World of X

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My Immortal

von XFilerN

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Sie stand am Abgrund, der das sprichwörtliche Ende der Stadt Washington DC bildete. Um sie herum gab es nichts außer Ruinen und sie hatte das Gefühl der einzige Mensch auf der Erde zu sein. Und das war sie vermutlich auch.



Die Nacht hatte sich längst über die Trümmer gesenkt, doch obwohl sie diese nicht mehr sehen konnte, wusste sie doch, dass sie da waren.

Die Schatten der Vergangenheit ergriffen von ihr Besitz, drohten sie zu erdrücken, doch sie war nicht mehr imstande sich gegen die Erinnerungen zu wehren.


I'm so tired of being here

Suppressed by all my childish fears

And if you have to leave
I wish that you would just leave

'Cause your presence still lingers here

And it won't leave me alone



Sie konnte ihn fühlen. Nach all den Jahren vermochte sie es immer noch seine Hände auf ihrer Haut zu spüren. Nachts, wenn sie wieder hoffnungslos versuchte einzuschlafen, hörte sie seine Stimme. Seine sanfte, tiefe Stimme, die versuchte sie zu sich zu locken, ihr ewigen Frieden zu geben.



Es war, als wäre ihr schlimmster Alptraum wahr geworden. Sie hatte es vor einigen Jahren festgestellt, als die Kolonisten kamen, um sich der Menschheit zu bemächtigen und jene zu töten, die nicht dazu auserkoren waren, Sklaven für die Außerirdischen zu werden.



Ein Haus war über ihnen zusammen gestürzt. Sie hatten versucht aus der Stadt zu fliehen, an einen sicheren Ort, von dem sie beide wussten, dass es ihn nur in ihrer Fantasie gab. Unter den Trümmern hatte sie gespürt, wie ihre Knochen zermalmt wurden, wie ihre Organe perforiert wurden, wie ihre Lungen aufhörten Sauerstoff einzuatmen und zu verarbeiten. Und doch, trotz all dem Schmerz, der sie hätte binnen Sekunden umbringen sollen, hatte sie überlebt.



Überlebt um mitzuerleben, wie er mit einem einzigen erstickten Keuchen neben ihr starb. Sie linke Hand in ihre Richtung gestreckt, in dem letzten Versuch sie zu berühren. Ein stummes Versprechen gebend, dass sie nicht allein sein würde.



These wounds won't seem to heal

This pain is just too real

There's just too much that time cannot erase



Es waren nicht die körperlichen Schmerzen, die sie an den Rand des Wahnsinns trieben. Es war ihre Seele, die soviel Leid hatte ertragen müssen, dass es für mehrere Menschenleben gereicht hätte und selbst dann noch zu viel gewesen wäre. Sie hatte miterlebt, wie ihre Kinder starben, wie die einzigen Männer starben, die sie in diesem nicht enden wollenden Leben geliebt hatte, wie ihre ganze Familie gestorben war. Sie hatte niemanden mehr. Sie war allein.



Der Abgrund vor ihr lud sie zu einem Sprung in die Tiefe ein. Sie konnte nicht sagen, wie tief der Schlund vor ihr war, sie konnte den Boden nicht ausmachen. Sie warf einen Stein hinunter, um die Sekunden zu zählen, bis sie seinen Aufschlag hörte, der jedoch ausblieb.



War dies ein gutes Zeichen? Versprach das Ausbleiben des Klanges ein Ende für ihre Qualen? Sie hoffte es.

Sie strich über die Narben an ihren Handgelenken, Zeugen eines weiteren Versuchs der Realität zu entfliehen, die verheilte Wunde über ihrem Herzen, in das sie einen rostigen Metallstab gerammt hatte ... Nur zwei der unzähligen Versuche sich das Leben zu nehmen, allesamt nicht von Erfolgt gekrönt, aber schmerzhafter, als es in Worten zu beschreiben war.



Sie hatte Feuer überlebt, Eis konnte ihr nichts anhaben, sie konnte nicht ertrinken, nicht ersticken, kein Blutverlust, egal wie groß, brachte ihr Erlösung. Sie war längst keine Frau mehr. Sah vielmehr wie ein Monster aus, das aus irgendeinem Horrorfilm entkommen war.

Das rote Haar wuchs schon seit einiger Zeit nicht mehr. Und sie trug längst keine Kleidung mehr.



Sie hatte gehofft, dass sie irgendwann einfach verdursten oder verhungern würde, doch selbst diese Gnade wurde ihr nicht zuteil. Alles was sie noch wahrnahm waren die Träume, die Schmerzen, die Furcht und der Wunsch endlich zu sterben. Sie wollte zu ihm, endlich ihren Frieden finden in seinen Armen. Sie vermisste ihn schrecklich. Sie vermisste ihre Kinder, sie vermisste sie alle. Doch am meisten vermisste sie das Gefühl ausgeruht, schmerzfrei, warm und sicher zu sein.



Sie wollte, dass ihr Kopf aufhörte zu funktionieren, dass die furchtbaren Erinnerungen verblassten, die sie verfolgten.



Jeder normale Körper hätte aufgehört zu arbeiten, wenn ihm keine Nahrung, Flüssigkeit und Ruhe zukam, von den vielen Selbstmord versuchen ganz abgesehen, aber nicht ihrer.



When you cried I'd wipe away all of your tears

When you'd scream I'd fight away all of your fears

I held your hand through all of these years

But you still have

All of me



Die imaginäre Frage, warum ausgerechnet ihr das zustieß, womit sie verdient hatte zuzusehen, wie ihre Welt zerstört wurde und jeder starb, den sie je geliebt hatte, schob sich wieder in den Vordergrund ihrer Gedanken und sie begann zu weinen. Das Salz ihrer Tränen brannte in den verbrannten Hautfetzen, den Schürfwunden, die sie sich selbst zugefügt hatte.



Niemand hörte den verzweifelten Schrei um Erlösung, der sich ihrer Seele entrang, sich in dem Schlund vor ihr verfing und beinahe endlos darin widerhallte. Sie fluchte, wie noch nie zu vor. Verfluchte jemals geboren worden zu sein. Sie verfluchte es, den X-Akten zugeteilt worden zu sein, ihn kennen gelernt zu haben, den Mann, der ihr die Möglichkeit genommen hatte jemals zu sterben. Sie verfluchte die Aliens, das Konsortium, die Zeit. Einfach alles, das ein bisschen Mitschuld an ihrer Misere trug.



You used to captivate me

By your resonating life

Now I'm bound by the life you left behind

Your face it haunts

My once pleasant dreams

Your voice it chased away

All the sanity in me



Erinnerungen an schöne Zeiten verdrängten für wenige Augenblicke die Grausamkeit ihrer Realität und sie sah ihn wieder vor sich. Lächelnd und mit ihrem Kind auf dem Arm, dem sie nur wenige Stunden zuvor das Leben geschenkt hatte.

Sie hörte wieder seine Stimme, die ihr sagte, wie schön sie war, wie schön ihre Tochter war. Und sie hatte hinab geblickt auf William und wieder hinauf in sein strahlendes, glückliches Gesicht und auf das Baby in seinen Armen. Er hatte ihr ein so schönes Leben ermöglicht. Ein Leben, das nicht viel länger schön bleiben sollte.



Sie hatte ein Leben gelebt, wie sie es sich so viele Jahre erträumt hatte. Ein Leben, das nun nichts weiter als eine schöne Erinnerung war, die sie in ihrem Träumen verfolgte. So wie er, der sie immer wieder bat zu ihm zu kommen.



Und sie wollte zu ihm. Sie wollte es mehr als irgendetwas sonst.



These wounds won't seem to heal

This pain is just too real

There's just too much that time cannot erase



I've tried so hard to tell myself that you're gone

But though you're still with me

I've been alone all along



Sie breitete die Arme aus, als wären es Flügel. Längst war der Geruch des Todes verschwunden, der sie all die Jahre verfolgt hatte. Die letzten Überlebenden waren längst zu Staub zufallen, so wie die Häuser und alles, das einmal schön und lebendig gewesen war. Schön war sie selbst schon lange nicht mehr, aber immer noch lebendig.



Ihre Stimme klang von dem Schlund wider, der ihr wie das überdimensionale Maul eines Ungeheuers vorkam. Und sie ließ sich bereitwillig verschlingen. Sie rief seinen Namen, während sie sich fallen ließ. Der, durch den Sturz entstehende Wind, trieb ihr Tränen in die Augen und sie schloss diese. Den Abgrund würde sie ohnehin nicht sehen, in der Schwärze der Nacht. Und so war es egal, ob sie wusste, wann sie aufschlagen würde oder nicht.



Den Schmerz des Aufpralls nahm sie nur für einen Sekundenbruchteil wahr und dann wurde ihr gesamtes Denken und Fühlen vom Nebel der Bewusstlosigkeit umhüllt. Stille. Eine angenehme Stille. Eine Stille, die ihr etwas vorgaukelte.

Als sie irgendwann den Schmerz in ihren Augen wahrnahm, stechend, zwingend... öffnete sie die Augen und sah geradewegs hinauf. Sie konnte nicht abschätzen wie viele es waren, aber mit Sicherheit war sie einige hundert Meter gefallen. Wie ein Tunnel, an dessen Ende das Licht war, wirkte der Schlund von unten auf sie. Und sie wusste, dass sie in alle Ewigkeit in diesem Abgrund gefangen sein würde, der ihr jede weitere Hoffnung, doch irgendwann zu sterben und Erlösung zu finden, nahm.


THE END
Songtext/Storytitel: Evanescence - My Immortal
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