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Der letzte Weg

von XFilerN

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Die Uhr tickt.

Ich höre sie zum ersten Mal so deutlich. So laut sogar, dass mir jeder Sprung des Sekundenzeigers vorkommt, als stünde ich inmitten eines Konzerts der Beatles. Ich mochte die Beatles schon immer, aber auf einem Konzert war ich niemals. Es war mir immer zu laut.


Meine Freunde sehen mich an. Angst erfüllt ihre Blicke. Und während ich sie ansehe, der Klang der tickenden Uhr mich betäubt – oder ist es das Giftgas? –, ich sowohl Jimmy’s wie auch Yves’ traurige Blicke auf mir spüren kann, habe ich doch nur einen Gedanken, der mich am Leben hält.



Susanne.



Sie war und wird es immer sein; meine einzig wahre Liebe.



Sie wollte, dass ich mit ihr gehe. Dass ich sie bei ihrem Kampf unterstütze, doch damals hielt ich diese Idee für falsch. Nicht nur den Kampf fürchtete ich. Ich hatte vor allem Angst davor, dass ich ihr kein guter Partner sein würde, weder im Kampf noch in der Liebe. Ich hatte noch niemals zuvor so bedingungslos geliebt und ich hatte auch noch niemals zuvor solche Angst davor gehabt unzureichend zu sein.



In allem was ich tat, war ich immer nur mittelmäßig. Ich war nicht die Art von Mann, die einer Frau wie ihr gerecht sein würden. Ich war doch ein Leben lang nur John Fitzgerald Byers, der Denker der Einsamen Schützen. Ich musste niemals Ehemann und womöglich Familienvater sein, obgleich ich sehr oft von einem solchen Leben träumte, das ich Seite an Seite mit Susanne führte.



Schöner Traum.



Umso härter die Realität, dass ich hier sterben werde, im Kreis der einzigen Freunde, die ich jemals hatte und ohne die Frau noch einmal gesehen oder gar berührt zu haben, die ich selbst über den Tod hinaus noch lieben werde.



Tick...

tick...

tick...



Meine Arme und Beine werden allmählich taub, das Gas wirkt mit jeder vergehenden Sekunde stärker und bringt mich meinem Schöpfer näher.



Herr, wenn es dich wirklich gibt, dann lass mich im Tod glücklich werden mit der Frau, die mir im Leben nicht vergönnt war, flehe ich und schließe andächtig die Augen. Ich werde als einsamer Held und nicht als einsamer Schütze sterben.



Müdigkeit umfängt mich, verführt mich dazu ihr nachzugeben, mich fallen zu lassen und hinüber zu gleiten.



Tick...

tick...

tick...


Es wird lauter, erbarmungslos.



Ich versuche so wenig wie möglich zu atmen. Versuche mich gegen das Unvermeidliche aufzulehnen und höre dabei, wie mir das Blut durch die Ohren rauscht. Im Grunde höre ich das Gift, das meinen Körper Stück für Stück zerstört.



Es schmerzt. Und doch legt sich ein Lächeln auf meine Lippen.



Sie ist da. Sie ist gekommen, um mich zu begleiten. Sie ist nicht so feige, wie ich es war. Sie geht mit mir, egal wie ungewiss die Zukunft sein mag.



Ihr blondes Haar weht im sanften Sommerwind. Der Duft von Rosenblüten umhüllt sie. Ihr langes weißes Kleid umschmeichelt ihre wunderschönen Beine und sie kommt – die Sonne im Rücken – mit gleichmäßigen Schritten auf mich zu und sieht dabei aus wie ein Engel. Ihre Arme heben sich, strecken sich mir entgegen und ich kann fühlen, wie sich unsere Hände berühren.



Ja, ich kann sie wirklich fühlen.



Sie ist meine große Liebe, mein Engel der Barmherzigkeit.



Ich spüre keinen Schmerz, keine Angst, rein gar nichts Negatives. Nur sie kann ich fühlen. Ihre warmen, weichen Hände, die meine fest umschließen.

Sie hilft mir auf und erstaunlicher Weise bin ich wieder in der Lage dazu zu stehen. Meine Beine sind wieder voller Kraft.



Ein lebendiges Glitzern blitzt in ihren wundervollen Augen auf, fesselt mich für Sekunden und lässt selbst das Ticken des Sekundenzeigers verklingen. Alles was ich hören kann, ist der Schlag meines nervösen Herzens.



Bumm-bumm...

bumm-bumm...

bumm-bumm...



Fast ehrfürchtig beuge ich mich hinab zu ihr, lege meine Lippen über ihre und verschmelze in diesem Kuss, auf den ich so lange warten musste. Er ist wie die Erlösung für die Qualen der vergangenen Jahre. Wie das sprichwörtliche Ziel, von dem man weiß, dass man es früher oder später erreichen wird.

Ich habe dieses Ziel jetzt erreicht. Und ich höre wie das Ticken der Uhr immer leiser wird, der Kuss dafür umso intensiver. Mein Herzschlag wird langsamer und immer langsamer... und als ich plötzlich nichts mehr höre, nichts mehr spüre – auch den Kuss mit Susanne nicht – öffne ich die Augen und sehe auf mich selbst hinab.



Und mir wird bewusst, dass Susanne niemals da war. Und doch hat sie mich auf meinem letzten Weg begleitet.





ENDE
In liebevoller Erinnerung an meinen Papa Gerd Öhling
+++ 18. März 1942 - 9. März 2003 +++
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