt war. Er war all seiner Sachen entledigt und lag auf irgendwas Metallenem. Er hatte nicht genug Kraft, um sich weitere Gedanken zu machen. Seine Augen waren schwer, seine Kehle trocken.

Marty Grant verlor ganz langsam das Bewusstsein und nahm nur noch ein leises Tuscheln wahr, welches nahe seines linken Ohres zu verzeichnen war. Es waren Worte menschlichen Ursprungs, jedenfalls schien es so. Und sie beschrieben etwas. Etwas, das sich als Gefahr hätte erweisen können, wenn sie nicht zugegriffen hätten.



„Gefahr – Zugriff“



Marty verlor das Bewusstsein und hörte nicht mehr, wie die miteinander Kommunizierenden einen weiteren Namen fallen ließen. Er kannte den Namen. Er kannte die betreffende Person.



Dr. Steve Mac Finn!
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